Spätestens seit dem Engagement von Louis van Gaal beim FC Bayern weiß auch ganz Fußball-Deutschland, dass der 62-Jährige seine Meinung selten zurückhält und Widerworte oder gar Kritik an seiner Taktik nur sehr begrenzt duldet.
Als daher Chiles Nationaltrainer Jorge Sampaoli die defensive Ausrichtung der Niederländer nach der 0:2-Niederlage im letzten Gruppenspiel anprangerte und den einst für ihre Spielfreude und den Voetbal Total bekannten Holländern eine Zerstörertaktik vorwarf, reagierte der Bondscoach erwartet schroff.
"Geben Sie mir bitte eine Definition von offensivem Fußball. Wenn Sie so clevere Fragen stellen können, können Sie ja vielleicht auch clevere Antworten geben. Es interessiert mich nicht, was Chiles Trainer sagt", fuhr van Gaal den Journalisten an, der ihn auf die Aussagen seines Gegenübers angesprochen hatte: "Du musst entsprechend deiner Stärken spielen. Es geht nur ums gewinnen. Ich wähle ein System, das mir hilft, zu gewinnen."
Van Gaals "Todsünde"
Doch Sampaoli ist nicht allein mit seiner Kritik. Vielmehr spricht er vielen Landsleuten van Gaals aus der Seele. Schon vor der WM war in den Niederlanden ein Grundsatzkonflikt ausgebrochen. Entgegen seines einst eigenen Dogmas baut van Gaal auf ein defensives und reagierendes 3-5-2-System. Das in Holland gewohnte und erwartete 4-3-3, mit dem Gegner, Ball und Spiel dominiert werden sollen, hat ausgedient.
Nach dem schwachen 2:0-Testspielsieg kurz vor der WM gegen Wales kochten die Emotionen schließlich über. "Ich plädiere dafür, vom neuen System abzusehen und unsere Identität zu behalten", betonte Ex-Nationalspieler Arie Haan. Der niederländische Fußball sei seit den 1970ern für seine offensive Ausrichtung bekannt, "und es ist eine Todsünde, dass dies nun, 40 Jahre später, zum Fenster rausgeworfen wird".
"So geht Fußball"
Selbstverständlich interessierte dies alles das zuweilen knorrige, immer für ein Streitgespräch mit Journalisten bereit stehende Alphatier nur peripher. Van Gaal verfolgt eine einfache Logik: Das Team hat ohne den verletzten Kevin Strootman und die deutlich nachlassende Form von Wesley Sneijder im Mittelfeld nicht die Qualität, um starke Gegner zu dominieren.
Daher baut der Bondscoach auf eine kompakte defensive Dreierreihe um Stefan de Vrij, Bruno Martins Indi und Ron Vlaar, die bei gegnerischem Ballbesitz durch die Außenverteidiger Daley Blind und Daryl Janmaat unterstützt wird. So wird aus dem 3-5-2 ein 5-3-2, Holland steht zumeist sicher und kann mit schnellen Gegenstößen über Arjen Robben und Robin van Persie Spiele entscheiden - in Perfektion zu sehen beim 5:1 gegen Spanien.
"Man muss eine Mannschaft genauso spielen lassen, wie es ihren Qualitäten entspricht. Ich will gewinnen. Also wähle ich ein System aus, von dem ich mir am meisten verspreche. So geht Fußball. Es ist schön zu sehen, dass das Ergebnis mich bestätigt", stellte van Gaal nach dem dritten Sieg im dritten Gruppenspiel gewohnt selbstbewusst klar.
Unterstützung innerhalb der Mannschaft
Doch nicht nur der Bondscoach glaubt an diese Marschrichtung. Innerhalb der Mannschaft, also dort, wo es wirklich zählt, genießt er höchste Wertschätzung und Vertrauen in seine Vorgaben. "Er weiß, was er tut. Ich kenne ihn und weiß, was er kann. Ich habe vom ersten Tag gesagt, wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir ihm vertrauen und ihm folgen", erklärte Robben - aller Kritik aus der Heimat zum Trotz.
"Wir glauben an dieses System. Und zwar nicht nur die Stammspieler, sondern alle 23 Mann im Kader", fügte Dirk Kuyt, der gegen Chile als Linksverteidiger ran musste, hinzu. Sneijder bestätigte seine Kollegen: "Es ist verdammt schwer, gegen uns zu spielen. Wir wollen den Pokal holen, alles andere interessiert mich nicht."
Die Mischung macht's
Die drei Routiniers geben damit die generelle Stimmung in der Mannschaft wieder. Van Gaal hat es geschafft, den nach dem punktlosen Vorrunden-Aus bei der Europameisterschaft vor zwei Jahren dringend notwendigen Umbruch durchzuführen. Ohne Niederlage marschierte Holland durch die Qualifikation.
Dabei setzte er auf den niederländischen Nachwuchs und baut bei der WM auf bis zuletzt außerhalb Hollands weitestgehend unbekannte Spieler wie de Vrij, Martins Indi, Blind, Janmaat, Memphis Depay oder Torhüter Jasper Cillessen. Von der alten Garde sind nur noch Sneijder, Robben, Kuyt, van Persie, Klaas-Jan Huntelaar und Nigel de Jong übrig.
Gerade in der Defensive änderte van Gaal somit alles. Von der Abwehr, die 2010 das WM-Finale gegen Spanien verlor, ist kein einziger Spieler in Brasilien dabei. Doch die Mischung passt: Die Routiniers und die jungen Spieler ergänzen sich und harmonieren bislang hervorragend, von Streitigkeiten keine Spur. Auch, weil van Gaal bewusst und in bester Jose-Mourinho-Manier die Aufmerksamkeit auf sich lenkt.
"Die FIFA spricht immer von Fairplay, und dann spielt sie mit solchen Tricks", polterte er etwa angesichts der Spielansetzung, wodurch die Niederlande (Gruppe B) vor Brasilien (Gruppe A) ran musste. Die Brasilianer wussten also, auf welchen Gegner sie bei welcher Positionierung im Achtelfinale treffen würden: "Das ist nicht gut, das ist kein Fairplay. Warum zur Hölle tun sie das?"
Der "goldener Willi" des Louis van Gaal
Dass er seinen trockenen Humor gleichzeitig nicht verloren hat, stellte van Gaal ebenfalls unter Beweis. Gegen Chile erzielten die eingewechselten Depay und Leroy Fer die beiden einzigen Tore, woraufhin Robben grinste: "Unser Trainer muss einen goldenen Willi haben."
In Holland ist der Ausdruck gleichbedeutend mit einem "glücklichen Händchen", doch van Gaal nahm die Vorlage nur zu gerne an. "Ich weiß nicht", antwortete er auf der Pressekonferenz: "Meine Frau Truus jedenfalls hat mir das nie gesagt."
Doch selbst nach der Gruppenphase hört die Kritik in der Heimat nicht auf. "Eine Beleidigung der alt-holländischen Schule", kritisierte die Tageszeitung "Algemeen Dagblad".
Der "De Volkskrant" fügte hinzu: "Oranje spielt wie eine Investorengesellschaft: Wenn das Resultat gut ist, kommen die Boni von selbst. Es ist noch ein bisschen schlimmer als vor vier Jahren mit Bert van Marwijk als Bondscoach. Die Spezialität war einmal: Begegnungen mit fantastischem Spiel zum Leben erwecken. Und jetzt? Erst totmachen, dann zuschlagen."
"Können Weltmeister werden"
Doch auch dadurch wird sich van Gaal von seinem Plan nicht abbringen lassen. Der erfahrene Coach ist viel zu stur - selbst wenn die Ergebnisse nicht stimmen. Aktuell geben ihm diese Recht. Als nächstes steht für die Elftal das Achtelfinale gegen Mexiko an. Van Gaal schob alle Zurückhaltung bereits zur Seite: "Wenn es gut geht, können wir Weltmeister werden."
2001 scheiterte er mit der Elftal in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft, für ihn noch heute eine Schmach. "Auf diese Herausforderung habe ich gewartet", gab van Gaal nach seinem Amtsantritt zu. Immerhin ist es für ihn die vielleicht letzte Chance, sich bei einer WM zu beweisen. Nach dem Turnier wechselt er zu Manchester United, Fragen zum neuen Klub beantwortet er in Brasilien grundsätzlich nicht.
Geht van Gaals System weiter auf wie bisher, könnte sich für ihn ein Kreis schließen. Er übernimmt bald eines der europäischen Schwergewichte und hätte es zuvor einmal mehr allen Kritikern gezeigt. Eine Weiterarbeit als Nationaltrainer wäre für ihn so oder so nicht in Frage gekommen. Warum? "Weil es mich nach zwei Jahren langweilt, Nationaltrainer zu sein."