Atakan Karazor ist einer der Spieler, die den neuen VfB Stuttgart prägen sollen. Der Neuzugang aus Kiel nimmt im System von Coach Tim Walter die Rolle des Taktgebers ein. Vor dem Auftakt in die Zweitliga-Saison gegen Hannover 96 (Fr., 20.30 Uhr im LIVETICKER) spricht Karazor im Interview mit SPOX und Goal über seine Bolzplatz-Kindheit, eine prägende Zeit beim BVB und seinen Status als FIFA-Endgegner.
Außerdem erklärt der 22-Jährige die Einzigartigkeit von Tim Walters Fußballphilosophie und verrät, wer für ihn der beste Sechser der Welt ist.
Herr Karazor, Sie sind in Essen geboren und haben türkische Wurzeln. Wie würden Sie Ihren familiären Background beschreiben?
Atakan Karazor: Meine Großeltern sind als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Mein Vater hat dann in der Kohleindustrie gearbeitet, also ganz typisch für den Ruhrpott. Von ihm habe ich gelernt, was es heißt, richtig malochen zu müssen. Wenn mein Vater von der harten Frühschicht wieder nach Hause kam, ist er nicht schlafen gegangen. Obwohl er müde war, ist er mit mir auf den Bolzplatz zum Kicken gegangen. Meine Familiengeschichte hat mich geprägt. Ich hatte in meiner bisherigen Karriere auch immer im Kopf, dass ich meiner Familie etwas zurückgeben will. Ich mache das alles auch für meine Eltern und für meine ganze Familie, die bei jedem meiner Spiele eine richtige Versammlung veranstaltet. Sie würden um nichts in der Welt ein Spiel von mir verpassen, selbst wenn ich verletzt wäre, würden sie jetzt jedes VfB-Spiel schauen. Mein kleiner Cousin himmelt mich an wie einen Superstar.
Wie fühlt sich das für Sie an?
Karazor: Es ist total schön. Was gibt es Schöneres, als deine Familie stolz zu machen. Ich finde es toll, dass meine Mutter sagen kann, dass ihr Sohn es zum Fußballprofi geschafft hat, wenn sie auf mich angesprochen wird. Da kann sie ein bisschen mit mir angeben. (lacht) Es bedeutet mir einfach sehr viel, wie die ganze Familie hinter mir steht. Damals hätte wahrscheinlich niemand gedacht, dass das kleine Bolzplatzkind Ata es mal so weit bringen würde.
Waren Sie zu Bolzplatzzeiten schon heißblütig?
Karazor: Generell würde ich sagen, dass ich eher der ruhige Typ bin. Auf dem Platz kann ich auch heißblütig sein, das stimmt, aber das hat nichts mit der türkischen Mentalität zu tun. Das hat sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt, in denen mir eine Siegermentalität vermittelt wurde.
gettyAtakan Karazor: "Ich bin immer der Endgegner in FIFA"
Wem haben Sie auf dem Bolzplatz nachgeeifert?
Karazor: Ich war immer Cesc Fabregas. Ich bin großer Arsenal-Fan, daraus mache ich auch kein Geheimnis, und Fabregas war seit seiner Arsenal-Zeit immer mein Lieblingsspieler.
Heißt, Sie spielen auch bei FIFA immer mit Arsenal?
Karazor: Ich habe viel mit Arsenal gespielt, aber Arsenal ist gerade nicht so gut in FIFA. Die Arsenal-Spieler sind bei FIFA nicht so gut gemacht worden, wie sie es eigentlich in Wirklichkeit sind. Deshalb habe ich zuletzt viel mit Juve gespielt. Aber egal mit welchem Klub ich spiele, ich bin bei meinen Vereinen immer der Endgegner in FIFA. (lacht)
Wir waren bei Ihren Bolzplatzzeiten stehengeblieben. Wann wurde Ihr Talent erkannt?
Karazor: Es dauerte nicht so lange, bis Leute auf mich zugekommen sind und meinten, dass ich zu gut für Schwarz-Weiß Essen sei und doch zu einem großen Klub aus der Region wechseln solle. Das hätte ich auch machen können, aber mein Vater hat damals seine schützende Hand über mich gehalten. Es war zwar hart zuschauen zu müssen, wie andere Jungs nach Dortmund oder zu Schalke gewechselt sind, und ich war immer noch in Essen, aber im Nachhinein bin ich meinem Vater total dankbar. Er hat mir gesagt, dass ich lieber Schritt für Schritt gehen soll. Ganz entscheidend war der Moment, als ich in der U16 dann zum Sechser ausgebildet wurde, vorher hatte ich auf der Zehn gespielt.
Atakan Karazor über seine Zeit beim BVB
Von Essen ging es dann weiter nach Bochum, wo Sie in der Junioren-Bundesliga gespielt haben. Waren Sie zu diesem Zeitpunkt schon sicher, dass Sie das Zeug zum Profi haben?
Karazor: Ja und nein. Es ist schon wichtig, von sich und seinen Qualitäten überzeugt zu sein, aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es keine Phase gab, in denen ich weniger überzeugt war. In meinem ersten Jahr in Bochum habe ich zum Beispiel kaum Einsätze gehabt. Aber auch das waren Phasen, aus denen ich viele Lehren ziehen konnte. Ich hatte viele gute Trainer, aber als ich nach Dortmund gekommen bin, war David Wagner eine ganz wichtige Figur für mich. Er ist ein richtiger Mentalitätstrainer, von ihm habe ich in dieser Hinsicht extrem profitiert und auch taktisch viel gelernt. Anschließend hat mir Daniel Farke viel vermittelt. Ich durfte auch bei Thomas Tuchel bei den Profis reinschnuppern und konnte mir damals viel abschauen, zum Beispiel von Nuri Sahin oder von Gonzalo Castro, den ich jetzt hier beim VfB wiedergetroffen habe.
In Ihrer BVB-Zeit sind Sie phasenweise mit vielen Gelben Karten aufgefallen.
Karazor: Das ist richtig. Ich habe es sogar einmal geschafft, in der Hinserie zwei Gelbsperren absitzen zu müssen. Ich muss sagen, dass auch viele taktische Fouls dabei waren, aber es war teilweise schon übertrieben. (lacht) Das gebe ich zu. Aber ich habe mich auch da in den vergangenen Jahren weiterentwickelt.
Thomas Hitzlsperger hat gesagt, dass der VfB darauf geachtet habe, Spieler zu holen, die in Ihrer Karriere schon mal Dreck fressen mussten. Fühlen Sie sich damit angesprochen?
Karazor: Wenn man es so definiert, dass ich auch in jungen Jahren schwierige Zeiten erleben musste, dann auf jeden Fall ja. Ich konnte mich bei jeder Station weiterentwickeln und einen Sprung machen, aber es gab bei jeder Station auch weniger gute Phasen. Ich musste mich immer in die Mannschaft reinkämpfen. In meinem ersten Jahr in Kiel war ich zu Beginn direkt verletzt und habe so gut wie gar nicht gespielt. Ich weiß noch, wie ich meine Freunde angerufen und ihnen gesagt habe: "Jungs, ich kriege hier Depressionen, es läuft nicht." Auch im ersten Jahr unter Tim Walter habe ich erstmal nicht gespielt. Natürlich fragst du dich dann, ob deine Karriere in die falsche Richtung geht. Aber es hat mich auch zu dem Spieler und Menschen gemacht, der ich heute bin.
Tim Walter hat in Kiel auf Sie als Taktgeber und Stratege gebaut und will dies auch in Stuttgart tun. Was sind Ihre Ziele für Ihr erstes Jahr beim VfB?
Karazor: Für uns als Mannschaft ist das Ziel klar definiert. Wir wollen wieder in die Bundesliga. Natürlich habe ich mir auch persönliche Ziele gesteckt. Ich will konstante Leistungen abrufen, ich will meine Aufgaben auf dem Platz lösen und auch eine Führungsrolle einnehmen beim VfB. Ich will jemand sein, auf den das Team bauen kann. Jemand, dem man vertrauen kann.
Was macht für Sie denn einen guten Sechser aus?
Karazor: Der perfekte Sechser hat viel Übersicht, strahlt Ruhe aus, kann aber auch mal dazwischenfegen. Er muss zweikampfstark sein, Konter unterbinden können und als Leader fungieren. Wenn Sie mich fragen, wer aktuell der beste Sechser auf der Welt ist, würde ich Sergio Busquets nennen. Er ist eines meiner großen Vorbilder. Ich liebe es aber auch, anderen Spielern zuzuschauen. Zum Beispiel Toni Kroos mit seinem Passspiel oder Paul Pogba mit seiner Ruhe am Ball.
Der Sechser ist auch im besonderen System von Tim Walter eine prägende Figur. Wie war denn Ihr erster Eindruck vom Tim-Walter-Fußball in Kiel?
Karazor: Es war am Anfang nicht leicht für mich. Ich bin aus einer Saison gekommen, in der ich wenig gespielt hatte und war nicht gerade mit dem größten Selbstbewusstsein ausgestattet. Zu Beginn saß ich nur draußen, bis mir der Trainer nach zehn, zwölf Spieltagen die Chance gab. Diese konnte ich zum Glück nutzen und das umsetzen, was er sehen wollte. Seit diesem Zeitpunkt ist mir das System vertraut.
Atakan Karazor: "Diesen Fußball siehst du so praktisch nirgends"
Und sind begeistert?
Karazor: Total begeistert. Mich fasziniert vor allem die Einzigartigkeit der Spielphilosophie. Diesen Fußball siehst du so praktisch nirgends. Es ist sicher sehr komplex und am Anfang auch verwirrend, wenn man es noch nicht kennt, aber ich finde es überragend, wie jeder im Team diesen neuen Ansatz annimmt und sich voll darauf einlässt.
Was würden Sie denn als die wichtigsten Merkmale bezeichnen?
Karazor: Man kann es schwer in ein Schema pressen. Natürlich wollen wir dominanten Ballbesitzfußball spielen, aber es gibt auch Umschaltmomente, es ist eine Mischung. Die wichtigste Charakteristik sind sicher die extrem vielen Positionswechsel. Bewegung ist das A und O. Und jeder Spieler ist darin eingeschlossen, auch der linke Stürmer, der vielleicht gerade gar nichts mit der Spielsituation zu tun hat. Die Aufmerksamkeit eines jeden Spielers muss zu jeder Sekunde zu hundert Prozent da sein, damit bei den ständigen Positionswechseln auch die Räume immer wieder geschlossen werden können. Es ist alles sehr dynamisch.
Was heißt das für Sie auf der Sechs?
Karazor: Im Ballbesitz bin ich dafür zuständig, immer wieder Wege zu machen und Räume freizulaufen, damit andere Spieler dort reinstoßen können. Außerdem ist es meine wichtigste Aufgabe auf der Sechs, bei Ballverlust im Gegenpressing sofort da zu sein und zu versuchen, den zweiten Ball zu gewinnen. Das ist meine Verantwortung.
Atakan Karazor: "Tim Walter packt dich"
Der Ansatz ist sehr mutig und sorgt gerade in letzter Reihe gerne mal für 1:1-Situationen, die bei verlorenem Zweikampf sofort zum Gegentor führen können. Ein 3:2 ist so ein wahrscheinlicheres Ergebnis als ein 1:0.
Karazor: Es ist ohne Zweifel eine mutige Philosophie. Aber es ist vor allem unsere Philosophie. Wir müssen diese Philosophie leben. Dann akzeptieren wir eben auch mal, dass wir einen fangen. Wenn wir es gut machen, schießen wir vorne mehr Tore, als wir hinten kassieren. In diesem System kannst du viele Chancen kreieren, das war auch in Kiel so.
Was ist Tim Walter für ein Typ?
Karazor: Jeder weiß, was er taktisch draufhat, aber für mich ist er vor allem ein Trainer, der die Spieler mitzieht. Er ist so unglaublich von seinem Weg überzeugt, dass er dich damit total ansteckt. Dass du sagst: "Boah, da bin ich dabei." Er packt dich.
Er hat eingeführt, dass es auch im Training ständig um irgendetwas geht.
Karazor: Ja, verlieren muss wehtun. Das ist sein Credo und das lebt er damit vor. Und es macht wirklich einen Unterschied. Ich erinnere mich, wie ich früher in Trainingsspielen auch mal nicht bis in die Haarspitzen motiviert war, um ein Spiel noch zu drehen. Aber jetzt liegst du 0:1 hinten und denkst dir: "Wir müssen das unbedingt noch gewinnen. Ich habe nämlich keinen Bock, zu verlieren und als Strafe vor allen Leuten irgendeinen Quatsch machen zu müssen." Arschbolzen, Ohrenschnipsen, Huckepack-Läufe - das will ja keiner. (lacht)