Die WM 1966 - was soll man aus deutscher Sicht da heute noch groß zu sagen? Das DFB-Team kämpft sich bravourös ins Finale und verliert dann unglücklich gegen England und das Schiedsrichtergespann - war aber beim denkwürdigsten Spiel der Fußballgeschichte direkt beteiligt.
Siegfried Held, damals Spieler von Borussia Dortmund, stand bei allen sechs Partien auf dem Platz und erinnert sich. Im Interview spricht der 67-Jährige über Treter aus Südamerika, das schönste Tor aller Zeiten und begründet, warum der Ball nicht hinter der Linie war.
Die WM 1966 in England im Überblick
SPOX: Herr Held, der Start ins Turnier lief vorzüglich. Mit 5:0 wurde die Schweiz abgeschossen. Nach dem Spiel war die Zuversicht groß...
Siegfried Held: Wir waren schon vor Turnierbeginn zuversichtlich, dass wir weit kommen werden. Natürlich hat ein solch deutlicher Auftaktsieg dann aber noch einmal zu einem Quäntchen mehr Zuversicht geführt. Man muss aber auch sagen, dass die Schweiz im Vergleich zu Argentinien und Spanien der deutlich schwächere Gegner war.
SPOX: Das zweite Match gegen Argentinien (0:0) war dann allerdings wahrlich kein Leckerbissen. Es hagelte Pfiffe vom Publikum und die "Mauertaktik" beider Teams wurde kritisiert. Zu Recht?
Held: Ich weiß nicht, ob wir wirklich gemauert haben. Ich finde nicht, dass das der richtige Begriff ist. Wir mussten uns gegen Argentinien eben mehr auf die Defensive konzentrieren als gegen die Schweiz, da sie technisch stark und elegant am Ball waren. Wir hatten mit anderen Dingen Probleme.
SPOX: Was meinen Sie genau?
Held: Die unterschiedliche Auffassung von hartem Spiel bei Südamerikanern und Europäern. Der Unterschied war gravierend. Was in Südamerika harmlos war, war in Europa ein grobes Foul. Damit mussten wir erst einmal klar kommen.
SPOX: Im letzten Gruppenspiel musste gegen Spanien ein Sieg her, um die Engländer im Viertelfinale zu vermeiden. Wie groß war die Erleichterung darüber nach dem 2:1-Erfolg?
Held: Wir haben zu allererst auf uns geschaut. Wir wollten das Spiel unbedingt gewinnen. Da war es erst einmal nebensächlich, auf wen wir danach treffen würden. Dass es nicht gleich England war, war dennoch ein positiver Nebeneffekt.
SPOX: Gegen Spanien erzielte Lothar Emmerich sein wahnsinniges Tor von der Außenlinie. Können Sie diesen Treffer noch einmal aus Ihrer Sicht beschreiben?
Held: Ich gab dazu die Vorlage per Einwurf. Ich habe gesehen, wie er in den Strafraum eintauchte und sich anbot und habe ihm die Kugel in den Lauf geworfen. Er hat dann fantastisch abgezogen und das Ding ins Tor gedroschen. Ich kann mich bis heute an kein schöneres Tor erinnern.
SPOX: Wie hat man denn seine Freizeit während des Turniers verbracht?
Held: Wir haben natürlich die anderen Partien angeschaut und sind ansonsten meist spazieren gegangen. Karten oder Tischtennis wurde auch gespielt. Manch einer hat ein Buch gelesen. Nichts Großartiges eigentlich.
SPOX: Im Viertelfinale ging es dann gegen Uruguay (4:0) - wie Argentinien ein Team mit einer starken Defensive. Gab Helmut Schön damals eine andere Taktik aus als noch im Gruppenspiel gegen die Gauchos?
Held: Eigentlich nicht. Wir wussten, dass es gegen die Urus wie schon gegen Argentinien ein knüppelhartes Spiel werden wird und haben uns dementsprechend darauf eingestellt. Da durfte man sich nicht provozieren lassen und musste seine Nerven im Zaum halten.
SPOX: Auch wenn man etwas Glück hatte, nicht frühzeitig in Rückstand geraten zu sein, ging Deutschland nach elf Minuten durch Ihren Treffer zum 1:0 in Führung. Erinnern Sie sich noch?
Held: Klar, ich habe etwa 30 Meter vor dem Tor einen hohen Ball aus der Luft angenommen und mich gegen zwei Gegenspieler durchgesetzt. Aus ungefähr 18 Metern habe ich dann einfach draufgehalten und hatte Glück, dass Helmut Haller den Ball noch unhaltbar für den Keeper abfälschte.
SPOX: Kurz nach der Pause flogen zwei Uruguayer nach Ausrastern innerhalb von fünf Minuten vom Platz. Was ist da genau passiert?
Held: Die haben beide ordentlich getreten. Uwe Seeler hat sogar eine Ohrfeige bekommen. Der zweite Spieler, der vom Platz flog, musste von der Polizei vom Feld gebracht werden, weil er sich nicht mehr beruhigen konnte. Die Platzverweise waren auf jeden Fall mehr als berechtigt.
SPOX: Im Halbfinale bekam es Deutschland mit Russland zu tun (2:1). Man konnte sich zwar eine Feldüberlegenheit erarbeiten, scheiterte jedoch immer wieder an Keeper Lew Jaschin. War er der beste Torhüter zu jener Zeit?
Held: Ihm ist ja schon vor der WM ein hervorragender Ruf vorausgeeilt und in England konnte man sich dann noch einmal von seinen Qualitäten überzeugen. Er war damals sicherlich einer der besten, wenn nicht sogar der beste Torwart der Welt.
SPOX: Kommen wir zum legendären Finale gegen England in Wembley. Wie lange hat es gedauert, bis Sie diese unglückliche Niederlage verarbeitet haben?
Held: Sehr lange. Wir waren vor dem Finale voller Zuversicht. Wenn man dann so unglücklich verliert, kann man das nicht einfach so vergessen. Wir hatten nach der WM Urlaub, dann stand die Bundesligavorbereitung wieder auf dem Programm - die Zeit hat schlussendlich alle Wunden geheilt.
SPOX: Wie haben Sie das Wembley-Tor aus Ihrer Sicht erlebt?
Held: Ich stand zwar weit weg, bin aber dennoch der festen Überzeugung, dass es kein Tor war. Ich kann es sogar begründen.
SPOX: Darauf hat die Welt gewartet. Tun Sie es bitte!
Held: Es war damals so, dass die Linienrichter bei einem Tor direkt zur Mittellinie gerannt sind. Dieser Linienrichter blieb jedoch stehen und hat ein bisschen überlegt. Die Engländer haben gejubelt. Erst nach Rücksprache mit dem Schiedsrichter war es für den Linienrichter plötzlich auch ein Tor und erst dann lief er zur Mittellinie. Wenn es seiner Ansicht nach ein Tor gewesen wäre, wäre er sofort zur Mittellinie geeilt.
SPOX: Was haben Sie gedacht, als Schiedsrichter Gottfried Dienst auf Tor entschied?
Held: Ich war ja auch einer der Spieler, die dorthin gerannt sind und protestiert haben, obwohl es natürlich sinnlos war. Ich war mir sicher, dass nicht auf Tor entschieden wird. Als es der Schiedsrichter aber tat, war die Enttäuschung brutal groß.
Video: Alle deutschen Spiele im Kurzüberblick
SPOX: Das Wembley-Tor ist der berühmteste Treffer der Fußballgeschichte. Ist es für Sie ein Trost, an einem der denkwürdigsten Momente der Historie beteiligt gewesen zu sein?
Held: Nein, keineswegs. Ich sehe es auch heute noch ganz klar so, dass ich lieber als Sieger und Weltmeister vom Platz gegangen wäre. Dass das Spiel in die Geschichte einging, ist kein Trost.
SPOX: Welche Prämie bekam man denn für den Vizeweltmeistertitel?
Held: (überlegt) Mein Gott, das fällt mir gerade überhaupt nicht mehr ein. Ich glaube, es waren ein oder zwei Goldbarren. Ich weiß es leider nicht mehr genau. Bargeld gab es damals aber keines.
SPOX: Wenn Sie den Fußball von damals mit dem heutigen vergleichen, wo sind Ihrer Meinung nach die gravierendsten Unterschiede auszumachen?
Held: Die Wissenschaft spielt heutzutage eine viel größere Rolle. Laktatwerte kannten wir beispielsweise gar nicht. Wir sind so lange gelaufen, bis wir uns übergeben mussten. Das Training wurde nicht individuell abgestimmt. Sicher ist aber, dass der Fußball nicht härter geworden ist. Heute sieht man beim ersten Foul Gelb, beim zweiten fliegt man vom Platz. Da hatten die Spieler früher deutlich mehr Versuche (lacht).
SPOX: Wie kam Helmut Schön bei Ihnen als Trainer und auch als Mensch rüber?
Held: Er war ein ganz feinfühliger Mann, sehr sensibel, aber dennoch immer für den einen oder anderen Spaß zu haben. Er pflegte ein tolles Verhältnis zu seinen Spielern. Ich denke, dass es jedem, der unter ihm trainiert hat, viel Spaß bereitete.
SPOX: Können Sie noch eine lustige Anekdote mit uns teilen, die Ihnen während der WM 1966 widerfahren ist?
Held: Einmal war die gesamte Mannschaft mit Trainerstab in London unterwegs. Max Lorenz hat sich dann auf die Straße gestellt und im Stile eines Verkehrspolizisten die Autos angehalten. Sepp Maier versteckte sich derweil in einer Seitenstraße und kam unter lautem "Brumm Brumm"-Geheul wie ein Motorrad um die Ecke. Da mussten wir alle herzlich lachen.