Mürrisch joggt Stefan Effenberg an die Außenlinie, im Trab und im Protest. Auswechseln? Ihn? Jetzt? Den deutschen Fans gefällt die Idee von Berti Vogts. Effenbergs Leistung gefiel ihnen weniger. Sie missbilligen seine provokative Art vom Feld zu schleichen, so wie sie zuvor "Effenberg raus" gerufen und den eigenwilligen Blonden mit Pfiffen bedacht haben.
Was wiederum Effenberg weniger gefällt. Es ist eine verquere Gemengelage im stickigen Dunst von Dallas, die ihn, 25-Jährig und in der ungewohnten Position als rechter Verteidiger aufgeboten, überdrehen lässt. Erst verliert er die Contenance, dann die Kontrolle über seinen rechten Mittelfinger.
An diesem 27. Juni 1994 machte Effenberg eines seiner schlechtesten Länderspiele; in jedem Fall eines seiner letzten. 20 Jahre später gehört der "Effe-Finger" zur fußballerischen Allgemeinbildung - die Frage nach dem deutschen Gegner dieses dritten WM-Vorrundenspiels aber scheint Günther-Jauch-verdächtig.
DFB-Team lässt Träume platzen
Es waren die Südkoreaner, ein untergewichtiger Sparringspartner, die den amtierenden Weltmeister in Verlegenheit brachten. Deutschland gewann nach 3:0-Führung knapp 3:2, scheiterte anschließend im Viertelfinale. Südkorea musste nach der Vorrunde die Koffer packen, zwei Punkte, das Aus.
Acht Jahre später, bei der WM 2002, trafen Deutschland und Südkorea erneut aufeinander, es ist ein Spiel, das jeder kennt. Oliver Kahns Paraden und ein Michael Ballack, der mit Gelbsperre und Siegestreffer die Rolle der tragischen Figur okkupierte, beendeten Südkoreas Traum vom Finale in Yokohama.Myung-bo Hong war dabei, beim 0:1 von Seoul, er führte seine Elf als Kapitän an. Mit 136 Einsätzen ist Hong Rekordnationalspieler, der südkoreanische Lothar Matthäus sozusagen, und als er seine Kickstiefel 2004 an den Nagel hing, wurde er in die Liste der 125 besten lebenden Fußballer aufgenommen. Von Pele.
Nur zwei Mal in der K.o.-Phase
Inzwischen ist Hong zum Chef-Coach Südkoreas aufgestiegen, nach Lehrjahren als südkoreanischer U-20 - und U-23-Trainer übernahm er den Job im vergangenen Jahr.
In Brasilien betreut er eine Auswahl, die zum achten Mal hintereinander an einer Weltmeisterschaft teilnimmt, jedoch nur zweimal die Gruppenphase überstand: 2002, als erste - und bis heute einzige - asiatische Mannschaft, die es in ein Semifinale schaffte, und 2010, als man Uruguay im Achtelfinale 2:3 unterlag.
Allein fünf Spieler aus Südafrika sind übrig geblieben, Hong hat für eine Blutauffrischung gesorgt, ohne Denkmäler zu stürzen. Das Gerüst der Truppe besteht aus den Profis, die bei Olympia 2012 Dritter wurden.
"Vertrauen auf unsere Stärke"
"Ich weiß nicht, wie viel die anderen Teams über uns wissen, aber sie werden feststellen, dass wir eine schnelle Truppe sind", sagte Hong der Nachrichtenagentur "Yonhap in Paju". Und ergänzte: "Wir vertrauen uns und unserer Stärke."
Damit meint der Coach vor allem Technik und, wie angesprochen, Geschwindigkeit. Der 32-jährige Tae-Hwi Kwakist ist der einzige Akteur über der 30er Grenze, das Durchschnittsalter beträgt 25,9 Jahre.
In potenziertem Maße bauen die "Taeguk Warriors" zudem auf Bundesliga-Qualität: Südkoreas Star, Heung-Min Son von Bayer Leverkusen, die beiden Augsburger Jeong-Ho Hong und Dong-Won Ji sowie die Mainzer Joo-Ho Park und Ja-Cheol Koo, dem Mannschaftskapitän.
Die Ansprüche sind gestiegen
Selbiges war er bereits in London 2012, beim Gewinn der Bronzemedaille, einer beachtlichen Errungenschaft. Abgesehen vom Highlight 2002 unter Guus Hiddink datierten die Erfolge aus längst vergessenen Zeiten. 1956 und 1960 wurde Südkorea Asienmeister, 2003 und 2008 reichte es immerhin zur Ostasienmeisterschaft.
Mit 25 Jahren ist Koo der jüngste Kapitän einer südkoreanischen WM-Elf, ein höflicher Mann dazu, ruhig, freundlich und bescheiden, typisch asiatisch. In Brasilien, sagt er, gehe ein "Kindheitstraum in Erfüllung", den hohen Erwartungen seiner Landsleute begegnet er mit Demut. Das Achtelfinale sei realistisch, alles weitere, gesteht Koo, "wäre ein Traum".
Inmitten des südkoreanischen Anspruchsdenkens ist das noble Zurückhaltung. Vielleicht zu nobel. Trainer Hong weiß, welcher Umstand die Ansprüche anhebt: "Unseren Spielern mangelt es nicht an Erfahrung, da sie alle in wettbewerbsfähigen Ligen spielen."
18 Legionäre
Hong hat Recht. Insgesamt verdingen sich neun Spieler des WM-Kaders in Europa, neben den fünf Bundesliga-Vertretern wird das Portfolio von vier Spielern aus der Premier League komplettiert. Die Größenverhältnisse sind ersichtlich: Von den 23 berufenen Akteuren spielen 18 im Ausland, bloß fünf daheim.
Das war früher anders. Noch bei der Heim-WM 2002 kam die Landeselite fast geschlossen aus der heimischen K-League. Mit Jung-Hwan Ahn (Perugia) und Ki-Hyeon Seol (Anderlecht) enthielt das Aufgebot gerade zwei "Legionäre".
Südkoreas Hoffnungen in Brasilien ruhen auf dem Leverkusener Son, einem trickreichen Angreifer, der schon mit 16 nach Hamburg übersiedelte.
"Ich war gelangweilt vom Fußball in Korea, hier gibt es viel bessere Voraussetzungen", sagte er dem "Abendblatt", um seine Präferenzen deutlich abzustecken: "Hier ist alles besser. Am liebsten würde ich für immer in Deutschland bleiben."
Sons ehemaliger Trainer Armin Veh bezeichnete ihn als "Juwel", einheimische Journalisten und Verbandsoffizielle wählten ihn zu Südkoreas Fußballer des Jahres 2013. Eine hehre Auszeichnung - und immense Bürde. Von Son werden Heldentaten erwartet. Er ist 21 Jahre alt.
Wie die Bundesliga die Premier League überholte
Koo kam 2011 nach Deutschland, zum VfL Wolfsburg. Er wurde nach Augsburg verliehen und im vorigen Winter nach Mainz verkauft, rund vier Millionen legten die Rheinhessen dafür auf den Tisch, so viel wie nie in ihrer Historie.
Die Bundesliga, erzählt der Mittelfeldmann, habe in der Heimat eine starke Aufwertung erfahren. Speziell das deutsch-deutsche Duell im Champions-League-Finale 2013 zwischen dem FC Bayern und Borussia Dortmund hätte einen Aufmerksamkeitsschub nach sich gezogen.
Koreaner mögen deutschen Fußball. Und besonders mögen sie Landsleute im deutschen Fußball. So überrascht es nicht, dass sich bei den Partien von Mainz 05 regelmäßig südkoreanische Reporter auf der Tribüne drängeln. Über Koo und Park wird gerne und viel berichtet.
Mittlerweile, sagt Koo, würden die Beliebtheitswerte der Bundesliga sogar jene der Premier League überflügeln; eine Tendenz, die auch den Profis zugute käme: "Je mehr unsere Spieler in europäischen Ligen Erfahrungen sammeln, desto besser für die Nationalmannschaft!"
Und es geht weiter so: Kürzlich hat 1899 Hoffenheim die Verpflichtung von Jin-su Kim bekanntgegeben, eines 21-jährigen Verteidigers, der die WM aufgrund einer Sprunggelenksverletzung verpasst."Ich freue mich enorm auf die Herausforderung deutsche Bundesliga", hat Kim verlauten lassen. Hoffenheim freut sich auch.
Achtelfinale gegen Deutschland möglich
Die WM-Qualifikation für Brasilien bewältigte der 57. der FIFA-Weltrangliste trotz Europa-Einfluss nur mit Mühe, ein einziges Tor gab den Ausschlag gegenüber Usbekistan.
In einer Konstellation mit Belgien, Russland und Algerien scheint ein Weiterkommen machbar. Ja-Cheol Koo wird nahezu forsch, wenn er ankündigt: "Bei uns ist der Wert der Zusammenarbeit groß ausgeprägt. Diesen kulturellen Charakterzug wollen wir in Brasilien einbringen, wir wollen ein großes Team sein."
Durchaus möglich übrigens, dass Südkorea im Turnierverlauf erneut auf Deutschland trifft. Im Achtelfinale kreuzen die Gruppen ihre Wege. Nach Effenbergs Finger und Ballacks Tragik könnte ein neues WM-Kapitel geschrieben werden.