Am 12. Juni beginnt die WM 2014 in Brasilien. GO!Brasil-Experte Uwe Morawe blickt für SPOX in 19 gewohnt launigen Kolumnen auf die WM-Geschichte zurück. Folge 9, die WM 1970 in Mexiko: Ernst Huberty schläft beim Jahrhundertspiel fast ein, schreibt aber trotzdem Geschichte. Tostao stellt Pele in den Schatten. Und Willi Schulz ist ein echter Turnbeutelvergesser.
spoxErnst Huberty schaltete die rote On-Air-Taste aus. Die letzten 120 Minuten hatte er gebannt auf das Rasenrechteck des Aztekenstadions gestarrt. Und dazu kommentiert. Die deutsche Nationalmannschaft hatte soeben ihr bestes Spiel aller Zeiten abgeliefert und auf tragische Weise mit 3:4 gegen Italien verloren.
Dennoch fühlte sich Huberty alles andere als unglücklich. Er hatte sofort begriffen, dass er Teil der Geschichte geworden war. Jahrhundertspiel. In der Nachwelt und den Archiven wird diese historische Partie auf ewig mit seiner sachlich unterkühlten Stimme verbunden sein.
Drei Reihen unter ihm sah er Kurt Brumme, den Kollegen vom Hörfunk. Völlig fertig und nassgeschwitzt. Huberty konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er hatte aufs richtige Pferd gesetzt, das Fernsehen.
Wunderwerk der modernen Welt
Erstmals waren die Bilder einer WM in Farbe in die deutschen Wohnzimmer geflimmert. Die Menschen empfanden die grobkörnige Mischung aus den drei Spektralfarben doch tatsächlich als Teil ihrer eigenen Realität. Schwarzweiß hatte stets etwas Trennendes besessen, eine klare Grenze gezogen zwischen Betrachter und technischem Gerät.
Nun in Farbe wurde der Zuschauer in den Fernseher hineingesogen, stellte sich vor, er säße selbst auf der Tribüne beim großen Spiel. Und das sogar doppelt. Die Tore kamen doppelt! Das blinkende "R" stand für Replay, Wiederholung. Wunderwerk der modernen Welt: plötzlich saß der Zuschauer ganz woanders, nämlich hinter dem Tor.
Dazu die neue Internationalität. Man kam sich wichtig vor. In riesigen Blockbuchstaben wurde Spielpaarung und Spielstand über das laufende Bild geklatscht. Schon bald hatten die Deutschen auf ihrem Sofa begriffen: Alemania, das waren wir!
Aufgrund all dieser Änderungen war die Radioreportage tot, nur noch etwas für Notfälle, auf Reisen, wenn kein Fernseher zur Verfügung stand. Gerade mal 16 Jahre war es her, beim epochalen WM-Finale 1954, da war es noch genau umgekehrt.
Zimmermann sticht Ernst
Ernst Huberty war einer der wenigen, dem der Name Bernhard Ernst überhaupt noch etwas sagte. Der Fernsehkommentator des Wunders von Bern. Pech für Ernst, dass es damals noch keine Möglichkeit gab, Fernsehbilder aufzuzeichnen.
Die gesamte Nation hatte sich in Gaststätten oder vor Elektrogeschäften versammelt, um Sepp Herbergers Elf gegen die Ungarn siegen zu sehen. Doch was Ernst dazu kommentierte, blieb ein flüchtiger 90-Minuten-Augenblick. In den Orbit geschickt und auf immer verloren.
Ins kollektive Gedächtnis hatte sich die Radioreportage von Herbert Zimmermann eingebrannt. Die konnte auf Tonbändern archiviert werden und wurde nachträglich mit den Filmbildern vom Finale montiert. Und so waren Zehntausende von Menschen, die live Bernd Ernst zugehört hatten, im Nachhinein felsenfest davon überzeugt, dass es Zimmermann gewesen sei.
Jahrhundertkommentar zum Jahrhundertspiel
Jetzt würde alles anders sein. Huberty sah, wie Brumme seine Unterlagen verstaute. Der arme Brumme. So lang schon dabei und zum zweiten Mal geschlagen. 1954 war unter den vier deutschen Hörfunkreportern ausgelost worden, wer welches Spiel begleiten würde. Das Los fürs Finale fiel auf Zimmermann und nicht auf Brumme. Und nun im falschen Medium unterwegs.
Brumme hatte heute einen Jahrhundertkommentar zum Jahrhundertspiel abgeliefert. Der ansonsten eher nüchterne Reporter war vom Geschehen mitgerissen worden. Es passte alles, die Emotionalität, das Mitfiebern mit den Deutschen, das Wehklagen über den parteiischen Schiedsrichter Yamasaki, die ehrliche Empörung über das bewusste Zeitschinden der Italiener. "Ich muss Ihnen mitteilen, Burgnich ist soeben auf dem Platz verstorben, oh nein, da steht er wieder auf..."
Doch was nutzte Brumme all die rhetorische Kunst? Ein paar Ewiggestrige und Hörfunkarchivare würden seine grandiose Leistung zu schätzen wissen. Die modernen Zeiten gehörten dem Fernsehen und damit ihm, Huberty. Huberty war sich bewusst darüber, dieses überwältigende Fußballspiel hätte jeden Kommentator verewigt, wirklich jeden. Der Glücksfall, der Sechser im Lotto war Huberty zuteil geworden. Ausgerechnet ihm.
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Seite 2: Monoton, aber historisch
Dass seine Reportage Schwächen aufwies, wen interessierte es? Huberty war stets der Überzeugung gewesen, dass der Zuschauer schon selbst so aufgeregt sei, dass man das als Reporter nicht noch schüren müsse. Zimmermann hatte sich als Fan am Mikrofon verstanden - diese Herangehensweise war bei Huberty verpönt. Und so hob sich bei all der Dramatik zwischen den Deutschen und den Italienern die Stimme kaum. "Seeler...Müller...das ist Beckenbauer...Overath...Graaabowskiii...zurück zu Seeler." Endlose monotone Aneinanderreihungen. Als säße man im Wartesaal des Arbeitsamts, wo die Namen aufgerufen werden.
Dass Huberty entscheidende Faktoren für die Niederlage wie die unglückliche Einwechslung Siggi Helds, der an zwei Gegentoren beteiligt war, oder das reine Nebenherlaufen von Willi Schulz beim entscheidenden vierten italienischen Treffer nicht thematisiert hatte, spielte keine Rolle. Selbst beim dramatischen Höhepunkt, dem Ausgleich in letzter Sekunde der regulären Spielzeit, war Huberty lediglich ein Allgemeinplatz eingefallen. Schnellinger, ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen. Fast tonlos vorgetragen.
Ein Moment wie die Mondlandung
Da rennt die deutsche Mannschaft nach der Pause unentwegt an, drei mögliche Elfmeter werden verwehrt, die Latte getroffen - und dann doch noch der Ausgleich durch Karl-Heinz Schnellinger, der noch nie ein Tor erzielt hatte. Und Huberty hatte lediglich auf den lahmen und jedem geläufigen Tatbestand verwiesen, dass Schnellinger seit sieben Jahren in Italien spielt. Ausgerechnet, ein Wort war damit etabliert, auf das in den nächsten Jahrzehnten in Sportkommentatoren stets die Nichtigkeiten dieser Welt folgen sollten.
Ausgerechnet. Weit entfernt von den sprachlichen Höhenflügen des Kurt Brumme da drei Reihen unter ihm. Doch was soll's? Huberty war sich der Größe des Ereignisses bewusst. Ein Jahr zuvor hatte Neil Armstrong beim ersten globalen Fernsehereignis den Mond betreten.
Die Worte von Armstrong ("That's one small step for a man...") waren gut gewählt. Doch es wäre kein Unterschied gewesen, wenn Armstrong seine Großmutter gegrüßt hätte. Die Macht des historischen Augenblicks. Huberty konnte sich auf dem Schalensitz des Aztekenstadions beruhigt zurücklehnen. Alles, wirklich alles was er gesagt hätte, wäre von nun an Kult gewesen. Es wurde ausgerechnet ausgerechnet...
Nachtrag: Ernst Huberty blieb auch nach seiner Entlassung als "WDR"-Sportchef die wohl einflussreichste Persönlichkeit in der TV-Sportberichterstattung. In den 90er Jahren griff in den großen Fernsehhäusern ein Trend um sich, dass Posten in der Chefredaktion nicht mehr durch Leute am Mikrofon, sondern durch Männer im organisatorischen Hintergrund besetzt wurden.
Die hatten entweder nie kommentiert oder waren zur Erkenntnis gelangt, dass darin nicht ihre Stärke lag. Weil sie häufig selbst nicht urteilssicher waren, benötigten diese neuen Führungskräfte Experten zur Schulung und Weiterbildung ihres operativen Personals.
In diesem Bereich wurde Huberty der Big Player. Egal ob Beckmann, Kerner, Wontorra oder Reif - alle saßen sie auf Hubertys Sofa. Daher ist im Fernsehkommentar in Deutschland bis heute der distanziert nüchterne Ansatz Hubertys prägend. Was bei Bundesligaspielen zweier deutscher Mannschaften untereinander weiterhin auch angebracht scheint.
Meiner Meinung nach geht diese Herangehensweise bei Europapokalspielen oder gar Länderspielen jedoch mittlerweile am Publikum vorbei. Enthusiastisches Mitfiebern mit der deutschen Mannschaft ist zum Glück nicht mehr eins zu eins gleichzusetzen mit dumpfem Nationalismus. Das Dogma, dass der Kommentator der einzige zu sein hat, der nicht offen heraus wollen darf, dass Deutschland gewinnen soll, erscheint mir inzwischen als überholt. Eine gewisse Parteilichkeit schließt den Respekt vorm sportlichen Gegner und ein Fairplay im Falle einer Niederlage ja keineswegs aus.
Was sonst noch wichtig war
- Diese WM gilt für viele als die beste aller Zeiten. Auch Franz Beckenbauer schwärmt heute noch von Mexiko, auch wenn das sportliche Abschneiden für ihn das auf dem Papier schlechteste seiner drei Weltmeisterschaften darstellt. Der Offensivfußball hatte sein Comeback gegeben. Mittendrin die Deutschen mit Gerd Müllers zehn Turniertreffern. Selbst die Italiener machten ab der K.o.-Runde mit beim heiteren Toreschießen - nachdem sie in den drei Gruppenspielen auf das abenteuerliche Torverhältnis von 1:0 gekommen waren. Verdienter Weltmeister wurde Brasilien, das mit Pele, Gerson, Rivelino und Tostao gleich vier Spieler in einer Elf integriert hatte, die im Verein als zentraler Regisseur agierten. Als im Endspiel die Kräfte der Italiener aufgrund des Jahrhundertspiels nachließen, schoss Brasilien das perfekte Tor: beim Angriff zum 4:1-Endstand hatten alle zehn Feldspieler den Ball mindestens ein Mal am Fuß.
- Auch wenn sich die ganze Welt auf das strahlende Comeback von Pele stürzte, der stärkste aller starken Brasilianer trug die Nummer 9 und hieß Tostao. Selten gab es einen Spieler, der so oft die richtige Lösung fand. 32 Tore in 54 Länderspielen, dazu über 40 Assists. Bei der WM war Tostao gerade mal 24 Jahre alt und galt als legitimer Nachfolger von Pele. Dummerweise bekam er kurz darauf einen Ball so unglücklich ins Gesicht, dass sich bei einem Auge die Hornhaut zu lösen begann. Eine Erblindung drohte, die Ärzte bekamen die Sache nicht in den Griff. So musste Tostao mit nur 26 Jahren seine Karriere beenden.
- Hennes Weisweiler erklärte in seinem WM-Buch die Viererkette für tot. Die Zukunft gehöre einzig und allein dem System mit Libero. Für die nächsten zwanzig Jahre sollte Weisweiler recht behalten. Dann kam die Viererkette für 20 Jahre wieder zurück. Schaut man auf einige Anzeichen, etwa bei Chelsea, Juventus oder dem Bayern-System im DFB-Pokalfinale, könnte sich die These erhärten, dass auch die Fußballgeschichte wie eine Sinuskurve verläuft. Alles kommt wieder nach oben. Was war Guardiolas Dreierkette mit Martinez als Mittelsmann denn anderes, als die moderne Version des klassischen Ausputzers a la Willi Schulz?
- Apropos Willi Schulz: Der erwies sich als echter Turnbeutelvergesser. Das Spiel um Platz drei sollte das letzte Länderspiel des verdienten Abwehrrecken werden. Wurde nichts draus. Schulz hatte seine Fußballschuhe aus Versehen im Hotelzimmer liegen lassen und nicht mit eingepackt.
- Das Jahrhundertspiel blieb also der letzte Auftritt von Schulz für Deutschland. Auch den hätte es besser nicht gegeben. Nach der kräftezehrenden Partie gegen England hatte Helmut Schön rotiert. Schulz kam für den zuvor bärenstarken Klaus Fichtel in die Mannschaft. Zudem lag Bernd Patzke dem Bundestrainer Helmut Schön in den Ohren, dass er Italiens Regisseur Domenghini bereits im Europapokal ausgeschaltet habe. Schulz und Patzke: zwei Personalmaßnahmen, die sich gegen Italien als wirkungslos bis kontraproduktiv erwiesen.
- Bis heute hält sich in England hartnäckig die These, Trainer Alf Ramsey habe das Ausscheiden gegen Deutschland verbockt, indem er beim Spielstand von 2:0 Bobby Charlton zur Schonung fürs Halbfinale auswechselte. Sie gewinnen damit gegen fast jeden Engländer eine Wette - denn das ist falsch. Beim Anschlusstreffer von Beckenbauer stand Charlton noch auf dem Platz - während des Spielzugs keuchend mit Händen in den Hüften. Ramsey nahm den völlig entkräfteten Spielmacher noch vor dem Wiederanstoß runter. Charltons Ersatzmann Colin Bell war ab da der beste Engländer. Charlton übrigens verfolgte die dramatische Verlängerung Zigarette rauchend auf der Bank.