Kurz nachdem die argentinischen Nationalspieler in Russland gelandet waren und hastig die wichtigsten Flughafen-Selfies geschossen hatten, erklärte der argentinische Botschafter Ricardo Lagorio vor Ort stolz: "Die Auswahl hat alle für Argentinien traditionellen Lebensmittel mitgebracht: Rindfleisch, Schweinefleisch, Dulce de leche, Mate und vieles mehr. Insgesamt sind das ungefähr drei Tonnen Lebensmittel."
Genug Material für die Versorgung außerhalb des Platzes war also im Flugzeug, aber auch genug für die Versorgung auf dem Platz: Argentinien reiste mit kiloweise qualitativ hochwertigen Zutaten für das Offensivspiel an. Lionel Messi, Paulo Dybala, Sergio Agüero, Gonzalo Higuain, Angel Di Maria, Christian Pavon - und das, obwohl eine der spannendsten Geschmacksrichtungen nicht einmal mitkommen durfte: Mauro Icardi. "Argentinien hat Stürmer für einen ganzen Eintopf", erklärte Legende Mario Kempes also nicht zu Unrecht.
Kempes war der Star bei der WM 1978. Er spielte im Sturm von der ersten Minute bis zur letzten durch, wurde mit sechs Treffern Torschützenkönig, zum Spieler des Turniers gewählt und reckte am Ende den WM-Pokal in die Höhe. Kempes tat das, was diesmal Messi tun sollte (und eigentlich schon 2010 und 2014 hätte tun sollen).
Messi: Fixpunkt als Spielmacher
Messi ist seit Jahren der einzige Fixpunkt in der argentinischen Offensive. Er wird als hängende Spitze, als Spielmacher agieren. Der Rest? Noch geheim. Nationaltrainer Jorge Sampaoli kostete in den vergangenen Monaten von jedem Rezept - taktisch und personell. Mal ein 3-5-2 mit Agüero und Dybala als Doppelspitze, mal ein 3-4-2-1 mit Messi und Di Maria hinter einer Solospitze.
Zuletzt schmeckte Sampaoli das 4-2-3-1 mit Higuain als einzigem Stürmer besonders gut, in den letzten drei Testspielen vor der WM lief Argentinien so auf. Und das, obwohl Higuain in sieben der acht vorherigen Spiele unter Sampaoli nicht einmal im Kader stand. Es ist der Gipfel eines verwirrenden Wechselspiels, das nicht nur sportliche, sondern auch private Hintergründe hat. Weil irgendwann kam Wanda.
Icardi, Dybala, Higuain und Agüero: Hintergründe der Wechselspiele
Wanda Nara, das muss man dafür wissen, ist ein ehemaliges Model und auch die ehemalige Ehefrau des einstigen argentinischen U-Nationalstürmers Maxi Lopez. Dann wechselte sie jedoch mit den drei gemeinsamen Kindern zu dessen Landsmann und ehemaligen Teamkollegen bei Sampdoria Genua Icardi. Er ließ sich daraufhin kurzerhand die Namen von Lopez' Kindern mit dem Spruch "ich liebe diese drei kleinen Engel" auf den Oberarm tätowieren.
Schwierig, fand Lopez. Schwierig, fanden auch dessen gute Kumpels Javier Mascherano und Messi. Und so hielt sich der Mythos, dass sie fortan gegen eine Nominierung Icardis lobbyierten. Nationaltrainer Gerardo Martino und dessen Nachfolger Edgardo Bauza sollen dem Führungsduo gehörig gewesen sein und Icardi entsprechend ignoriert haben. Obwohl dieser bei seinem Verein Inter Mailand traf und traf.
Argentinien, unterdessen, traf nicht und traf nicht. Vier Spieltage vor Ende der südamerikanischen WM-Qualifikation rutschte das Team auf Tabellenplatz fünf, der den Umweg über die Playoffs bedeutet. Nur 15 Treffer in 14 Spielen erzielte Argentinien bis dahin, lediglich Bolivien und Paraguay trafen seltener. Bauza wurde entlassen und Sampaoli zum neuen Nationaltrainer bestimmt.
Er verzichtete auf die bisherigen Stammspieler Agüero und Higuain und berief stattdessen den verschmähten Icardi. "Icardi ist der Stürmer, den wir jetzt brauchen", sagte Sampaoli und stellte ihn bei den nächsten beiden Qualifikationsspielen in die Startelf. Argentinien gewann nicht, Icardi traf nicht, wurde noch einmal für 14 Minuten eingewechselt und fortan ignoriert.
Dybala, von Sampaoli ebenfalls zunächst in die Startelf beordert, verlor seinen Platz genauso schnell und klagte: "Es ist ein bisschen schwierig mit Messi zusammenzuspielen. Ich muss mich anpassen und dazu beitragen, dass Messi sich wohlfühlt." Genau wie Icardi stand er bei den ersten Länderspielen im Jahr 2018 nicht im Kader. "Es wird für Dybala schwierig sein, sich an unseren Stil zu gewöhnen", sagte Sampaoli bald. Unterdessen kehrten Agüero und Higuain in die Auswahl zurück. Alles auf Anfang.
Di Maria, Lanzini und Pavon: Die Lage auf den Flügeln
Auf der linken Seite begann zumeist Angel Di Maria, auf der rechten im letzten Testspiel gegen Haiti Manuel Lanzini von West Ham United. Er riss sich jedoch das Kreuzband und kann nicht mit nach Russland reisen. Dies ist die Chance für Christian Pavon, der erst im November für die Nationalmannschaft debütiert hatte.
Pavon ist 22 Jahre alt, stürmt für die Boca Juniors, hat weder Wanda- noch Messi-Konflikt-Vergangenheit und somit ideale Voraussetzungen. "Ich bin beeindruckt von Pavons Schnelligkeit. Er läuft Räume nie grundlos an", lobt Messi. "In dem System, das unser Trainer spielen lässt, können ihn seine Fähigkeiten zu einem sehr wichtigen Spieler machen."
Sollte Pavon in der Startelf stehen, wäre wohl kein Platz für Dybala, der sowohl für das Zentrum als auch die Flügel in Frage kommt. In der abgelaufenen Saison wurde er mit 22 Treffern immerhin Dritter der italienischen Torschützenliste: hinter dem gar nicht nominierten Icardi (29) - und noch vor seinem Teamkollegen bei Juventus Turin und voraussichtlichem Stammspieler Higuain (16). Der darüber hinaus weniger Tore schoss als Agüero für Manchester City (21). Kompliziert alles.
Messi und die Ziegen
Aber irgendwie auch ganz einfach: Letztlich, so war es ohnehin immer und wird es immer sein, kommt es auf Messi an. Beim entscheidenden 3:0-Sieg gegen Ecuador am letzten Spieltag der WM-Qualifikation erzielte er einen Dreierpack - und sein Nebenmann war ein gewisser Dario Benedetto (von dem weder davor noch danach viel zu hören war).
"Es ist wichtig, dass Messi Spieler um sich hat, die mit seinem Spiel vereinbar sind", sagt Sampaoli. Von den insgesamt 16 Qualifikations-Treffern erzielte Messi knapp die Hälfte und ließ sich zuletzt für das amerikanische Paper Magazine deshalb nicht umsonst bei einer Farm in der Nähe von Barcelona mit Ziegen fotografieren.
"Ich bin ein großer Fan von Tieren", erklärte Messi und berichtete: "Ich bin mit ihnen aufgewachsen und sie haben mir viele Dinge beigebracht." Bei den Ziegen-Fotos ging es aber eigentlich nicht um deren Dasein als Lehrmeister für Messi, sondern um deren englischen Namen Goat. Im Fachjargo auch die Abkürzung für: "Greatest Of All Times." Um selbst einer zu werden, fehlt Messi aber noch etwas - und das sind keine Fotos mit Ziegen.
Argentiniens Offensivspieler in der Saison 2017/18
Verein | Pflichtspiele | Tore | Assists | |
Lionel Messi | FC Barcelona | 54 | 45 | 18 |
Gonzalo Higuain | Juventus Turin | 50 | 23 | 8 |
Paulo Dybala | Juventus Turin | 46 | 26 | 7 |
Angel Di Maria | Paris Saint-Germain | 45 | 21 | 12 |
Sergio Agüero | Manchester City | 39 | 30 | 7 |
Christian Pavon | Boca Juniors | 31 | 7 | 17 |