Das kann doch nicht wahr sein. Obdulio Varela kam dieser Ohrwurm nicht aus dem Sinn. Blick auf den Wecker, 20 Minuten nach sechs. Die Nacht kaum geschlafen. Und dann doch bitteschön alles, aber nicht dieses Lied. Die berühmteste Samba der Welt: BRASIIIIL...dadadadadadadadaaa...dadadadadadadada...BRASIIIIL!
Bauchlage, Seitenlage, Rückenlage, hoffnungslos. Halb sieben, der Kapitän Uruguays schälte sich aus dem Hotelbett. Beine vertreten, und vor allem den Kopf frei bekommen. Ba..ba..baaa...baba..bambambam!
Bereits jetzt vor dem Morgengrauen des 16. Juli 1950 war die Avenida Atlantica an der Copacabana voller Menschen. Menschen voll Vorfreude.
Wie auf der Schlachtbank
Nur Obdulio Varela lief einen unpassenden Schlager summend mit Faust in der Tasche die Promenade hinunter. BRASIIIlL! Er fühlte sich wie ein Schaf auf dem Weg zur Schlachtbank. Das Schlachthaus hieß Maracana, der Termin war auf 15 Uhr angesetzt. Das letzte entscheidende Spiel der WM.
Brasilien hatte in der Endrunde bambambam Samba getanzt und Spanien sowie Schweden mit 6:1 und 7:1 vom Parkett gefegt. Uruguay sich gegen die selben Gegner zu einem 2:2 und einem späten 3:2 gequält. Gegen Schweden in Sao Paulo vor gerade mal 8.000 Zuschauern. Heute würden bei ihrer Hinrichtung über 200.000 im Stadion sein.
Da sah er sie im Aushang eines Kiosk. Die heutigen Ausgaben der Zeitungen. BRASIL CAMPEAO! Varela fasste es nicht. Zornesader Hilfsausdruck. Die warteten das Spiel nicht einmal ab. Glaubten die denn, Uruguay wäre nur ein Fußabtreter, oder was?
Jenes stolze Uruguay, dass die Weltturniere von 1924 bis 1930 dominiert hatte. Jenes tolerante Uruguay, in dem damals schon Schwarze und Weiße Seite an Seite Titel errangen, als sich in Brasilien Arthur Friedenreich, der einzige schwarze Fußballstar, bei Staatsempfängen noch weiße Kreide ins Gesicht schmieren und die Haare glätten musste.
Urinieren auf die Zeitung
Immerhin, der unerträgliche Ohrwurm war mit einem Schlag verschwunden. Eine halbe Stunde später versammelte Varela die gesamte Mannschaft auf seinem Hotelzimmer. Eine Ansprache war kaum nötig. El Negro Jefe, wie Varela respektvoll aufgrund seiner afrikanisch-spanischen Herkunft genannt wurde, öffnete nur das Badezimmer. Dort hatte der schwarze Chef 30 bis 40 Zeitungen ausgelegt.
Jeder im Team wusste, was verlangt war. Einer für alle, alle für einen. Nacheinander holten die Spieler ihren persönlichen Degen heraus und urinierten auf die fette Schlagzeile. Varela als Letzter. Schon als kleiner Junge hatte er sich Geld als Zeitungsbote dazu verdient. Sein damaliger Boss hatte immer gemeint, dass einzig Wahre in einer Zeitung sei das Datum obendrauf. Sein damaliger Boss war ein kluger Mann.
Auf dem Weg ins Stadion musste im Mannschaftsbus jeder Einzelne immer wieder grinsen. Hatten sie das da eben wirklich gemacht? Varela spürte, diese Elf hatte nichts mit einer Schafherde gemeinsam.
Varela kontra Trainer
Die perfekte Mischung aus Entschlossenheit und Lockerheit. Eine Stunde noch bis zum Anpfiff. Der Vizepräsident des Fußballverbandes kam in die Kabine: "Lasst es nicht zur Katastrophe kommen. Drei oder vier Gegentore wären vertretbar, aber bitte keine sechs oder sieben, bitte!" Als der rundliche Herr wieder draußen war, zischelte Mittelstürmer Miguez: "Was war denn das für'n Pisser!?" Erneutes Dauergrinsen...
Letzte Teambesprechung. Trainer Juan Lopez wiederholte noch einmal die geplante Vorgehensweise. Hinten einigeln, die Brasilianer kommen lassen, vorne versuchen Ecken und Freistösse herauszuarbeiten. Bevor es rausging noch ein Mannschaftskreis - und Kapitän Varela schmiss im letzten Moment alles um: "Unser Trainer Juancito ist ein guter Trainer. Aber heute liegt er falsch. Wenn wir defensiv spielen, werden wir untergehen wie alle anderen zuvor. Spielt mutig nach vorne. Und das Wichtigste: blendet die Kulisse aus. Das Publikum sind Schaufensterpuppen. Zugegeben, 200.000 Puppen, aber sie können Euch nichts tun."
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