Die KO-Runde in Brasilien ist in vollem Gange. GO!Brasil-Experte Uwe Morawe blickt für SPOX in 19 gewohnt launigen Kolumnen auf die WM-Geschichte zurück. Folge 12, die WM 1982 in Spanien: Das Zeichen des Linienrichters. Er war dran. Als Sechster und hoffentlich Letzter. Horst Hrubesch hatte sich nicht vorgedrängelt. Hatte er nie getan, der oft belächelte Spätstarter Hrubesch.
spoxDie fünf Elfmeterschützen nach den 120 dramatischen Minuten von Sevilla waren schnell gefunden. Ihn hatte Derwall gar nicht erst gefragt. Schublade Kopfballungeheuer, technisch limitiert. War ihm egal, was die anderen redeten, er schoss seine Tore und gut.
Dribbelkönig Littbarski, Superstürmer Rummenigge, Elfmetermaschine Kaltz und die Führungsspieler Stielike und Breitner. Diese fünf waren gesetzt. Stielike hatte verschossen, die Franzosen Six und Bossis auch. As es darum ging, sich jetzt der Verantwortung zu stellen, waren die anderen nach hinten getrippelt. Er, Hrubesch, war stehen geblieben, ein Baum von einem Mann. Er war dran. 40 Meter bis zum Ball, ein Schuss und Deutschland stünde im Endspiel der WM 1982. Horst Hrubesch machte sich auf den Weg.
Von der sechsten Liga in deutsche Elf
Wie jedem anderen kleinen Burschen der 50/60er Jahre waren auch Horst Hrubesch die Nachwehen des Wunders von Bern in die Wertematrix eingeschrieben. Jeder noch so kleine Jugendturniersieg in Hamm und Umgebung umwehte die Aura von Herberger, Fritz Walter oder Uwe Seeler. Elf Freunde müsst ihr sein. Erst die mannschaftliche Geschlossenheit, dann der Erfolg. Mit 24 Jahren noch hatte Hrubesch beim SC Westtünnen in der 6.Liga gekickt. Dann der erste Profivertrag bei Rot-Weiß Essen, wo Willi Lippens anfangs glaubte, sein Name wäre Horst Rehbusch. Weiter ging's zum HSV, mit dem er Deutscher Meister wurde. Immer hatte der Mannschaftsgedanke für Hrubesch an erster Stelle gestanden. Mit 29 Jahren gab er als einer der ältesten Spieler aller Zeiten sein Debüt für Deutschland.
Im fünften Länderspiel hatte Hrubesch seine ersten beiden Tore erzielt. Im EM-Finale gegen Belgien. Andere hätten sich für diese Leistung abfeiern lassen, Werbeverträge abgeschlossen: "Wie ich Deutschland zum Titel köpfte". So etwas war Hrubesch fremd. Er hatte seinen Job als Torjäger erledigt und Punkt. Sein selbstverständlicher Beitrag zur Mannschaftsleistung, warum darum Aufhebens machen? Lange hatte Hrubesch geglaubt, alle anderen dächten genauso wie er. So lange, bis er Paul Breitner kennenlernte.
Breitner-Comeback im Zentrum
Die am Ende völlig verkorkste WM 1982 begann für Deutschland genau genommen bereits ein Jahr zuvor. Eine neue Generation um den überragenden Bernd Schuster war auf begeisternde Weise Europameister geworden. Die Gelegenheit für Paul Breitner, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Breitner hatte seit 1975 kein Länderspiel mehr bestritten, zeigte nun aber Interesse, bei der hochtalentierten Truppe mitzumachen. Selbstverständlich nicht mehr als Linksverteidiger sondern als Chef im Mittelfeld. In dieser Rolle hatte Breitner die Bayern zurück an die Spitze gebracht. Kapitän Rummenigge und die Boulevardzeitungen wusste Breitner auf seiner Seite - kein anderer Spieler lieferte so viele Schlagzeilen wie er. Und der führungsschwache Jupp Derwall würde gegen die öffentliche Meinung eh nichts unternehmen.
Eine Win-Win-Situation schien gegeben, ein tolles Team würde durch einen gestandenen Leader noch besser. Mit Offensive pur wollte Deutschland zum Titel stürmen. Im zweiten Länderspiel nach seinem Comeback im Mai 1981 gegen Brasilien sah das deutsche Mittelfeld wie folgt aus: Schuster-Breitner-Magath-Hansi Müller. Was für eine Power auf dem Weg nach vorne! Dummerweise beanspruchte jeder die Chefrolle, vor allem der alte Neue. Als es Elfmeter gab, schnappte sich Breitner das Leder. Und verschoss. Der Schiedsrichter ließ gnädigerweise den Elfer wiederholen. Wieder ließ Breitner keinen anderen ran und verschoss ein zweites Mal!
Deutschland verlor das Spiel mit 1:2. Ein starker Trainer hätte das Experiment Breitner nach dessen Egotrip vielleicht wieder beendet. Derwall war kein starker Trainer. Nicht Breitner, sondern Bernd Schuster wurde als Sündenbock auserkoren. Der musste nach einem Tritt von Andoni Goikoetxea verletzt miterleben, wie Breitner im Vorfeld der WM die öffentliche Meinung gegen ihn und seine Frau Gabi anheizte. Schuster - eh ein introvertierter Typ - reagierte trotzköpfig und geriet in die Isolation. In ihrer Karriere standen Schuster und Breitner exakt 135 Minuten gemeinsam auf dem Platz.
Der Plan Breitners ging auf. Wäre Schuster im Team geblieben, hätte Breitner für ihn arbeiten müssen, ganz einfach weil Schuster der bessere Fußballer war. So wurde Breitner unumstrittener Anführer und Vorzeigefigur. Für 150 000 DM ließ er sich vor der WM den Bart stutzen, um für ein Rasierwasser Werbung zu machen. Dann beeinflusste er tiefgreifend die Aufstellung. Zwölf Monate nach seinem Comeback bestand das Mittelfeld der Deutschen nicht mehr aus vier grandiosen Technikern. Nein: die biederen Handwerker Dremmler und Bernd Förster reichten dem Vorarbeiter Paul Breitner die Kelle.
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Der beste Kader aller Zeiten
Dabei hätte es eine triumphale WM für Deutschland werden können. Zum wohl einzigen Mal besaß man auf jeder, wirklich jeder Position absolute Weltklasseleute. Schaut man auf diesen Kader, bleibt einem die Spucke weg. Karl-Heinz Förster, das defensive Nonplusultra. Oder was gäbe man heute für die Außenverteidiger Kaltz und Briegel? Topleute wie Augenthaler, Jakobs, Allgöwer, Völler, Dieter Hoeneß oder Klaus Allofs schafften es nicht einmal in die Gruppe der 22.
Viele starke Charaktere bildeten einen bemerkenswert charakterlosen Haufen. Schon die Vorbereitung am Schluchsee inmitten von Schwarzwaldtouristen geriet zu einer einzigen Sauftour wie am Vatertag. Die Führungsspieler um Breitner spielten jede Nacht Poker bis zum Morgengrauen. Einige verzockten ihre gesamte WM-Prämie und mehr. Breitner mit seiner bewundernswerten Konstitution stand um 9 Uhr morgens wieder topfit auf dem Platz, die anderen hatten Pelz auf der Zunge und atmeten schwer.
Die vom Potenzial her beste deutsche Mannschaft aller Zeiten lieferte ein katastrophales Gesamtbild ab, dass über zwei Jahrzehnte die Sichtweise prägen sollte. Kraftvoll, aber unattraktiv und hölzern, willensstark, aber auch mit unverdientem Glück gesegnet, das ist Deutschland. Zum Turnierauftakt die peinliche 1:2-Niederlage gegen Algerien. Nie sah man Deutschland so arrogant: Derwall hatte auf jegliche Spielvorbereitung verzichtet und im Vorfeld getönt, dass seine Spieler ihn für doof erklären würden, wenn er ihnen etwas über einen dermaßen schwachen Gegner wie Algerien erzählen wolle. Das dritte Gruppenspiel dann der Nichtangriffspakt von Gijon gegen Österreich, ein Tiefpunkt der Länderspielgeschichte. In der Zwischenrunde das todlangweilige 0:0 gegen England und ein schmuckloses 2:1 gegen Gastgeber Spanien. Dazu war Kapitän Rummenigge angeschlagen und kam nicht in Topform.
Das Halbfinale gegen Frankreich hätte die angeknackste Reputation zum Großteil wieder herstellen können. Eines der größten Spiele der Historie. Selbst dieser zerstrittene Haufen hatte sich zusammengerissen und gegen brillante Franzosen Widerstand geleistet. Comeback in der Verlängerung nach 1:3-Rückstand! Doch diese heroische Leistung wurde überschattet vom brutalen Foul von Schumacher gegen Battiston. Statt sich um den Schwerverletzten zu kümmern, hatte sich der Toni minutenlang provozierend die Alustollen am Pfosten abgeklopft...
Meditation auf westfälisch
Der ganze Murks dieser WM hätte Horst Hrubesch durch den Kopf gehen können, als er sich auf den Weg machte. Doch Hrubesch blendete alles aus - das hatte er als Angler gelernt. Meditation auf westfälisch. Hrubesch hatte sich die letzten zwölf Monate aus allen Reibereien rausgehalten, weil er im Gegensatz zum HSV in der Nationalmannschaft keine Lobby hatte. Nun galt es, einen Job zu erledigen. Noch knapp zwei Meter bis zum Elfmeterpunkt, der Schiedsrichter hatte den Ball mittig auf die Kreide gelegt. Was sollte er da noch groß rumfummeln und rummachen? Hrubesch nickte kurz, stoppte ab und ging zwei Schritte zurück.
Er hatte die Kugel nicht berührt und zurechtgerückt. Versuchen Sie mal, einen Elfmeter zu schießen, ohne vorher mit den Händen Kontakt zum Ball aufzunehmen! Da sträubt sich doch alles! Der Elfmeter, mit dem Horst Hrubesch Deutschland ins Finale der WM 1982 schießt, ist so ziemlich das Coolste, was es je im Fußball zu sehen gab!
Doch auf solche Kleinigkeiten achtete keiner mehr, nachdem die deutsche Mannschaft bei dieser WM sämtliche Sympathien verspielt hatte. Dieses Team hatte mit seinem Auftreten nahezu Unmögliches bewirkt: drei Tage später hielt beim Finale die ganze Fußballwelt zu Italien.
Was sonst noch wichtig war:
- Weltmeister wurde Italien, das ohne Sieg die Vorrunde überstand. Drei Unentschieden reichten zum Weiterkommen. Torschützenkönig wurde Paolo Rossi, der in diesen drei ersten Partien gänzlich leer ausgegangen war. Rossi fehlte die Spielpraxis, da er gerade erst eine zweijährigen Sperre wegen Spielmanipulation abgesessen hatte. Zum Zeitpunkt der WM war Rossi 25 Jahre alt, wohnte aber immer noch bei Mutti.
- Im Gegensatz dazu steht der wohl am ältesten aussehende 18-Jährige aller Zeiten: Guiseppe Bergomi. Mit Locken und Schnäuzer wirkte der Youngster wie ein Teppichhändler in den Mittvierzigern. Heute sieht Bergomi jünger aus als er selbst mit 18.
- Danke an die nordirischen Fans! Was heute als das Normalste der Welt erscheint, erblickte man erstmals bei dieser WM im Fanblock der Nordiren. Alle hatten grüne Trikots an! Schon seltsam, dass vorher nie jemand drauf gekommen war. Zuvor ging man mit Fähnchen, einem bunten Hut oder einem Transparent ("Erkelenz grüsst den Weltmeister Deutschland!") ins Stadion. Ein ganzer Block mit Trikots: das war neu und machte Schule.
- Zu bejubeln hatten die Nordiren auch etwas. Norman Whiteside löste mit 17 Jahren und 41 Tagen Pele als jüngster Spieler der WM-Geschichte ab.
- Kuwaits Scheich al Shabah gelang, wovon so mancher Spieler träumt. Nachdem Giresse das 4:1 gegen sein Land erzielt hatte, stürmte das Staatsoberhaupt Kuwaits auf den Rasen und forderte die Annullierung des Treffers, weil angeblich ein Pfiff ertönt sei. Al Shabah unterstrich seine Ansicht mit der Drohung, das Spiel ansonsten abzubrechen. Dem sowjetischen Schiedsrichter Stupar schien's irgendwann egal, ob 3:1 oder 4:1. Er nahm unglaublicherweise das Tor zurück, der Scheich war beruhigt. Die Debatte hatte eine Viertelstunde gedauert: 60 Sekunden nach Wiederaufnahme der Partie erzielte Bossis das 4:1 für Frankreich. Schiedsrichter Stupar durfte anschließend keine internationalen Spiele mehr leiten.