Nach über zehn Jahren als Trainer in den Niederlanden heuerte Gertjan Verbeek 2013 in Deutschland beim 1. FC Nürnberg an. Kurz vor Weihnachten 2014 übernahm er den VfL Bochum in der 2. Liga, mit dem der 53-Jährige in der kommenden Saison einen neuen Anlauf unternehmen wird, um in die Bundesliga aufzusteigen. Im Interview spricht Verbeek über das Erbe von Landsmann Johan Cruyff, den Klogang im Hotel, Blut im Training, einen Zusammenstoß in Barcelona und sein Verhältnis zur Bild.
SPOX: Herr Verbeek, als Johan Cruyff im März starb, schrieb der Spiegel in Anlehnung an den Tod von Buddy Holly, an diesem Tag sei der Fußball gestorben. Können Sie dies nachvollziehen?
Gertjan Verbeek: Soweit würde ich nicht gehen. Der Fußball hat einen Herzinfarkt erlitten, das kann man vielleicht sagen. Er wird aber auch ohne Cruyff immer weiterleben.
SPOX: Hatten Sie einmal die Gelegenheit, ihn kennenzulernen?
Verbeek: Wir sind uns einige Male über den Weg gelaufen und haben miteinander gesprochen. Einmal saßen wir bei einer Preisverleihung auch zusammen zu Tisch beim Essen. Cruyff hat fast nichts gegessen, da er ständig aufstehen musste, um irgendwelchen Leuten die Hand zu schütteln.
SPOX: Cruyff wurde in den Nachrufen dafür gewürdigt, als Spieler und Trainer gigantischen Einfluss auf die Entwicklung des Fußballs ausgeübt zu haben. Wie beurteilen Sie das Lebenswerk Ihres Landsmanns?
Verbeek: Er hat als Spieler und Trainer für Ansätze gesorgt, um anders als zuvor auf den Fußball zu schauen. Vor allem in Holland, aber auch weltweit. Für mich hat er als Trainer noch mehr brilliert, da es ihm gelang, große Teams zusammenzustellen. Er sagte immer, er würde als Trainer aufhören, sobald er im Training nicht mehr mitspielen könne, um seinen Spielern zu zeigen, was er verlangt. So kam es ja auch. Er ist immer Spieler geblieben.
SPOX: Welche dieser Ansätze haben andere Trainer für ihre Arbeit aufgegriffen, eventuell auch Sie?
Verbeek: Pep Guardiola oder Louis van Gaal stehen eindeutig für Cruyffs Lehre. Sie haben dem Fußball etwas hinzugefügt, da sie nicht in Konventionen denken und eine andere Sicht aufs Coaching haben. Mir gefällt sehr, dass der Offensivgedanke für sie der wichtigste ist. Ihr Fußball fördert Kreativität und den Spaß am Gewinnen - und nicht etwa die Angst, etwas verlieren zu können.
SPOX: Valerien Ismael, einer Ihrer Nachfolger beim 1. FC Nürnberg, sagte im SPOX-Interview, man müsse sich als Trainer an die 2. Liga anpassen und könne nicht immer nach seinen eigenen Überzeugungen spielen lassen. Sie widerlegen das mit der offensiven Spielweise Ihrer Mannschaft in Bochum.
Verbeek: Ich bin der Überzeugung, dass man als Trainer Facharbeit abliefert. Je mehr man seinen Beruf sozusagen übt und an Erfahrung hinzu gewinnt, desto besser versteht man sein Fach. Wer längere Zeit einen gewissen Fußball praktiziert, der wird nicht auf einmal am kommenden Wochenende etwas ganz anderes ausprobieren wollen. Man macht sich Gedanken über die fußballerische Herangehensweise des Gegners, doch immer nur unter der Fragestellung: Wie kann ich das mit meiner Philosophie bespielen?
SPOX: Wieso wäre es für Sie undenkbar, einen anderen Fußball spielen zu lassen?
Verbeek: Wenn man in einem Hotel schläft und nachts aufs Klo gehen muss, macht man das Licht an, die Augen auf und geht zur Toilette. Zu Hause dagegen geht es ohne Licht und mit geschlossenen Augen. Was ich damit sagen will: Wer etwas machen muss, das er nicht kennt, wird unsicher und kann dann nicht an sein maximales Leistungslevel kommen. Rückt man von seiner fußballerischen Philosophie demnach nicht ab, wächst meiner Ansicht nach auch der Glaube der Spieler daran, damit erfolgreich sein zu können.
SPOX: Sie pflegen ein gutes Verhältnis zu van Gaal. Er hat viele große Vereine trainiert. Würde es Sie reizen, eines Tages ein Spitzenteam bei einem finanzstarken Klub anzuleiten - oder könnten Sie dort gar nicht langfristig Ihren Stempel aufdrücken?
Verbeek: Leicester City hat bewiesen, dass man nicht bei einem Spitzenteam arbeiten muss, um richtig erfolgreich zu sein. Ich finde mich bei einem Verein besser aufgehoben, dem die Entwicklung junger, kreativer Spieler am Herzen liegt. Ich mag es ehrlich gesagt auch gar nicht, Spieler zu kaufen. Ich stehe lieber auf dem Platz und arbeite mit denen, die schon da sind, um aus ihnen die maximale Bereitschaft heraus zu kitzeln, sich täglich verbessern zu wollen. Was van Gaal angeht: Er hat bei Ajax bereits in den 1990er Jahren bewiesen, dass er sehr gut mit jungen Spielern arbeiten und sie auf ein höheres Niveau heben kann. Es zeigt sich aber auch, dass es Probleme gibt, die richtigen Spieler einzukaufen. Angel Di Maria ist so ein Beispiel.
SPOX: In der nächsten Saison wird der VfL Bochum den siebten Anlauf in Richtung Aufstieg seit 2010 unternehmen. Was kann man dort unter den gegebenen Bedingungen noch herausholen?
Verbeek: Vor nicht langer Zeit hatte man hier Angst, aus der 2. Bundesliga abzusteigen. In der letzten Saison sind wir Elfter geworden, dieses Jahr Fünfter - das ist quasi eine Steigerung um 100 Prozent. Unsere Aufgabe ist es, Spieler zu verbessern. Wenn das gelingt, verbessert sich zwar die Mannschaft, macht Spieler jedoch auch für andere Vereine interessant. Wenn wir im nächsten Jahr noch einmal einen Sprung machen, schaffen wir es vielleicht in die Bundesliga.
SPOX: In Nürnberg sollen Sie selbst gemalte Plakate in der Kabine aufgehängt haben, um die Mannschaft zu motivieren und Zusammenhalt zu demonstrieren. Stimmt das?
Verbeek: Ja, das habe ich zu Beginn auch in Bochum gemacht. Darauf standen die wichtigsten Schlagworte oder Sätze, die meinen Fußball charakterisieren und umschreiben. Dadurch werden die Spieler mental ständig mit den Inhalten konfrontiert und können sie noch vor dem Training visualisieren. Die Spieler müssen nach einem Trainerwechsel während der Saison in sehr kurzer Zeit die Denkweise des neuen Coachs übernehmen können.
SPOX: Hatten Sie keine Befürchtungen, Ihre Eigenkreationen könnten von den Profis belächelt werden?
Verbeek: Es hat mich noch nie interessiert, was andere von mir denken könnten. Das gilt für Journalisten genauso wie für Zuschauer oder Vorstände. Ich mache, was ich nach meiner Überzeugung für richtig halte. Wer sich ständig Gedanken über andere macht, sagt damit mehr über sich aus als umgekehrt.
SPOX: Sie sagten kürzlich, im Gegensatz zu den Niederlanden sei Fußball in Deutschland ein Männersport. In Holland hieß es, dass Sie Verletzungsunterbrechungen im Training nur zulassen, wenn jemand blutet. Ist das richtig?
Verbeek: Ja.
SPOX: Man kann sich doch aber auch ohne offene Wunde verletzen.
Verbeek: Ich sehe schon, wenn jemand schwer verletzt ist. Dann wird das Training natürlich unterbrochen, auch ohne Blut. Ich hatte mal einen 14-jährigen Spieler, der sich im Training am Bein verletzt hat. Ich sagte zu ihm, er solle sich einmal mit vollem Gewicht auf beide Beine stellen. Er meinte, es würde nicht arg wehtun. Dann solle er weiterspielen, entgegnete ich. Eine Woche später kamen die Schmerzen wieder, wir schickten ihn ins Krankenhaus und er hatte sich das Kahnbein gebrochen.
SPOX: Machen Sie das auch deshalb, weil im Fußball immer wieder ein bisschen geschauspielert wird?
Verbeek: Ein bisschen? Das passiert viel zu oft. Fußballprofis sind Schauspieler, zumindest auf eine gewisse Art und Weise. Der Sport hat sich in den letzten Jahren in diese Richtung entwickelt. Ich versuche zu vermitteln, dass man da nicht zwingend mitmachen muss. Wenn einer meiner Spieler schauspielert, um einen Freistoß zu bekommen, hole ich ihn vom Feld. Ich möchte harte, aber keine unfairen Spieler haben. Im Training bin ich oft der Schiedsrichter, aber ich pfeife fast nie. Beim Boxen wird man angezählt, wenn man auf dem Boden liegt. Und wenn du nicht aufstehst, hast du verloren.
SPOX: Wie beobachten Sie denn die heutige Generation an Fußballern, die sich sehr über technologische Dinge wie soziale Medien oder die neuesten Kopfhörer und Handys definiert?
Verbeek: Ich bin kürzlich im Urlaub in Barcelona mit meiner Freundin über die Ramblas gelaufen. Uns kam ein Typ entgegen, der wie paralysiert in sein Handy geguckt hat. Ich habe zu meiner Freundin gesagt: Pass' auf, der rennt gleich voll in mich rein. Und so kam es auch. Aber er ist dann einfach genauso weiter gelaufen. Das ist die heutige Zeit, ich kann sie leider nicht zurückdrehen. Aber: Würde mich diese Entwicklung ärgern, würden andere Menschen letztlich darüber bestimmen, wie ich mich fühle. Und das möchte ich unter keinen Umständen.
SPOX: Wie handhaben Sie die Handy-Nutzung?
Verbeek: Wir haben abgesprochen, das Handy zum gemeinsamen Essen nicht mitzunehmen. Ich selbst habe natürlich auch eines, schaue aber nur ein paar Mal täglich drauf. Die restliche Zeit lasse ich es liegen. Ich gehe auch nicht sofort ran, wenn es klingelt oder piept - erst Recht, wenn ich mit jemandem spreche. Grundsätzlich wird immer mehr vergessen, dass man auch miteinander reden kann.
SPOX: Wird im Fußball öffentlich geredet, kommt meist nur Weichgespültes heraus. Thomas Müller vom FC Bayern will künftig gegenüber der Presse auch mal Notlügen einstreuen. Sie dagegen ecken mit Ihrer direkten Art bisweilen an. Darf man nicht mehr ehrlich sein?
Verbeek: Wenn sich der Fußballzirkus so entwickeln sollte, dass man lügen oder sich zu sehr verstellen muss, um noch mitschwimmen zu können, höre ich sofort auf. Dann gehe ich Häuser bauen. Die Welt verbessern zu wollen beginnt immer bei einem selbst, nie bei anderen Menschen. Niemand wird gezwungen, gewisse allgemeine Entwicklungen mitzumachen. Ich folge nicht dem Mainstream.
SPOX: Das sieht man an Ihrer Beziehung zur Bild-Zeitung, die Sie nach Ihrer Wutrede zwar weiter dulden, aber mit der Sie seitdem nicht mehr sprechen.
Verbeek: Wichtig ist mir, dass der gegenseitige Respekt niemals verloren geht. Wenn das passiert, muss man die Gespräche oder Beziehungen beenden. Und so habe ich das auch mit der Bild-Zeitung gehandhabt: Der entsprechende Redakteur hat wiederholt Dinge bewusst falsch dargestellt, so dass dies keine Basis für gegenseitigen Respekt darstellt. Er darf weiterhin gerne zu den Pressekonferenzen kommen, aber er stellt mir keine Fragen mehr und bekommt auch keine Antwort. Ich habe ihm erklärt, weshalb ich das so mache. Das halte ich deshalb nicht für respektlos. Ich will in meinem Beruf nicht so leben müssen, dass ich mich ständig nach Heckenschützen umzuschauen habe.
SPOX: Seit über 20 Jahren sind Sie nun an der Seitenlinie aktiv, im August werden Sie 54. Welche Ziele und Träume haben Sie noch als Trainer?
Verbeek: Keine konkreten. Als Spieler hatte ich das Ziel, eines Tages Trainer zu werden. Als ich das geschafft habe, wollte ich vor meinem 40. Geburtstag Chefcoach im Profifußball sein. Das hat mit 39 geklappt. Vor meinem 50. Geburtstag wollte ich in einer sportlich besseren Liga im Ausland arbeiten. Jetzt hoffe ich, in Deutschland ähnlich erfolgreich zu sein wie in den zwölf Jahren in Holland - dort habe ich über 70 Europa-League-Spiele gecoacht.
SPOX: Was haben Sie sich für den 60. Geburtstag vorgenommen?
Verbeek: Mit 60 möchte ich frei entscheiden können, ob ich noch arbeiten muss oder nicht. Fußball war schon immer mein Leben, als Trainer arbeite ich bis zu 80 Stunden in der Woche. Ich fühle mich aber nicht zu beschäftigt. Doch ich kann mir vorstellen, dass ich dann vielleicht auch mal einen Vorstandsposten in einem Klub besetze und mitbestimme, wie ein Verein geleitet werden soll. Zumal meiner Meinung nach sehr wenige fachlich ausgebildete Leute in den Vorstandsbereichen arbeiten.