Fünf Wochen zuvor hatte er noch gejubelt, auf einem Rasen gut 900 Kilometer südöstlich: Zum vierten Mal hatte er mit Real Madrid die Champions League gewonnen, zum dritten Mal in Folge. Und er hatte den Henkelpott als Kapitän als Erster in Empfang nehmen dürfen.
Diesmal blieben ihm im Luschniki-Stadion nur bittere Tränen, nachdem Russlands Torhüter Igor Akinfeev den Elfmeter von Iago Aspas pariert und die Sbornaja damit sensationall das WM-Viertelfinale erreicht hatte. Die Weltmeisterschaft 2018, sie hatte nach dem Aus von Titelverteidiger Deutschland ihre nächste, nicht für möglich gehaltene Sensation.
Und Kapitän Ramos, der das frühe 1:0 für sein Team mehr oder weniger erzwungen und seinen Elfmeter nach 120 Minuten souverän verwandelt hatte, musste mit einem der "schwersten Augenblicke meines Lebens, meiner Karriere" fertig werden.
Er sei dennoch stolz, Spanier zu sein, betonte er, nachdem er seiner Emotionen wieder Herr wurde. "Wir haben alles gegeben, mehr konnten wir nicht tun." Beim Elfmeterschießen handle es sich eben um eine Lotterie: "Wir werden bei den großen Turnieren zurückkommen. "
Spanien wie Deutschland: "Der entscheidende Schritt hat gefehlt"
Elfmeter als Lotterie, damit hatte der 32-Jährige zweifellos recht: Nur wenige Zentimeter lagen zwischen Sieg oder Niederlage. Akinfeev war gegen Aspas schon auf dem Weg in die falsche Ecke, mit dem linken Fuß kam er dennoch irgendwie an den Ball und dieser landete nicht im Tor. Auf der Gegenseite haderte Keeper David de Gea, bei diesem Turnier ohnehin schon mehrfacher Unglücksrabe, wiederholt mit dem Schicksal: Gleich mehrere Strafstöße hatte er ohne Fortune noch berührt, einer rutschte hauchdünn zwischen Oberkörper und rechtem Arm über die Linie.
Aber "alles gegeben", das hatte die Furia Roja nicht über die komplette Spielzeit. Zwar erinnerte die Partie von ihrer Grundordnung her fatal an Deutschlands 0:2 gegen Südkorea, mit 24:7 Torschüssen für Spanien, einem unglaublichen spielerischen Übergewicht und fast 80 Prozent Ballbesitz. Auch die Analyse von Spaniens Ikone Andres Iniesta hätte genauso gut aus dem Mund eines Toni Kroos stammen können: "Das letzte Bisschen hat gefehlt, der entscheidende Schritt. Wir haben nicht alles abrufen können."
Spanien macht gegen Russland einen entscheidenden Fehler
Doch am Ende hatte man sich die Pleite auch selbst zuzuschreiben. Schließlich hatte man das geschafft, was Deutschland drei Spiele lang verwehrt blieb: ein frühes Tor. Freistoß von der rechten Seite, griechisch-römische Einlage zwischen Ramos und Russlands Veteran Sergey Ignashevich - und nach nicht einmal einer Viertelstunde stand es 1:0 für den Favoriten.
Statt gegen angeknockte und spielerisch enorm limitierte Gastgeber - Stanislav Cherchesov hatte mit Smolov und Cheryshev auf zwei gute Techniker in der Startelf verzichtet - schnell für klare Verhältnisse zu sorgen, nahm Spanien den Fuß vom Gas. Den Ball hatte man über die kommenden gut 20 Minuten fast so oft wie zuvor, doch wo man zuvor zumindest nach Lücken in der russischen Fünferkette gesucht hatte, wurde plötzlich selbst bei verheißungsvollen Angriffen lieber abgedreht. Das klassische, spanische Tiki-Taka sollte den Gegner zermürben.
Stattdessen baute es ihn wieder auf. Ermutigt durch die nun zurückhaltende Spielweise der Spanier rückte die Sbornaja etwas weiter aus der eigenen Hälfte heraus, hatte nun selbst offensive Aktionen. Zwar war der Ausgleich nach einem "Was hat er sich bloß dabei gedacht?"-Handspiel von Gerard Pique nicht wirklich planbar, doch bereits ein paar Minuten zuvor hatte Golovin am linken Pfosten verfehlt, Koke den Ball fast selbst an de Gea vorbei bugsiert.
Über 1.000 Pässe: Spaniens wirkungsloses Tiki-Taka
Nach dem Ausgleich tat Spanien wieder mehr, die letzte Dreiviertelstunde der Partie spielte sich fast ausschließlich vor dem russischen Strafraum ab. Nur schien es Tiki-Taka um seiner selbst willen zu sein, ohne Idee, Plan und Ziel außer Ballbesitz. So schlug Deutschland gegen Südkorea trotz 30 Minuten weniger Spielzeit insgesamt sieben Flanken mehr, dabei hat Spanien mit Diego Costa 80 Minuten einen echten Strafraumstürmer auf dem Feld.
Stattdessen darf man sich nun mit einem zweifelhaften Rekord schmücken: Mehr als 703 Pässe waren in einem WM-Spiel noch nie an den eigenen Mann gebracht worden. Spanien pulverisierte diese Bestmarke mit 1.029 Pässen förmlich, schon lange vor der Verlängerung, doch wirkliche Torchancen blieben viel zu lange Mangelware. Der Höhepunkt, ja, der Exzess des Tiki-Taka. War er gleichzeitig sein Ende?
Schließlich stehen dem Weltmeister von 2010 tiefgreifende Veränderungen bevor. Andres Iniesta gab nach dem Schlusspfiff seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft bekannt, mit ihm verlässt der Letzte einer goldenen Generation die Bühne. Er war von der Bank gekommen und hatte sich nach Kräften bemüht, Gefahr auszustrahlen. Fast wäre er in der Verlängerung zum Helden geworden, doch Akinfeev parierte.
Iniestas Rücktritt aus der Nationalmannschaft: Was ist mit Ramos und Silva?
Es war Iniestas letztes Spiel auf der ganz großen Bühne: Der 34-Jährige verlässt den FC Barcelona und geht zu Vissel Kobe nach Japan. "Natürlich war es nicht der Abschied, den ich mir erträumt hatte, aber so ist das Leben", bilanzierte er nach Schlusspfiff gefasst.
Er wird nicht der einzige bleiben. Ein Rücktritt Piques, 31, steht seit Januar im Raum, Sergio Ramos gehört mit 32 zu den Veteranen. David Silva ist ebenso 32 Jahre alt wie Linksverteidiger Nacho, Diego Costa und Sergio Busquets werden noch dieses Jahr 30. Sie alle gehören der Weltklasse an, doch wie schon beim DFB ist nun die Frage, ob es den Umbruch geben wird, geben muss. Und wer ein Teil davon sein wird.
Noch eine Parallele zu Deutschland: Das betrifft auch den Trainerposten. Doch während Joachim Löw nach zwölf Jahren als Cheftrainer unangreifbar nach Russland gereist war und auch nach dem blamablen Vorrundenaus gehalten werden soll, stehen die Dinge in Spanien komplizierter.
Spaniens Trainer: Entscheidung für Hierro rächt sich
Fernando Hierro wurde nur Tage vor dem ersten Spiel in einer Hauruck-Aktion auf den Trainerposten gehievt, dem Vernehmen nach gegen den Willen einiger Führungsspieler. War es auch die Unerfahrenheit des 50-Jährigen, die Spanien am Ende die Chance auf den Titel kostete? Ein Jahr Cheftrainer bei Real Oviedo, ein Jahr Co-Trainer bei seinem langjährigen Verein Real Madrid, mehr gibt die Vita Hierros nicht mehr. Eine eigene Spielidee mit Team zu entwickeln war unmöglich. So wurschtelte sich die Mannschaft ins Achtelfinale und konnte die gute Auslosung nicht nutzen.
Kaum vorstellbar, das Hierro bleiben darf. "Ich habe die Entscheidung nicht bereut, weil es um Verantwortung, Überzeugungen und Werte ging, es war keine sportliche Entscheidung", betonte Verbandspräsident Luis Rubiales in der Mixed Zone nach der Partie. Er sei Hierro für seinen Einsatz dankbar, die Entscheidung werde in den nächsten Wochen fallen.
In einer Zeit also, in der man lieber für sportliche Schlagzeilen gesorgt hätte. Stattdessen ist der nächste Gigant des Weltfußballs am Boden. Wenn er wieder aufsteht, wird er ein anderer sein. Mit neuen Gesichtern, vielleicht sogar einer neuen Spielidee.