Cristiano Ronaldo ist der Prototyp des Fußballspielers der Neuzeit - und liefert gleichzeitig die Antithese zu den gängigen Stereotypen rund um seine Person. Der Superstar hat sein Spiel umgestellt und ist dadurch wieder zum Besten der Welt geworden. Die deutsche Mannschaft ist vor dem WM-Auftaktvoll des Respekts vor dem "neuen CR7".
"Portugal hat eine Nationalmannschaft namens Cristiano Ronaldo und eine Reihe weiterer Spieler, die ihm hinterherlaufen." Das sagt Carlos Queiroz, dem man getrost ein tieferes Verständnis für das Seelenleben der Selecao bescheinigen darf.
Queiroz hat vor zwanzig Jahren die Goldene Generation um Luis Figo und Rui Costa entdeckt und war in verschiedenen Funktionen insgesamt sieben Jahre beim Verband tätig. Unter anderem auch zwei Jahre als Trainer der A-Nationalmannschaft.
Um Cristiano Ronaldo und seine Rolle in der Selecao ranken sich zahllose Geschichten. Sie handeln von Besessenheit, von Egozentrik, von Leadership, von Narzissmus. Die üblichen Reflexe, vielleicht Wahrheit, vielleicht Klischee. Auf jeden Fall geht es oft genug um Dinge abseits des Rasens.
Noch eine neue Entwicklungsstufe
Seit fast elf Jahren spielt Ronaldo nun in der A-Nationalmannschaft seines Heimatlandes. Genügend Zeit für den Rest seiner Mitspieler, ihn als großen Hoffnungsträger einer ganzen Fußballnation zu entlasten. Spätestens seit dem Abschied von Figo hängt die Mannschaft als Ronaldos Tropf.
Es gibt keinen, der auch nur annähernd in Ronaldos Sphären aufgestiegen wäre. In der aktuellen Mannschaft sind Spieler wie Nani oder Joao Moutinho schon die 1-B-Lösung.
In Madrid hat er die Besten der Welt um sich herum. Bei der Selecao Mitstreiter wie Meireles, Postiga oder Almeida. Ordentlich arbeitende Soldaten, von denen aber keiner Weltklasse verkörpert.
Das Gros der portugiesischen Nationalmannschaft hat sich kaum weiterentwickelt in den letzten Jahren. Cristiano Ronaldo aber, der in fünf Jahren 252 Pflichtspieltore für Real Madrid erzielt hat, vor zwei Jahren alleine 60 in einer einzigen Saison, hat sein Spiel nochmal auf eine neue Leistungsstufe gedrillt.
Auch Ronaldo wird älter
Seine Gesamtquote war in der abgelaufenen Saison leicht rückläufig, was aber vor allem damit zusammenhing, dass Ronaldo wegen kleinerer Blessuren einige Spiele verpasste, unter anderem auch gegen schwächere Gegner, in denen Tore garantiert gewesen wären. Wie gut er aber auf Top-Niveau funktionierte, zeigt die neue Bestmarke von 17 Toren in der Champions League.
Dass sich einer wie Ronaldo noch einmal in der Art weiterentwickeln kann, zeigt seinen unglaublichen Antrieb. Die Jahre, in denen er die Nummer zwei hinter Leo Messi war, nagten an seinem Selbstverständnis. Mit Zlatan Ibrahimovic machte sich ein spektakulärerer Spieler auf die Jagd nach den beiden Granden des Weltfußballs.
Ronaldo wird nicht jünger, im kommenden Winter feiert er seinen 30. Geburtstag. Er hat schon immer besonders von seinen athletischen Fähigkeiten gelebt. Der moderne Fußball wird längst nicht mehr nur von den besten Fußballspielern dominiert. Es sind die Athleten, die das Regiment übernommen haben. Und der natürliche Alterungsprozess wird auf Sicht auch an Ronaldo nicht spurlos vorübergehen - auch wenn davon derzeit noch kaum etwas zu sehen ist. Seine leicht gestiegen Anfälligkeit für Muskelverletzungen mal ausgenommen.
Und weil die gegnerischen Verteidiger immer jünger und noch dynamischer werden und schneller regenerieren werden als er selbst, hat er sich auf einer Ebene zum Besten der Welt entwickelt, wie man es ihm so vor wenigen Jahren nicht zugetraut hätte.
Herbe Kritik an seinem früheren Spiel
Als 2011 die monumentale Clasico-Serie mit vier Partien innerhalb von 19 Tagen anstand, fasste der ehemalige irische Nationalspieler und heutige Primera-Division-Experte des Senders "Canal plus", Michael Robinson, den Kern von Ronaldos Makel gegenüber anderen Weltklassespielern in einem kernigen Bild zusammen.
"Ich bin mir nicht sicher, ob er versteht, wie man Fußball spielt. Manchmal habe ich das Gefühl, ein Talent ohne Sinn zu sehen, das mich gleichzeitig blendet und enttäuscht. Ihm passiert das, was vielen talentierten Spielern passiert. Er hat nie die Motorhaube dieses Sports aufgemacht, um zu schauen, wie es funktioniert. Deshalb spielt er auch in einem permanenten Interessenkonflikt - zwischen seinen Interessen und denen der Mannschaft", sagte Robinson damals in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung".
Das hieß übersetzt so viel wie: Ronaldo mag der Beste der Welt sein. Er hat aber keine Ahnung, warum das überhaupt so ist. Weil er sich dafür schlicht nicht interessiert. Der ehemalige Europapokalsieger mit dem FC Liverpool ging erstaunlich hart mit CR7 ins Gericht, mit einem Spieler, der im Schnitt nahezu in jedem seiner Pflichtspiele ein Tor erzielt hatte und Champions-League-Sieger und mehrfach Meister geworden war.
"Manchmal sehe ich Ronaldo und denke: Was für eine Verschwendung. Ich habe nie ein solch brillantes Phantom eines Fußballers gesehen. Es hat nie einen Spieler gegeben, der so beschenkt worden ist. Wenn jemand ein Modell für den Spieler der Zukunft sucht, hat er es in Ronaldo gefunden", schwankte Robinson zwischen Unverständnis und bloßer Bewunderung.
Ohne Ball am gefährlichsten
Wer den Ronaldo von damals mit dem von heute vergleicht, bekommt auf den ersten Blick dieselben Eindrücke vermittelt. Wenn er den Ball hat, spielt er zwar nicht mehr ganz so verschnörkelt wie früher, aber immer noch ausladend genug, um beim Betrachter für ein wenig Augenrollen zu sorgen.
Interessant wird Ronaldos Verhalten aber erst, wenn er den Ball nicht am Fuß hat. Das eiserne Gebot, dass der Laufweg den Pass bestimmt, trifft bei Ronaldo so zu wie bei keinem anderen Spieler derzeit auf der Welt. Selbst ein Lückenfinder Thomas Müller wird Ronaldos Antizipationsgespür aufmerksam studieren.
"Ronaldo hat mit die besten Laufwege im Weltfußball. Man darf ihn im wahrsten Sinne des Wortes nicht aus den Augen lassen", sagte Joachim Löw. "Er versucht, sich im toten Winkel des Gegenspielers aufzuhalten, geht dann in die Tiefe und bekommt die Pässe in die Schnittstellen." Schaut man sich seine drei Tore im Playoff-Rückspiel gegen Schweden an, bekommt man einen Eindruck von Ronaldos neuem Spielstil.
Ronaldo schleicht "irgendwo im Niemandsland", wie Löw es nennt. Jedenfalls scheinbar unbeteiligt - weil der Gegner ja noch den Ball hat. Obwohl er ein ganz passabler Spieler für das Defensivpressing im Mittelfeldbereich ist, hält sich Ronaldo da größtenteils raus. Und positioniert sich stattdessen bereits, auf den schnellen Gegenstoß lauernd.
Er denkt in anderen Dimensionen
In den WM-Playoffs gegen Schweden lauerte er zwei Meter im Windschatten des ersten Verteidigers und war nach den ersten schnellen Schritten beim Antritt innerhalb von kaum mehr als einer Sekunde entwischt. Beim zweiten Treffer startete er seinen Lauf 30 Meter vor dem eigenen Tor und sprintete im Prinzip nur geradeaus nach vorne. Zwei Pässe später erreichte ihn das Zuspiel, seiner Endgeschwindigkeit war kein Gegenspieler mehr gewachsen.
Beim dritten Treffer gewannen die Portugiesen rechts in der eigenen Hälfte den Ball. Ronaldo setzte sofort auf der linken Seite zum Sprint an. Der Ball kam in den Rücken der aufgerückten Abwehr, Ronaldo war ein drittes Mal frei durch und stand alleine vor dem gegnerischen Torhüter.
Wenn er antritt, ist sein Handeln bedingungslos. Das bedeutet nicht automatisch, dass er den Ball dann auch mundgerecht serviert bekommt. Viele Spieler, und ganz besonders auch der Ronaldo früherer Tage, werden mürrisch, wenn nach großem eigenen Aufwand dann der geplante Pass nicht ankommt oder ein anderer Mitspieler bedient wird.
Ronaldo hat diese Kinderkrankheit lange genug mit sich herumgeschleppt und stand sich damit selbst im Weg. Heute hat er begriffen, dass seine Mannschaften und er damit auf mittelfristige Sicht erfolgreicher werden. Er, der Prototyp des Fußballspielers der Neuzeit, hat den Rahmen gesprengt. Er hat seine eigenen Konventionen über Bord geworfen.
Ein Fremder des Fußballs?
Und geht es nach DFB-Chefscout Urs Siegenthaler, ist er sogar zu einem Fremden unter Fußballern geworden. "Der Handballspieler bei Deutschland gegen Spanien: Der Ball ist bei Spaniens Abschlussversuch noch keinen Meter in der Luft, da läuft der deutsche Flügelspieler schon nach vorn, weil er die Situation erkannt hat. Was macht der Fußballer? Er schaut zuerst: Hält ihn der Torhüter? Geht der Schuss vorbei? Bis er das gesehen hat, kann der Konter aber nicht mehr schnell genug eingeleitet werden. Ronaldo schießt 58 Tore. Nicht gegen Binningen, Bottmingen und Oberwil, sondern gegen Manchester United und Bayern. Dafür gibt es eine Erklärung: Ronaldo ist im Umschaltspiel enorm stark. Enorm stark", sagte Siegenthaler dem Schweizer "Tagesanzeiger".
Siegenthaler bereist seit fast zehn Jahren im Auftrag des Deutschen Fußball-Bundes die Welt. Er hat alle relevanten Nationen spielen sehen, sich mit den Kulturen und Sitten der jeweiligen Länder befasst. Und er ist bereit, über den Tellerrand des Fußballs hinauszuschauen. Auf andere Sportarten zum Beispiel.
"Wenn im American Football der Quarterback den Ball hat, dann schauen doch nicht alle Spieler zu ihm. Dann schaut der Verteidiger zu seinem gegnerischen Stürmer. Im Fußball schauen fast alle immer zum Ball. Cristiano Ronaldo verhält sich cleverer. Er ist einer, der mit zunehmendem Alter besser wurde, weil er nicht zufrieden war mit dem, was er hatte. Er ist nicht mehr nur auf der linken Seite und macht seine Übersteiger", sagt Siegenthaler.
"Jetzt taucht er überall auf, ist sehr oft auch in der Defensive, geht an den eigenen Strafraum zurück - und das macht ihn gefährlich. Alle anderen schauen dem Spiel zu, doch er schleicht sich schon weg, wenn der Flankenball kommt. Sein Gegenspieler denkt in diesem Moment: Er ist ja noch hier. Tatsächlich aber ist Ronaldo hier gewesen. Er zieht jetzt bereits bedingungslos den Sprint nach vorne an. Ich habe unserem Trainerstab gesagt: Wisst ihr, was ihn zum Weltklassestürmer macht? Er erhält nicht jedes Mal den Ball, aber er geht jedes Mal."
Sir Alex: Heute ist der komplett
Auch Siegenthalers Informationen haben Joachim Löw dazu veranlasst, die deutschen Reihen zu schließen. Der Raum hinter der Viererkette muss Sperrgebiet werden. Da helfen die beiden Innenverteidiger auf den Außenpositionen, weil sie gelernt haben, diesen Raum im Auge zu behalten und im Zweifelsfall das Zentrum gegen alle Widerstände zu verteidigen. Zum Beispiel gegen den Besten der Welt.
"Portugal ist definitiv abhängiger von Ronaldo als Real Madrid", sagt Luis Figo, Ronaldos Vorgänger als Superstar der Selecao.
Kritiker Robinson hat bereits vor einiger Zeit erkannt, dass sich Ronaldo gewandelt hat: "Ich glaube, dass man bei Ronaldo eine Entwicklung gesehen hat. Es ist keine Wendung um 180 Grad. Aber er hat seinem Spiel etwas hinzugefügt."
Das größte Lob aber kommt von Ronaldos Entdecker und großem Förderer. "In den sechs Jahren bei uns in Manchester haben alle gesehen, wie sich sein Spiel immer entwickelt hat und von Jahr zu Jahr besser wurde", sagt Alex Ferguson über seinen Ziehsohn. "Aber erst heute sehen wir den kompletten Spieler Cristiano Ronaldo."