Am 12. Juni beginnt die WM 2014 in Brasilien. GO!Brasil-Experte Uwe Morawe blickt für SPOX in 19 gewohnt launigen Kolumnen auf die WM-Geschichte zurück. Folge 4, die WM 1950 in Brasilien: Bepinkelte Zeitungen, Uruguay als Fußabtreter und die berühmteste Samba der Welt.
spoxDas kann doch nicht wahr sein. Obdulio Varela kam dieser Ohrwurm nicht aus dem Sinn. Blick auf den Wecker, 20 Minuten nach sechs. Die Nacht kaum geschlafen. Und dann doch bitteschön alles, aber nicht dieses Lied. Die berühmteste Samba der Welt: BRASIIIIL...dadadadadadadadaaa...dadadadadadadada...BRASIIIIL!
Bauchlage, Seitenlage, Rückenlage, hoffnungslos. Halb sieben, der Kapitän Uruguays schälte sich aus dem Hotelbett. Beine vertreten, und vor allem den Kopf frei bekommen. Ba..ba..baaa...baba..bambambam!
Bereits jetzt vor dem Morgengrauen des 16. Juli 1950 war die Avenida Atlantica an der Copacabana voller Menschen. Menschen voll Vorfreude.
Wie auf der Schlachtbank
Nur Obdulio Varela lief einen unpassenden Schlager summend mit Faust in der Tasche die Promenade hinunter. BRASIIIlL! Er fühlte sich wie ein Schaf auf dem Weg zur Schlachtbank. Das Schlachthaus hieß Maracana, der Termin war auf 15 Uhr angesetzt. Das letzte entscheidende Spiel der WM.
Brasilien hatte in der Endrunde bambambam Samba getanzt und Spanien sowie Schweden mit 6:1 und 7:1 vom Parkett gefegt. Uruguay sich gegen die selben Gegner zu einem 2:2 und einem späten 3:2 gequält. Gegen Schweden in Sao Paulo vor gerade mal 8.000 Zuschauern. Heute würden bei ihrer Hinrichtung über 200.000 im Stadion sein.
Da sah er sie im Aushang eines Kiosk. Die heutigen Ausgaben der Zeitungen. BRASIL CAMPEAO! Varela fasste es nicht. Zornesader Hilfsausdruck. Die warteten das Spiel nicht einmal ab. Glaubten die denn, Uruguay wäre nur ein Fußabtreter, oder was?
Jenes stolze Uruguay, dass die Weltturniere von 1924 bis 1930 dominiert hatte. Jenes tolerante Uruguay, in dem damals schon Schwarze und Weiße Seite an Seite Titel errangen, als sich in Brasilien Arthur Friedenreich, der einzige schwarze Fußballstar, bei Staatsempfängen noch weiße Kreide ins Gesicht schmieren und die Haare glätten musste.
Urinieren auf die Zeitung
Immerhin, der unerträgliche Ohrwurm war mit einem Schlag verschwunden. Eine halbe Stunde später versammelte Varela die gesamte Mannschaft auf seinem Hotelzimmer. Eine Ansprache war kaum nötig. El Negro Jefe, wie Varela respektvoll aufgrund seiner afrikanisch-spanischen Herkunft genannt wurde, öffnete nur das Badezimmer. Dort hatte der schwarze Chef 30 bis 40 Zeitungen ausgelegt.
Jeder im Team wusste, was verlangt war. Einer für alle, alle für einen. Nacheinander holten die Spieler ihren persönlichen Degen heraus und urinierten auf die fette Schlagzeile. Varela als Letzter. Schon als kleiner Junge hatte er sich Geld als Zeitungsbote dazu verdient. Sein damaliger Boss hatte immer gemeint, dass einzig Wahre in einer Zeitung sei das Datum obendrauf. Sein damaliger Boss war ein kluger Mann.
Auf dem Weg ins Stadion musste im Mannschaftsbus jeder Einzelne immer wieder grinsen. Hatten sie das da eben wirklich gemacht? Varela spürte, diese Elf hatte nichts mit einer Schafherde gemeinsam.
Varela kontra Trainer
Die perfekte Mischung aus Entschlossenheit und Lockerheit. Eine Stunde noch bis zum Anpfiff. Der Vizepräsident des Fußballverbandes kam in die Kabine: "Lasst es nicht zur Katastrophe kommen. Drei oder vier Gegentore wären vertretbar, aber bitte keine sechs oder sieben, bitte!" Als der rundliche Herr wieder draußen war, zischelte Mittelstürmer Miguez: "Was war denn das für'n Pisser!?" Erneutes Dauergrinsen...
Letzte Teambesprechung. Trainer Juan Lopez wiederholte noch einmal die geplante Vorgehensweise. Hinten einigeln, die Brasilianer kommen lassen, vorne versuchen Ecken und Freistösse herauszuarbeiten. Bevor es rausging noch ein Mannschaftskreis - und Kapitän Varela schmiss im letzten Moment alles um: "Unser Trainer Juancito ist ein guter Trainer. Aber heute liegt er falsch. Wenn wir defensiv spielen, werden wir untergehen wie alle anderen zuvor. Spielt mutig nach vorne. Und das Wichtigste: blendet die Kulisse aus. Das Publikum sind Schaufensterpuppen. Zugegeben, 200.000 Puppen, aber sie können Euch nichts tun."
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Seite 2: Varela wird zum Buhmann und brasilianische Stille
Die erste Hälfte verlief torlos. Brasilien spielte wie immer zu Hause ganz in Weiß. Doch der Wundersturm Jair/Adhemir/Zihinho kam nicht wie gewohnt zur Geltung, bis zur 47. Minute. Führung der Brasilianer durch Friaca. Ein Jubelsturm, dass es das Hirn wegpustete. Varela revidierte sich, das waren keine Schaufensterpuppen.
Es galt, diese Kulisse wieder zu bändigen. Er, der in seiner gesamten Karriere immer mit offenem Visier gespielt hatte, bediente sich dieses eine Mal eines Hütchenspielertricks. Die feiernden Brasilianer waren bereits Richtung Mittellinie unterwegs, der Ball noch im Tornetz.
Den schnappte sich Varela jetzt. Er ging auf den englischen Schiedsrichter George Reader zu und laberte ihn theatralisch auf Spanisch voll. "Fuera de juego! Fuera de juego!" Seine Annahme war richtig, der Mann verstand kein Wort. Varelas Grundkenntnisse in Englisch hätten für "Offside, Offside!" schon noch gereicht. Darum ging es nicht, denn das Tor war meterweit kein Abseits gewesen.
Varela wird zum Buhmann
Varela rückte den Ball nicht raus, wich keinen Deut von der Stelle, verlangte auf Spanisch einen Dolmetscher. Reader schwankte in seiner Einschätzung. Als seine gestenreiche Drohung, diesen uruguayischen Ochsen vom Platz zu stellen, nicht verfing, machte sich der Unparteiische auf die Suche nach einem Übersetzer. Die Angelegenheit dauerte gut fünf Minuten.
Was? Der Kapitän der Urus hatte doch tatsächlich eine Abseitsstellung sehen wollen? So ein Quatsch, Reader war beruhigt, er hatte definitiv keine Fehlentscheidung begangen.
Beruhigt war auch das Publikum. Wie lange jubelt man ausgelassen über ein Tor? Eine Minute, zwei, maximal drei. Genau das hatte Varela einkalkuliert. Er war jetzt der Buhmann, wurde bei jeder Ballberührung ausgepfiffen. Aber diese Giftigkeit war allemal besser als Euphorie aus 200.000 Kehlen. Uruguay brauchte jetzt zwei Tore zum Titelgewinn und setzte alles auf eine Karte.
Ghiggias großer Moment
Sieh an, sieh an, die Brasilianer begannen zu wackeln. 66. Minute, Ausgleich durch Schiaffino. Und dann die 79. Minute. Rechtsaußen Alcides Ghiggia schießt aufs kurze Eck. 2:1 für Uruguay. Alcides Ghiggia war eigentlich immer nur ein Vorbereiter, Ghiggia hat in seiner gesamten Länderspielkarriere nur vier Tore erzielt. Alle bei der WM 1950, in jedem Spiel genau eins.
Ab da war es ein Kinderspiel, die Partie über die Bühne zu bringen. Die Brasilianer waren bewegungsunfähig wie Eidechsen unter fünf Grad. Der Schlusspfiff, Varela nahm Ghiggia auf die Schulter, hörte kurz die erlösenden Schreie der Kameraden - und sonst nichts. Es war so still, dass man selbst den brasilianischen Hörfunkreporter oben auf der Tribüne verstand. Irgendwie kam ihm diese Stimme sogar bekannt vor. Ansonsten Totenstille.
Nie ist ein WM-Titel im Stadion so wenig bejubelt worden. Die Sieger spendeten den Unterlegenen Trost. Bei der Siegerehrung drückte FIFA-Präsident Jules Rimet den Pokal Varela wortlos in die Hand.
Brasilien trug Trauer. Zwei Menschen waren im Maracana einem Herzinfarkt erlegen, zwei weitere begingen Selbstmord. Die Selecao spielte nie wieder in Weiß. Als 1994 Torwart Barbosa die Nationalmannschaft im Trainingslager besuchen wollte, wurde er von den Trainern Parreira und Zagallo vom Gelände gejagt, weil er angeblich Unglück bringe - 44 Jahre später!
Obdulio Varela war da etwas feinfühliger. Der Weltmeister-Kapitän lud nach seinem Karriereende jedes Jahr die Spieler des Finales von 1950 zu seinem Geburtstag ein: die Uruguayer und die Brasilianer.
Was sonst noch wichtig war
- Der brasilianische Hörfunkreporter Ary Barroso beendete sofort nach Abpfiff seine Sprecherkarriere und widmete sich nur noch seiner eigentlichen Profession. Er war Sänger, Pianist und Starkomponist der Schlagerwelt von Rio. 1944 hätte er beinahe den Oscar für die beste Filmmusik bekommen. Für die wohl bekannteste Samba aller Zeiten: BRASIIIIL, dadadadadadadadaaaaa...... Wäre so, als hätte Udo Jürgens das WM-Finale 1974 kommentiert.
- Für Titelverteidiger Italien stand die WM unter einem ungünstigen Stern. Die Meistermannschaft des AC Turin mit zehn aktuellen Nationalspielern war ein Jahr zuvor bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Deswegen reiste Italien aus Furcht und Aberglaube als einziges Team aus Europa mit dem Schiff an. Mit ungenügender Logistik. Nach nur drei Tagen waren alle Trainingsbälle im Meer versenkt. Die Überfahrt dauerte insgesamt 15 Tage, und die meisten Spieler kamen mit Übergewicht in Brasilien an. Italien schied nach der Vorrunde aus.
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