Die WM 2018 in Russland ist Geschichte. Frankreich ist verdient Weltmeister geworden, Titelverteidiger Deutschland erlebte ein Debakel. SPOX zieht Bilanz und zeigt die Tops und Flops der Endrunde: Vom Weltmeisterfluch über Dramen in der Nachspielzeit, wütende Belgier und englische Elfmeter bis hin zu Neymar und Diego Maradonas Weißwein-Sause.
Flop: Der Fluch des Weltmeisters
Es wirkt wie verhext: Zum dritten Mal in Folge scheiterte der amtierende Weltmeister in der Gruppenphase. Die Rücktritte von Schweinsteiger, Klose, Lahm und Co. dürfen dabei keine Ausrede für das Löw-Team sein - auch dieses Jahr war die Qualität des Kaders hoch genug, um gegen Kaliber wie Südkorea zu bestehen. Sei es nun die eigene Selbstgefälligkeit oder die erhöhte Motivation der Gegner, es scheint als hätten die Weltmeister nicht so richtig Lust auf eine Titelverteidigung. Wäre ja auch langweilig, oder? In vier Jahren wird sich also Frankreich dem Fluch des Weltmeisters stellen müssen. Vielleicht sollte die Equipe Tricolore in Katar also mit dem Achtelfinale schon ganz zufrieden sein.
Top: Englische Standards
Wer bislang der Meinung war, Standard-Tore seien Glück, wird sich spätestens nach dieser WM Gedanken machen müssen. 73 von 169 Toren fielen nach ruhenden Bällen, besonders Gareth Southgate und die Engländer perfektionierten diese: Beinahe jeder Eckball oder Freistoß glich einem Set-Play nach einem Timeout im Basketball. Jeder Spieler wusste wohin die Flanke kommen wird, nahm seine Position ein und stellte mitunter sogar Blocks für die Mitspieler. Auch wenn der Pokal schlussendlich nicht 'home' kam, die Engländer beeindruckten mit einer nie dagewesenen Standard-Vielfalt - und stellten mit neun Standard-Toren einen neuen WM-Rekord auf.
Flop: Neymars Schauspieleinlagen
Nee nee, Neymar. So wird das nix. Der Brasilianer ist eigentlich prädestiniert dafür, in die Fußstapfen von Messi und Ronaldo zu treten, und hin und wieder hat er das ja auch schon gemacht. Aber in Russland fiel er nicht nur durch Tore und Vorlagen auf, sondern durch Schauspieleinlagen, die in Hollywood als Anschauungsunterricht herhalten dürften. Und ja, der Mann wird gefoult. Und zwar oft, vielleicht öfter als alle anderen. Aber eine derartige Theatralik bringt nur die Fans gegen ihn auf - und härtet Schiedsrichter gegen tatsächliche Fouls ab. Warum also der Nonsens?
Top: Japans reinlicher Abschied
Sollte man den Japanern ihr ödes Ballgeschiebe im letzten Gruppenspiel verzeihen? Einen Einzug in die K.o.-Runde dank der Fairplay-Wertung? (Wenn wir schon dabei sind: Lasst euch ein besseres Kriterium einfallen als Gelbe Karten, liebe FIFA-Verantwortlichen!) Es fällt zumindest leichter, wenn man an den beherzten Fußball denkt, den die Samurai Blue gegen Belgien ablieferten. Als letzter Vertreter aus Asien hatten sie den späteren WM-Dritten am Rande einer Niederlage - und kassierten den Last-Second-Treffer, weil sie nicht auf Sicherheit spielten wie so viele andere Teams. Noch besser: Nach der Niederlage stand nicht etwa Seppuku auf dem Programm, sondern das Saubermachen der Kabine, Dankeskarte inklusive. So wird's gemacht!
Flop: Teams aus Afrika
Man kann die Uhr danach stellen: Alle vier Jahre wird der endgültige Durchbruch der Afrikaner auf der großen Bühne des Weltfußballs postuliert, mit mindestens einem Team im Viertel- oder Halbfinale, wenn nicht noch besser. Wieder sollte es nicht sein: Zwar sorgten Afrikas Vertreter nicht für Negativschlagzeilen, aber sportlich war es eben auch überschaubar. Zum ersten Mal seit 1982 schaffte es kein Team aus dem riesigen Kontinent in die K.o.-Runde, Marokko scheiterte obendrein mit der Bewerbung für 2026. Die Talente sind da, das sieht man auch an den vielen Spielern afrikanischer Herkunft, die in europäischen Mannschaften erfolgreich sind. Aber ausschöpfen konnte man dieses Potenzial noch nicht.
Top: WM-Organisation und Volunteers
Wer bei dieser WM vor Ort war, wird bestätigen müssen: Bei der Organisation haben sich Putin und Co. nicht lumpen lassen. Alles sicher, keine Hooligan-Schlägereien, meistens gute Stimmung. Ein besonderes Lob geht dabei an die Volunteers, die gefühlt zu zehntausenden an und in den Stadien unterwegs waren und den Weg wiesen, vom Hochsitz aus Ansagen machten, Fragen beantworteten - oder einfach nur mit einem Lächeln abklatschten. Allein gelassen wurde man bei dieser WM nicht.
Flop: Diego Maradona
Diego Maradona war einst der beste Fußballer dieses Planeten. Mittlerweile ist der Argentinier, der sein Team 1986 fast im Alleingang zum Titel führte, zur Witzfigur verkommen. Das ist tragisch. Die Art und Weise, wie er sich in Russland präsentierte, lässt aber kaum andere Möglichkeiten zu. Er paffte fleißig trotz Rauchverbot, schlief auf seinem Sitz ein, ließ die Mittelfinger sprechen und gab sich nach eigener Aussage derart dem Weißwein hin, dass er es nicht mehr ohne Hilfe aus der VIP-Box schaffte und medizinisch behandelt werden musste. Fortsetzung folgt wohl. Leider.
Top: Dramatische Spiele
Drama, Baby! Es mag nicht die WM der offensiv spielenden Mannschaften gewesen sein, aber das heißt noch lange nicht, dass es in Russland langweilig wurde. Die Nachspielzeit etwa wurde von den Teams mehr als produktiv genutzt: Stolze 23 Tore fielen ab der 90. Minute noch, damit wurde der Rekord von 14 Toren aus der WM in Brasilien pulverisiert. Damit nicht genug: Zwölf Eigentore waren absoluter Negativrekord - na ja, kommt darauf an, wen man fragt -, mehr als sechs hatte es bisher nie gegeben. Beide Faktoren sorgten für jede Menge Spannung, glorreiche Helden und bittere Tränen.
Flop: Ballbesitz-Fußball
Von Frankreich lernen, heißt siegen lernen. Defensive ist Trumpf, vorn geht schon einer rein, durch Standards, Eigentore oder Murmeln in der Nachspielzeit. Ob das den Fußball wirklich attraktiver macht, muss jeder für sich entscheiden. Aber Fakt ist: Ballbesitz-Fußball ist sowas von out. Die letzten beiden Weltmeister Spanien und Deutschland, die sich dieser Philosophie verschrieben haben, schieden sang-und klanglos aus. Das DFB-Team hatte keinen Plan B und war ausrechenbar, Spanien tiki-tackerte gegen Russland über 1.000 Pässe aneinander und machte dennoch kein Tor. Neue Lösungen müssen her - mal sehen, ob jetzt alle der Equipe Tricolore nacheifern.
Top: Ehrliche Spielerinterviews
Von nichtssagenden, glattgebürsteten 08/15-Spielerinterviews haben wir doch alle die Nase voll, sind wir mal ehrlich. Sie haben aber ihren Grund: Wer ehrlich seine Meinung sagt, muss mit einer Menge Gegenwind rechnen, in Einzelfällen bis hin zum Shitstorm. Respekt deshalb an die Belgier, die mit ihrer Meinung nach dem Spiel gegen Frankreich nicht hinter dem Berg hielten: Eine "Schande" sei das gewesen, lieber hätte man gegen spielende Brasilianer als gegen mauernde Franzosen verloren, und so weiter. Natürlich gab für dieses Rumgepampe eine verbale Retourkutsche, und wer gewinnt, der hat am Ende alles richtig gemacht. Trotzdem: Wir plädieren für mehr Ehrlichkeit - so macht es doch mehr Spaß.
Flop: Abgeriegelte Nationalmannschaften
Vielleicht führt kein Weg daran vorbei, dass WM-Quartiere zum Hochsicherheitstrakt verkommen. Aber für die Fans, die sich in tausende Euro Unkosten stürzen, ist es doch mehr als unbefriedigend, wenn die Stars derart hermetisch abgeriegelt werden. Übrigens nicht nur vor den Fans abgeschirmt, sondern auch vor der Presse. Ein ganzes öffentliches Training gab es pro Team im Turnier, danach durfte man jeweils die ersten 15 Minuten zuschauen. Heißt: beim Aufwärmen. Das bringt natürlich null Erkenntnisse über Spielweise und Form des Teams. Also bitte wieder ein bisschen mehr Nähe, liebe FIFA. Wir beißen auch nicht, versprochen.
Top: England kann Elfmeterschießen
England vom Punkt. Treffsicher. Hast du da noch Töne? Weil Gareth Southgate die verhassten Penalties im Vorfeld analysierte und sie so akribisch vorbereitete, als ginge es um eine Mondlandung, haben die Three Lions doch tatsächlich wieder ein Elfmeterschießen gewonnen. Das Ende vom Lied: England kam ins Halbfinale, auf der Insel sind sie wieder stolz auf ihr Team, und Konstanten gibt es nicht mehr im Weltfußball (siehe Spruch, Gary Linekers). Übrigens war das Ende vom Lied auch direkt wieder der Anfang - "It's coming home" lief nämlich in Dauerschleife.
Flop: Ein-Mann-Teams
Portugal mit Cristiano Ronaldo. Argentinien mit Lionel Messi. Polen mit Robert Lewandowski. Teams, die komplett auf einen einzigen Superstar zugeschnitten waren, machten bei dieser WM kaum einen Stich. Dafür waren sie zu ausrechenbar. Natürlich hatten auch andere Mannschaften ihre Topspieler, aber die glänzten vor allem dann, wenn sie sich für das Team zurücknahmen. Edinson Cavani und Luis Suarez etwa harmonierten für Uruguay prächtig, auch die belgischen Ausnahmekönner fügten sich nahtlos ins Team ein.
Top: Rossija
Wir haben es schon oft erlebt, dass die Rolle des Gastgebers in einem großen Turnier Flügel verleiht. Das war auch bei den Russen so. Die lieferten in der Gruppenphase zwei Torfestivals ab, kamen dann ins Achtelfinale und rangen mit einem unglaublichen Einsatz die favorisierten Spanier nieder. Auch gegen Kroatien hätte es fast gereicht. Nun sind russische Topleistungen nach den Skandalen der letzten Jahre immer ein bisschen verdächtig. Auf jeden Fall kann man aber konstatieren, dass sich die Spieler für ihr Land förmlich aufgeopfert haben. Und das eine oder andere Traumtor war auch noch dabei.
Flop: David de Gea
Wir wollen eigentlich nicht über Gebühr auf einzelnen Spielern herumhacken - sonst würden wir beim DFB anfangen und wären morgen noch nicht fertig. Aber wer ein derart bitteres Turnier erlebt wie der spanische Keeper, der muss noch einmal erwähnt werden. Und sei es, um ihm Mut zuzusprechen. Da reiste de Gea als der vielleicht beste Keeper der Welt an und hatte dann die berühmte Scheiße am Fuß, beziehungsweise am Handschuh. In vier Spielen wehrte der Schlussmann gerade einmal einen einzigen Ball ab (schlechteste Bilanz eines Keepers seit 1966), leistete sich gegen Ronaldo einen kapitalen Torwartfehler - und haderte dann mit den russischen Elfmetern: So oft war er nah dran, halten konnte er keinen. Ein Turnier zum Vergessen.
Top: Iran
Vier Punkte und noch mehr Highlights: Angefangen mit ihrem herrlich chaotischen Spielstil über Keeper Alireza Beiranvand, der vor wenigen Jahren noch obdachlos war und jetzt einen Elfmeter von CR7 pariert hat, bis hin zu der Tatsache, dass iranische Frauen sich in der Heimat zum ersten Mal seit der Islamischen Revolution 1979 ein Spiel im Stadion anschauen durften. Auch in Russland waren abertausende Fans aus dem Iran unterwegs, viele davon Frauen. Manchmal ändert der Fußball eben doch ein klein bisschen was zum Guten.
Und, last but not least: Milan Mohammadis Einwurf gegen Spanien. Weltklasse.