Cem Özdemir im Interview über den VfB: "Auf dem Sterbebett werde ich mich an diesen Moment erinnern"

Cem Özdemir ist VfB-Fan mit Leib und Seele.
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Wie beurteilen Sie denn generell die Entwicklung beim VfB rund um den Rücktritt von Präsident Wolfgang Dietrich?

Özdemir: Ich war ehrlicherweise nie ein Fan von Wolfgang Dietrich. Schon früher zu seinen Stuttgart-21-Zeiten nicht und auch beim VfB nicht. Aber Fairness muss sein: Es wäre unfair zu sagen, dass er alles falsch gemacht hat. Und es wäre unfair, ihn für alles verantwortlich zu machen, was schiefgelaufen ist. Wenn er so gerne von der Einstimmigkeit der Entscheidungen gesprochen hat, heißt das auch, dass sich noch ein paar andere Herren an die eigene Nase fassen müssen. Nur alles auf Dietrich abzuladen, ist mir zu einfach. Aber ich gebe zu, dass ich mich immer wieder an die Zeiten unter Erwin Staudt zurückgesehnt habe. Staudt war für mich der VfB-Präsident der Herzen. Mit ihm habe ich mich auch persönlich gut verstanden, wir waren sogar mal zusammen unterwegs, als der VfB ein Pokalspiel in Babelsberg hatte.

Sie waren ja selbst bei der jetzt für immer berühmten Mitgliederversammlung vor Ort. Mit welchem Gefühl sind Sie an diesem Tag aus dem Stadion gegangen?

Özdemir: Erstmal war ich überrascht, dass der VfB tatsächlich keinen Plan B auf Lager hatte. So etwas sollte einfach nicht passieren. Ich habe in meiner Laufbahn als Politiker erlebt, dass es immer mal wieder Pannen geben kann, aber normalerweise hat man dafür dann einen Plan B in der Hinterhand. Nach der Mitgliederversammlung war mir ziemlich klar, dass sie zum Rücktritt von Wolfgang Dietrich führen würde. Die Situation war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu retten. Ich hätte es ihm gegönnt, sich einen besseren und versöhnlicheren Abgang zu verschaffen und selbst die Konsequenzen zu ziehen. Er hat sich jedoch für einen anderen Weg und eine andere Wortwahl zum Abschied entschieden.
Die einzig positive Erkenntnis der Mitgliederversammlung war, dass die Dietrich-Kritiker starke und fundierte Reden hielten.

Özdemir: "Darum wird der VfB weltweit beneidet"

Hatten Sie das nicht so erwartet?

Özdemir: Wenn ich ehrlich bin, hatte ich große Angst, dass es sehr aggressiv und verletzend werden würde. Ich bin aus Bad Urach gekommen und habe beinahe an jeder Brücke die "Dietrich-Raus"-Plakate gesehen. Ich hatte Sorge, dass es unter die Gürtellinie gehen würde. Umso beeindruckter war ich dann von den Reden. Ganz überwiegend haben es die Redner geschafft, ihre Beiträge in so einer anständigen Art und Weise vorzutragen, dass es diejenigen, die pro Dietrich waren, zum Nachdenken anregen musste.

Wie geht es jetzt weiter?

Özdemir: Wir müssen den Blick jetzt nach vorne richten und schauen, dass wir nicht zum HSV des Südens mutieren, wie es ein Redner formuliert hat. Leider ist da etwas Wahres dran. Man muss sich allein mal vor Augen halten, wie oft der VfB in der Amtszeit von Angela Merkel den Trainer gewechselt hat, da sind wir auf jeden Fall Rekordhalter. Der Verein suchte nach seiner verlorenen Identität. Wofür steht der VfB? Ich konnte das lange Zeit auch nicht mehr beantworten. Jetzt haben wir einen spannenden neuen Trainer mit einer spannenden Spielidee, das ist unheimlich erfrischend. Das hatten wir vielleicht seit den Zeiten des magischen Dreiecks nicht mehr.

Das ist eine gefühlte Ewigkeit her.

Özdemir: Man merkt, wie dankbar alle Fans dafür sind, dass jemand da ist, der eine Idee hat. Viele Jahre stand uns als Fans die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben, jetzt wendet es sich hoffentlich gerade ganz langsam zum Positiven. Hoffentlich wird der VfB die Rückschläge, die unweigerlich kommen werden, diesmal mit Geduld aushalten und dem eingeschlagenen Weg treu bleiben. Und hoffentlich können alle Fans in einiger Zeit wieder mit stolzgeschwellter Brust durchs Land reisen und sagen: Hey, ich bin Fan vom VfB Stuttgart.

Wenn man sich die 30.000 verkauften Dauerkarten oder die Bilder der Karawane Cannstatt vor dem ersten Heimspiel anschaut, sind das auch gute Zeichen.

Özdemir: Der Funke ist spürbar übergesprungen. Auch wenn ich an die Reaktion der Fans auf Maxime Awoudjas unglückliches Debüt denke, die VfB-Fans sind eine Bank. Wie stand es in der Kurve: Die einzige Konstante sind wir Fans. So ist es. Der VfB kann stolz auf diese Unterstützung sein und muss sie zu schätzen wissen. Diese Fankultur ist gerade in diesen Zeiten, in der das Fußballgeschäft manchmal absurde und irrsinnige Züge annimmt, unbezahlbar. Wenn ich im Ausland bin, können es die Leute nie verstehen, wie der VfB in der 2. Liga über 50.000 Zuschauer ins Stadion lockt. Darum wird der VfB weltweit beneidet.

Özdemir über Hitzlsperger: "Für mich zeigt es eine tiefe Sehnsucht der Fans"

Glauben Sie, dass die dringend benötigte Demut inzwischen Einzug gehalten hat? Wenn man an den etwas arg inszenierten Trainingsauftakt denkt, könnte man Zweifel bekommen.

Özdemir: Ich glaube nicht, dass so eine Entscheidung aus der sportlichen Führung kommt.

Nein, bestimmt nicht. Aber sie ist dennoch bezeichnend.

Özdemir: Es kann keinen Zweifel daran geben, dass der VfB erstmal Demut walten lassen sollte. Die Zeit der vollmundigen Ankündigungen muss vorbei sein. Es ist doch ohnehin nicht die schwäbische Art, große Töne zu spucken. Unsere schwäbische Art ist das Understatement. Darauf sollte sich der VfB besinnen und Erfolge auf dem Platz für sich sprechen lassen.

Thomas Hitzlspergers Standing ist Messias-like, wie auch auf der Mitgliederversammlung zu sehen und zu hören war. Woher rührt das?

Özdemir: Als der Name Hitzlsperger fiel, waren alle plötzlich euphorisch. Für mich zeigt es eine tiefe Sehnsucht der Fans. Eine Sehnsucht nach den Werten, für die Thomas Hitzlsperger steht. Und eine Sehnsucht danach, dass endlich wieder der Fußball im Mittelpunkt steht und keine skurrilen Debatten.

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