Darmstadts Sportchef Carsten Wehlmann: Der stille Macher im Hintergrund

Stefan Rommel
15. Mai 202209:51
Carsten Wehlmann ist seit Februar 2019 sportlicher Leiter beim SV Darmstadt 98getty
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Torsten Lieberknecht? Kennt jeder. Carsten Wehlmann ist dagegen ein fast unbeschriebenes Blatt. Wer ist der Mann, der die Außenseiter Kiel und Darmstadt ans Tor zur Bundesliga geführt hat?

Neulich tauchte Carsten Wehlmann tatsächlich für ein paar Momente prominent im Fernsehen auf. In der hitzigen Schlussphase des Darmstädter Spiels in Düsseldorf ging Wehlmann für seine Verhältnisse richtig aus dem Sattel, stellte sich beim vierten Offiziellen vor und hatte dem ein paar Takte zu sagen.

Darmstadt vs. Paderborn, Sonntag, 15.30 Uhr im LIVETICKER

Genutzt hat das alles nichts, die Lilien verloren die Partie mit 1:2 und damit auch die Chance, sich aus eigener Kraft den Aufstieg in die Bundesliga zu sichern. Aber dass der SV Darmstadt 98 sich überhaupt so weit oben festsetzen konnte unter den ganzen Großkopferten Schalke 04, Werder Bremen oder dem Hamburger SV und die Chance auf die Bundesliga weiter lebt: Das ist mehr als eine Überraschung, das ist eine kleine Sensation. Und Carsten Wehlmann ist ihr Baumeister.

Wehlmann: Der ruhige Gegenpol zu Lieberknecht

Torsten Lieberknecht ist das Gesicht der Lilien, der "Zampano", der mit seiner mitreißenden Art wie gemacht scheint für diesen Klub. Da tut ein ruhiger Gegenpol offenbar ganz gut. Einer, der auch in turbulenteren Zeiten die Ruhe bewahrt und kühlen Kopf. Und der genug Expertise und Fachwissen auf den unterschiedlichen Gebieten mitbringt, um den Job des sportlichen Leisters bei einem Zweitligisten mit großem Erfolg auszufüllen.

Denn das, was sich in Darmstadt in den letzten knapp vier Jahren unter Wehlmanns sportlicher Führung entwickelt hat, ist auch unabhängig vom möglichen Aufstieg in die erste Liga eine bemerkenswerte Geschichte. Die Lilien hatten im Sommer 2018 eine durchwachsene Saison hinter sich, waren als Absteiger aus der Bundesliga nie wirklich dran an den vorderen Plätzen und mussten stattdessen bis zum letzten Spieltag um den Klassenerhalt zittern.

Darmstadt hatte davor zwar zwei Jahre lang in der Bundesliga mitspielen dürfen, der sportliche Erfolg brach damals aber über einen schlecht vorbereiteten Zweitligisten förmlich herein. Es fehlte an der entsprechenden Infrastruktur für Erstliga-Fußball, das Stadion war marode und hinter den Kulissen der Lizenzspielermannschaft fehlte es an Konzepten, Ideen, Strukturen. Und an jemandem, der das alles in die Hand und unter einen Hut bringen kann.

In Kiel hatte Wehlmann als Chefscout auf sich aufmerksam gemacht, den Underdog nicht nur in die zweite Liga geführt, sondern auch bis ans Tor zu Bundesliga. Mit schlauen, kostengünstigen Transfers und der einen oder anderen Idee, wie die Verzahnung von Nachwuchsabteilung und Lizenzspielermannschaft in Zukunft noch enger funktionieren könnte.

Wehlmann: Gewagte erste Entscheidung

Damals hatte Dirk Schuster in Darmstadt als eine Art Teammanager nach britischem Vorbild das Sagen, für die nötigen Impulse hinter den Kulissen wurde Wehlmann geholt. Ein gutes halbes Jahr später war Schuster weg und das Vakuum größer als je zuvor. Wehlmann wurde zum sportlichen Leiter befördert und sorgte gleich mit seiner ersten großen Entscheidung für Aufsehen: Der neue starke Mann holte keinen der etablierten Trainer ans Bölle, sondern mit Dimitrios Grammozis den Trainer der Bochumer U19.

Ein Wagnis, aber auch eine Entscheidung, die die dank gründlicher Vorarbeit reifen konnte: Es wird nur wenige Verantwortliche im deutschen Profi-Fußball geben, die sich in den letzten zehn, 15 Jahren mehr Wissen über Spieler, Trainer und Verantwortliche der zweiten bis runter zur vierten Liga angeeignet haben als Wehlmann.

In seiner Kieler Zeit verbrachte der die Wochenende auf den Fußballplätzen der Republik, manchmal auch in Österreich und in der Schweiz, auch Dänemark war ein gerne genutztes Ziel. An die 800.000 Kilometer dürften da zusammengekommen sein, vielleicht auch ein bisschen mehr, sagt Wehlmann im Gespräch mit SPOX undGOAL.

Und davon profitiert er nun in Darmstadt: Bei einem Klub, der wegen seiner bescheidenen finanziellen Mittel kreative Entscheidungen treffen muss und nur sehr wenig mit Geld regeln kann. "Wir wollen junge Spieler holen, die wir entwickeln können und damit Werte zu schaffen. Dafür hilft es dann schon, sich im Markt gut auszukennen und vernetzt zu sein. Wenn du viele Spiele und Spieler gesehen hast, ist das der Fall", sagt Wehlman und schiebt dann sofort hinterher: "Aber das hier ist keine One-Man-Show, wir machen alles gemeinsam als Team."

Wehlmann: Ein Leuchtturm in schwerer See

Dieser Fokus auf das Team und seine Mitarbeiter zieht sich wie ein roter Faden durch Wehlmanns Amtszeit. Und auch die Art und Weise, wie er und damit sein Klub mit Rückschlägen oder Schwierigkeiten umgehen will.

"Wir hatten speziell in der einen oder anderen Hinserie mit jeweils einem neuen Trainer auch schwierige Phasen. Aber die muss man dann auch durchstehen. Da braucht es dann Ruhe und Vertrauen in das, was man sich vorgenommen hat und eine gewisse Standhaftigkeit", erinnert sich der 49-Jährige auch an die unangenehmen Zeiten im Klub.

Dann braucht es auch eine gewisse Robustheit, wie so ein Leuchtturm in schwerer See. Das Bild gefällt Carsten Wehlmann sehr gut, als Sohn einer Krankenschwester und eines Kapitäns ist er nicht nur in Hamburg aufgewachsen, sondern wollte selbst sehr gerne auch zur See fahren. Als gelernter Schifffahrtskaufmann hätte das auch funktionieren können. Der Fußball kam dazwischen, spülte Wehlmann als Torhüter in den Profibereich und zum HSV, zum FC St. Pauli, nach Hannover, nach Lübeck.

Nach der aktiven Laufbahn nahm er ein Angebot aus Katar an, half dort die heimische Liga zwei Jahre lang zu entwickeln und professionalisieren, ehe er nach der Geburt seiner Tochter wieder zurück nach Deutschland und dann zu Holstein Kiel ging. Zehn Jahre lang blieb er in Kiel, nun sind es auch schon fast vier Jahre in Darmstadt. Die viel zitierte Kontinuität schreiben sich Klubs gerne in ihr Leitbild - gelebt wird das dann aber in den seltensten Fällen. Bei Carsten Wehlmann ist das anders.

"...am Ende gehört auch eine Portion Glück dazu"

Mit Fleiß, Akribie und der nötigen Neugier auf Neues hat sich Wehlmann nach oben gekämpft. "Ich würde mich als einen aufgeschlossenen Typen bezeichnen, der gerne neue Menschen kennenlernt und neugierig für andere Dinge ist. Deshalb habe ich mich damals dazu entschlossen, den Weg als Scout zu gehen - auch wenn das deutlich mehr Entbehrungen bedeutete."

Nebenbei hat er sich vor Jahren schon im Feld der Spiel- und Gegneranalyse weitergebildet, aktuell lernt er in einem Kurs der Universität St. Gallen über Führungs- und Sozialkompetenzen oder Verhandlungstechniken und -taktiken.

"In dem Geschäft sollte man sich immer weiterentwickeln. Wer sich ausschließlich auf frühere Erfahrungswerte verlässt, bleibt ganz schnell stehen und läuft Gefahr, die Konkurrenz nur so an sich vorbeiziehen zu sehen", sagt er. Und das spiegelt sich dann auch in der täglichen Arbeit wider. Darmstadt hat den ohnehin schon engen Etat in den letzten Jahren nochmals deutlich eingedampft und dürfte damit allenfalls im Mittelfeld der Liga liegen.

"Wir müssen bei unserem Budget total über die Gruppe kommen, über Identifikation, Leidenschaft, Zusammenhalt. Wenn du das in der 2. Liga hast, kannst du auch einiges erreichen, davon bin ich fest überzeugt. Man kann vorausschauend agieren und einiges planen - aber am Ende gehört da auch eine gewisse Portion Glück dazu. Das darf man nie vergessen."

Darmstadt 98: Der Traum vom Aufstieg ist noch nicht vorbei

Deshalb verfolgen sie in Darmstadt mit einem sehr überschaubaren Scouting-Team einen etwas anderen, datenbasierten Ansatz, der vor der qualitativen Analyse, den Eindrücken vor Ort und dann den Gesprächen mit den Spielern die Auswahl begrenzt. So gingen und gehen dann auch junge Spieler ins Netz, deren Einsatzzeiten wiederum von der DFL über die Ausschüttung aus dem Nachwuchsfördertopf honoriert wird. Und die den Lilien ganz nebenbei auch den sportlichen Erfolg brachten.

Die Chance auf die Bundesliga ist nach der Niederlage in Düsseldorf zwar nicht mehr ganz so groß - aber sie ist immer noch da.

"Wir sind jetzt zwar etwas in der Hinterhand, aber wir haben einen Vorteil: Der Druck liegt ganz klar bei der Konkurrenz. Wir sehen die Ausgangslage als absolutes Privileg an: Mit diesen vermeintlich großen Mannschaften da oben zu stehen. Also genießen wir weiter jedes Spiel, auch das letzte jetzt gegen Paderborn. Das wollen wir mit unseren Fans im Rücken seriös angehen und drei Punkte einfahren", sagt Wehlmann und kommt dann doch noch ein bisschen aus der Reserve: "Und wenn die Möglichkeit besteht, den Traum doch noch zu erfüllen, dann greifen wir voll an!"

2. Bundesliga: Tabelle nach 33 Spieltagen

PlatzVereinSpieleToreDifferenzPunkte
1.Schalke 043370:432762
2.Werder Bremen3363:432060
3.Hamburger SV3364:333157
4.Darmstadt 983368:462257
5.St. Pauli3359:461354
6.Paderborn3356:411551
7.Nürnberg3348:47151
8.Heidenheim3341:45-449
9.Holstein Kiel3345:51-645
10.Fortuna Düsseldorf3345:40544
11.Karlsruher SC3354:53141
12.Hansa Rostock3339:49-1041
13.Jahn Regensburg3350:49140
14.Hannover 963332:47-1539
15.Sandhausen3339:53-1438
16.Dynamo Dresden3333:45-1232
17.Erzgebirge Aue3331:72-4123
18.Ingolstadt3328:62-3421