Das russische Nationalteam vor dem Confed Cup: Stanislavs Himmelfahrtskommando

Nino Duit
05. Dezember 201716:48
Seit Sommer 2016 trainiert Stanislav Cherchesov die russische Nationalmannschaftgetty
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Ein Jahr vor der Heim-WM glaubt in Russland keiner an das eigene Nationalteam - außer die Verbands-Funktionäre, die großspurig eine Halbfinal-Teilnahme fordern. Kümmern muss sich um diese explosive Gemengelage Trainer Stanislav Cherchesov, der jüngeren, unverbrauchten Spielern vertraut und einen schnörkellosen Fußball britischer Prägung spielen lässt. Am Samstag startet Russland gegen Neuseeland in den Confed Cup (17 Uhr im LIVETICKER).

"Bei der WM?", fragt der russische Sportjournalist und Nationalteam-Experte Ilya Sokolov im Gespräch mit SPOX sicherheitshalber noch einmal nach, angesprochen darauf, ob er die Verbands-Vorgabe "Minimalziel Halbfinale" denn als realistisch einstufe. Ja, bei der WM, nicht beim Confed Cup.

Sokolov räuspert sich kurz und sagt: "Wenn wir Schiedsrichter bekommen wie die Südkoreaner 2002, dann vielleicht." Nicht ganz ernst meint er das, klar. Sokolov rechnet jedenfalls nicht mit einem Halbfinaleinzug seiner Nation, eher mit dem Achtel-, bestenfalls dem Viertelfinale.

Seine Einschätzung spiegelt die aktuelle Atmosphäre in Russland wider, denn erwartet wird von der Sbornaja nichts mehr. Vor sieben Jahren war das noch anders: Als Russland 2010 die WM-Austragung 2018 zugesichert bekam, wartete reichlich Vorbereitungszeit. Geholt wurde bald ein renommierter Nationaltrainer, Fabio Capello, der für Aufbruchsstimmung sorgen sollte - und anfangs tatsächlich auch dafür sorgte. Russland qualifizierte sich souverän für die WM 2014, scheiterte dort aber bereits in der Vorrunde.

Als die Teilnahme an der folgenden EM in Gefahr geriet, trennte sich der Verband von Capello und holte die nationale Trainer-Ikone Leonid Slutsky. Unter seiner Führung qualifizierte sich Russland zwar für die EM, gab in Frankreich aber ein desaströses Bild ab - Spieler auf, gewalttätige Hooligans neben dem Platz.

Slutsky trat dann zurück, knapp eine Million Menschen unterzeichneten eine Witz-Petition, die die Auflösung des Nationalteams forderte, und ein Mann mit Glatze und Schnauzer einen Vertrag, der die Umsetzung eines Himmelfahrtskommandos forderte. Stanislav Salamovich Cherchesov heißt der Mann mit Glatze und Schnauzer und das Himmelfahrtskommando sprach Igor Lebedev, Vorstandmitglied des nationalen Verbandes, aus: "Das Minimalziel ist das Halbfinale bei der Heim-WM 2018."

Mit Hang zur Gleichgültigkeit

Lebedev hat in der Zwischenzeit offiziell die Einführung einer neuen Sportart, den Hooliganismus, vorgeschlagen. Als Mannschaftswettbewerb mit je 20 Mann stelle er sich das vor und ließ in Hinblick auf die Gäste-Fans der anstehenden WM verlauten: "Lasst uns zu einer bestimmten Zeit am Stadion treffen. Sie können sich mit den Regeln auf unserem Platz vertraut machen." Cherchesov begann unterdessen, sich um sein Himmelfahrtskommando zu kümmern: WM-Halbfinale 2018. Mindestens.

Seit Sommer 2016 trainiert Stanislav Cherchesov die russische NationalmannschaftgettyÜberrascht sei er nicht gewesen, dass Cherchesov neuer Nationaltrainer wurde, sagt Sokolov und schlecht findet er die Entscheidung übrigens auch nicht. Cherchesov habe nämlich eine Eigenschaft, die in der aktuellen Situation nicht gänzlich unbrauchbar ist: Hang zur Gleichgültigkeit. "Er wirkt wie jemand, dem Druck völlig egal ist", sagt Sokolov und erzählt eine Anekdote von Cherchesovs Zeit in Polen.

Nach einigen relativ kurzzeitigen und eher erfolglosen Engagements in der russischen Heimat bei Spartak Moskau, Zhemchuzhina, Terek Grozny, Amkar Perm und Dinamo Moskau unterschrieb Cherchesov im Oktober 2015 bei Legia Warschau. Ein Russe in Polen, das ist durchaus heikel. "Anfangs haben die Leute Witze über ihn gemacht", erzählt Sokolov, "aber das war ihm schlicht und einfach egal." Acht Monate später hat Cherchesov das Double gewonnen und ist zum russischen Verband gewechselt.

Igor und die Unverbrauchten

Was er dort vorfand, war eine überalterte, demotivierte, ausgelaugte Mannschaft mit negativer Vergangenheit, ohne Zukunft und erstaunlicherweise auch ohne Sergei Ignashevich und Vasili Berezutski. Die beiden ewigen Innenverteidiger haben nach der EM ihre Karrieren beendet und somit eine der drei bewährten Panini-Sammler-Regeln gebrochen (die Päckchen werden von Turnier zu Turnier teurer, die Anzahl der Sticker größer, Ignashevich und Berezutski sind immer dabei).

Wobei: "Vielleicht kehrt Berezutski noch einmal zurück", sagt Sokolov, aber er glaubt es eher nicht: "Es scheint, als ob Cherchesov jüngeren, unbekannteren Verteidigern vertraut." Diese Aussage ließe sich auf alle Positionen ausweiten, außer auf die des Tormanns. Nur sieben Spieler im Confed-Cup-Kader haben bereits über 15 Länderspiele absolviert, Kapitän Igor Akinfeev dagegen bereits 98.

Er ist weiterhin absoluter Führungsspieler und Leistungsträger zugleich - und nicht so alt, wie man meinen will: 31, erst. Erstmals in seiner Karriere als russischer Nationalspieler hat Akinfeev nun Verteidiger vor sich, die jünger sind als er, zumindest etwas. Die beiden 23-jährigen Giorgi Jikia und Ilya Kutepov vom Meister Spartak oder Fedor Kudryashov (30, Rostov). Sie sind keine Talente mehr, aber doch aufstrebende Spieler. Unverbrauchte, motivierte Spieler.

Fehler im System

Im russischen Kader der EM 2016 standen Jikia, Kutepov und Kudryashov jedenfalls nicht, anders etwa als der damals überstürzt eingebürgerte Deutsch-Russe Roman Neustädter, der bisher enttäuschte. "Cherchesov plant ihn künftig eher nicht für die Startelf ein", sagt Journalist Sokolov. Fest eingeplant ist beim Trainer dagegen die Dreierkette in der Abwehr und Denis Glushakov im Mittelfeld. "Ein Leader und das Verbindungsglied zwischen Abwehr und Angriff", lobt Sokolov.

Auch Glushakov ist bereits 30 Jahre alt - und hat wie beinahe alle seine Teamkollegen noch nie im Ausland gespielt. Neustädter von Fenerbahce Istanbul ist der einzige Legionär im Confed-Cup-Kader. Das hat einen einfachen Grund: Wegen einer Ausländer-Begrenzung balgen sich die großen russischen Vereine um die besten Russen. Und locken sie deshalb mit Gehältern, die sie im Ausland nicht bekommen würden. "Dieses System macht die Spieler selbstzufrieden und sorgt für Stagnation", sagt Sokolov.

Die Inkarnation dieses Systems ist wohl Alexander Kokorin. Anfang des Jahrzehnts machte der junge Stürmer von Dinamo Moskau mit vielen Toren und starker Technik auf sich aufmerksam. Statt sich aber dann dem interessierten FC Arsenal anzuschließen, wechselte er 2015 lieber zu Zenit St. Petersburg. "Ein Klub, der gute Spieler traditionell eher schlechter macht", sagt Sokolov. Für Aufsehen sorgte Kokorin letztmals mit einer wilden Part-Nacht nach der EM-Blamage.

Das beste Team für das Freundschafts-Turnier

Kokorin steht nun nicht einmal im Kader für den Confed Cup, dafür die neuen russischen Offensiv-Hoffnungsträger Aleksey Miranchuk (21, Lokomotiv) und Aleksandr Golovin (21, ZSKA). "Von ihnen hängt viel ab, denn sie sind für die kreativen Momente zuständig", sagt Sokolov, "und sie wollen die Bühne Confed Cup nutzen, um sich zu präsentieren." Für einen Wechsel ins Ausland.

Mit einem Auslands-Wechsel, zu Borussia Dortmund gar, wurde auch schon Fedor Smolov in Verbindung gebracht. Der 27-jährige Stürmer von Krasnodar ist amtierender Torschützenkönig der russischen Premier Liga. Selbstverständlich steht er im Confed-Cup-Kader, anders als etwa Deutschland startet Russland nämlich mit der bestmöglichen Mannschaft.

Einerseits weil mangels Pflichtspielen echte Bewährungsproben rar sind, andererseits weil das Turnier im eigenen Land wichtig wirken soll. Wirklich aufzugehen scheint dieser Plan jedoch eher nicht. "Die Leute berührt der Confed Cup wenig", sagt Sokolov, "er wird als Freundschafts-Turnier aufgefasst und die Nachfrage nach Tickets ist dementsprechend gering, auch weil die Eintrittspreise zu teuer sind." Mit vollen Stadien sei trotzdem zu rechnen, erklärt Sokolov, "weil etliche Leute über den Verband Frei-Tickets bekommen werden".

In den großen Städten und an wichtigen Reise-Knotenpunkten wird derweil versucht, dem Turnier Präsenz zu verleihen. Wegweiser und Infoschilder werden zunehmend auch in Englisch übersetzt, berichtet Sokolov, und auch das Confed-Cup-Logo gäbe es hier und da zu sehen.

Cherchesov, Löw und die Spanier

Die Mannschaft hat von alldem jedoch bisher recht wenig mitbekommen, sie hat sich in Tirol auf das Turnier vorbereitet. In den österreichischen Alpen gibt es zwar keine Confed-Cup-Logos, dafür aber alte Bekannte von Cherchesov. 2004 hat er beim FC Kufstein seine Trainerkarriere begonnen, als aktiver Fußballer spielte der Tormann zuvor (unter anderem nach einem Engagement bei Dynamo Dresden) für den FC Tirol Innsbruck.

Sein damaliger Trainer hieß Joachim Löw, von dem er sich in fußballphilosophischer Hinsicht jedoch tendenziell nichts abgeschaut hat. Cherchesovs Vorbilder sind nicht auf der iberischen Halbinsel, sondern einer nordatlantischen Inselgruppe beheimatet. "Cherchesov lässt schnörkellosen Fußball britischer Prägung spielen mit breiten Flügelspielern und vielen Flanken", sagt Sokolov. Das war schon bei den bisherigen neun Freundschaftsspiele Russlands unter seiner Regie (drei Siege, drei Remis, drei Niederlagen) zu erkennen. Ein Faible hat er darüber hinaus für Standardsituationen, die er akribisch einüben lässt.

Am meisten Wert legt er aber auf einen angemessenen Fitness-Zustand seines Teams. "Cherchesov weiß, wie man eine Mannschaft in eine entsprechende physische Verfassung bringt", sagt Sokolov. In dieser Hinsicht erinnere er ihn an Guus Hiddink, der als Trainer für das bis dato letzte Highlight eines russischen Nationalteams verantwortlich war: die Halbfinalteilnahme bei der EM 2008.

Den Titel gewannen damals letztlich die Spanier, die während des Turniers auf dem Fußballplatz des Tiroler Örtchens Neustift übten, der später zu ihren Ehren in "Estadio Espana" umbenannt wurde. Eben dort bereiteten sich nun die Russen auf den Confed Cup vor. Statt Tiki-Taka wurde aber wohl vorrangig Kondition trainiert. Cherchesov weiß seine Mannschaft richtig einzuschätzen - und Journalist Sokolov weiß Trainer Cherchesov zu schätzen: "Wir brauchen derzeit nicht unbedingt eine kluge Taktik, sondern einfach jemanden, der unser durchschnittliches Team mehr laufen lässt als das gegnerische."

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