Am 12. Juni beginnt die WM 2014 in Brasilien. GO!Brasil-Experte Uwe Morawe blickt für SPOX in 19 gewohnt launigen Kolumnen auf die WM-Geschichte zurück. Folge 11, die WM 1978 in Argentinien: Cesar Luis Menotti wollte den Titel im eigenen Land, der Diktatur aber dennoch kein Aushängeschild sein. So griff der Trainer auf ungewöhnliche Maßnahmen zurück.
spoxAbpfiff, ein einziges Jubelmeer in Weißhellblau. Sie hatten es tatsächlich geschafft, Argentinien war Weltmeister! Cesar Luis Menotti hasste Massenaufläufe, das archaische Gedränge und Geschiebe. Am liebsten wäre der Trainer des neuen Weltmeisters wie zwölf Jahre später Franz Beckenbauer alleine über den Rasen stolziert. Menotti liebte die großen Posen. Doch dieses mal ließ er sich gerne treiben in der Menge. Wenn er gewollt hätte, es wäre ihm ein leichtes gewesen, sich bis zum Podium durchzukämpfen. Dort standen hinter dem Pokal die neuen Machthaber. Menotti gab sich jedoch den Umarmungen der auf den Platz stürmenden Fans hin. Cesar Luis Menotti besaß dadurch die perfekte Ausrede, Diktator Jorge Rafael Videla den Handschlag zu verweigern.
Seit 1974 war Menotti Trainer der argentinischen Nationalmannschaft. Mit gerade 35 Jahren wurde ihm das Amt übertragen. Völliger Neuaufbau für die WM im eigenen Land. Damals herrschte in Argentinien noch eine Demokratie; eine schlecht funktionierende, aber immerhin. Fußballerisch lag das Land am Boden. Argentinien war seit der allerersten Weltmeisterschaft 1930 nicht mehr über das Viertelfinale hinausgekommen. Na, dann frisch ans Werk, Herr Menotti! Wir haben mit Interesse verfolgt, wie sie den kleinen Verein Huracan überraschend zur Meisterschaft führten. Wir erwarten dasselbe nun bei der Nationalmannschaft.
Menottis Fußball das Gegenteil zum Militär
Als im März 1976 das Militär putschte, wurde aus dem wir erwarten ein wir verlangen. Menotti war selbst verwundert, dass er bleiben durfte. Er, der bei Amtsantritt über den "linken Fußball" als Spielphilosophie doziert hatte. Schönheit und Ästhetik, flache Hierarchien, Verantwortung auf möglichst viele Schultern verteilt. Sein Ansatz war das komplette Gegenteil des straffen Befehl und Gehorsam beim Militär. Sein Auftreten bewusst intellektuell. Menotti sprach über Sartre und hielt dabei die Zigarette wie Belmondo in den Filmen der Nouvelle Vague.
Wahrscheinlich fürchtete das Regime die Wirkung im Ausland, wenn sie solch einen Mann entlassen würden. Absagen, gerade aus sozialistischen Ländern, galt es zu vermeiden. Nach außen gab man den toleranten WM-Gastgeber, nach innen hieß es: Knüppel aus dem Sack. Dem Nationaltrainer wurde vermittelt, dass für Argentinien nur der Titelgewinn zähle. Sollte er scheitern, werde man sehen, wie es weitergehe. Das mit Sartre ließ Menotti vorerst besser sein. Subtilere Methoden waren gefragt, wollte er der normalen Bevölkerung Zeichen geben, dass er keineswegs im zackigen Takt der neuen Ordensträger marschierte.
Kempes als einziger Ausländer
Menotti verzichtete vor der WM demonstrativ auf Profis, die im Ausland engagiert waren. Die kleine Ausnahme hieß Mario Kempes, der 1977 zum FC Valencia gewechselt war. Denn fußballerisch war Kempes die große Ausnahme im argentinischen Kader, der ansonsten fast nur aus Kämpfern und Rennern bestand. Menotti geriet in einen Zwiespalt. Einerseits musste Kempes als Spielerpersönlichkeit gestärkt und herausgehoben werden, wollte er mit dieser Mannschaft irgendeine Chance auf den Weltmeistertitel haben. Andererseits wollte Menotti den Kollektivgedanken betonen, damit die rechte Diktatur keinen Ansatz für ihren beliebten Personenkult findet.
Heureka, Menotti hatte eine geniale Idee: die Macht des Alphabets!
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Bei der Benennung des vorläufigen Kaders drei Wochen vor Turnierbeginn ließ der argentinische Fußballtrainer aufhorchen. Egal, welche drei Fußballer noch gestrichen würden, die 22 endgültigen Spieler werden auf jeden Fall strikt alphabetisch durchnummeriert. Das Alphabet, die Grundlage des menschlichen Intellekts. Buchstaben, die kleinsten Bestandteile der Gedanken- und Meinungsfreiheit.
Nur wer scharfen Verstand besaß, erkannte die oppositionelle Sprengkraft dieser kleinen Maßnahme gegenüber der Militärdiktatur. Nix da Führerprinzip und Delegierung von Aufgaben. Torhüter die 1, Spielmacher die 10, Mittelstürmer die 9, und so weiter - drauf geschissen! Nummernwahl nicht nach Position oder Funktion. Das Alphabet ist das fette Ding!
Aus "Zufall" die Nummer 10
Zu seinem Glück gehören Machthaber in Uniform selten zu den feinnervigen Menschen. Die Offiziere hatten Menottis provokativen Zahlencode nicht entziffert. Nun galt es, das Meisterstück abzuliefern. Cesar Luis Menotti strich die drei restlichen Spieler: den 17jährigen Maradona, für den das Turnier noch zu früh kam, sowie Humberto Bravo und Victor Bottaniz. Menotti streicht zwei "B" und zieht damit das Kaninchen aus dem Zylinder! Von Zauberhand steht Mario Kempes, der Hoffnungsträger, die Ausnahme unter den Gleichen, exakt an zehnter Stelle der alphabetischen Reihenfolge im Kader. Kempes ist die 10!
Die armen Bottaniz und Bravo! Geopfert auf dem Altar des Weltmeistertitels wegen ihres Anfangsbuchstabens.
Reden wir nicht drumrum: diese argentinische Mannschaft von 1978 ist die wohl durchschnittlichste Elf unter allen Weltmeisterteams. Sie benötigten Glück in Spielverläufen, anrüchige Schiedsrichterentscheidungen und einen überragenden Mario Kempes mit der beflügelnden 10 auf dem Rücken. Vielleicht ist das 6:0 gegen Peru sogar durch die Junta geschmiert worden (Beweise gibt es bis heute nicht), doch sie dürfen sich mit Recht Weltmeister nennen. Weil sie in schrecklichen Zeiten zur rechten Zeit einen intelligenten Trainer besaßen: Cesar Luis Menotti.
Nachtrag
Kurz nach der WM lehnte sich Menotti mit dem Erfolg im Rücken schon offener aus dem Fenster: "Meine Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt!" Fraglich, ob die Militärs das tatsächlich noch rein auf den Fußball bezogen auffassen konnten. 1983 brach ihre Herrschaft unter Demonstrationen der Bevölkerung zusammen. Es stellte sich heraus, dass der größte Folterkeller des Regimes nur einen Kilometer vom Endspielstadion entfernt war. Die geschundenen Oppositionellen hatten während der WM-Spiele den Jubel aus der Arena gehört. Es ist alles andere als unwahrscheinlich, dass Menotti dort gelandet wäre, hätte er nicht den WM-Titel errungen.
was sonst noch wichtig war
- Entgegen der geläufigen Meinung ist Franz Beckenbauer nie aus der Nationalmannschaft zurückgetreten. Dass seine Länderspielkarriere mit dem Wechsel zu Cosmos New York praktisch beendet war, lag an einer Auflage von DFB-Präsident Hermann Neuberger. Der hatte verfügt, dass im Ausland tätige Profis nicht berufen werden dürfen, jawoll! Neben Beckenbauer betraf dieses Statut vor allem Uli Stielike von Real Madrid. Der ist heute noch sauer wegen der verpassten WM. In Ermangelung von Alternativen spielte Manfred Kaltz Libero.
- Dennoch stellte Sepp Maier in diesem missglückten deutschen Turnier einen damals gültigen Rekord auf. Er wurde erst im fünften Spiel bezwungen. Eine längere Serie von Turnierbeginn bis zum ersten Gegentor gelang nur dem Italiener Walter Zenga 1990
- Die Funktionäre schlugen auch bei der Schmach von Cordoba zu. Nach dem 2:3 gegen Österreich ermahnten sie noch in der Kabine die Spieler, an den Krawattenzwang bei der Heimreise zu denken. Bernd Hölzenbein, dem besten deutschen Spieler im Turnier, platzte der Kragen und er erklärte seinen Rücktritt. Dumm auch, dass von allen unbemerkt ein Platz im Bus unbesetzt geblieben war. Rolf Rüssmann, den unglücklichen Gegenspieler von Hans Krankl, hatte man einfach vergessen. Rüssmann war zur Dopingprobe ausgelost worden und blickte beim Verlassen der Katakomben auf einen leeren Parkplatz. Zu seinem Glück lief ihm ZDF-Reporter Rolf Kramer über den Weg. Kramer fuhr Rüssmann die 100 km von Cordoba ins deutsche Lager Ascochinga
- Dieses Ascochinga, übersetzt "toter Hund", machte seinem Namen alle Ehre und stellte gar Malente noch in den Schatten. Ein Erholungsheim der argentinischen Luftwaffe mitten in der Pampa. Ein Ort mit nicht einmal 200 Einwohnern. Auf dem kasernenartigen Gelände gab es für den gesamten Tross des DFB nur ein einziges Gemeinschaftstelefon - mit Gebührenzähler. Die Telefonkosten der einzelnen Spieler wurden genau vermerkt und von den Spesen abgezogen. Bei solchen Rahmenbedingungen verliert man sogar gegen Österreich.
- Zumal die eine Topmannschaft besaßen. In der Rückschau betrachtet war der berühmte Kommentar von Edi Finger kontraproduktiv für den österreichischen Fußball, weil er das Ergebnis als komplette Sensation hinstellte. War es doch gar nicht. Österreich hatte in Torwart Koncilia, Libero Pezzey und Torjäger Krankl drei absolute Weltklasseleute in den Reihen, dazu weitere exzellente Fußballer wie Prohaska, Jara oder Kreuz. Mit dieser Mannschaft hatte Österreich in der Gruppe die Spanier geschlagen und war noch vor Brasilien Gruppenerster geworden.
- Für Freude bei den weiblichen Zuschauern sorgte die neue Hosenmode. Hot Pants sage ich nur. Der Preis für die knappsten Höschen der WM-Geschichte geht unangefochten an Argentiniens Leopoldo Luque. Dass dem nicht bei jedem Schritt links oder rechts was rausgequollen ist, ein Wunderwerk der Schneiderkunst.
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