"Ich sah da diese Rakete sitzen"

Florian Regelmann
08. April 201513:40
Spaßvogel: Mimi Kraus bei der Handball-WM in Katar.getty
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Niemand im deutschen Handball wandelt so zwischen Genie und Wahnsinn wie Michael "Mimi" Kraus. Im persönlichen SPOX-Interview spricht der 31-Jährige über den Tag, als er seine Frau kennenlernte, seine Wandlung vom Chaoten zum verantwortungsvollen Vater und seinen Doping-Alptraum. Außerdem: Eine mögliche Karriere als Trainer und das Zittern mit seinem VfB.

SPOX: Mimi, zu Beginn müssen wir über ein sehr trauriges Thema sprechen: den VfB Stuttgart. Sie sind bekanntermaßen ein glühender VfB-Fan. Wie sehr leiden Sie aktuell?

Michael Kraus: Es ist echt schwer. Ich bin ziemlich gut mit Chris Gentner befreundet und erleide momentan schier unerträgliche Qualen. Mein Teamkollege Manuel Späth ist auch großer VfB-Fan, wir drücken natürlich beide die Daumen, dass es mit dem Klassenerhalt noch klappt oder dass es wenigstens noch für die Relegation reicht. Denn eins ist klar: Eine Liga ohne den VfB ergibt keinen Sinn.

SPOX: Können Sie sich vorstellen, was ein Abstieg für einen Verein wie den VfB bedeuten würde?

Kraus: Ich weiß nicht, wie gefestigt das Umfeld dann wirklich ist. Aber der VfB ist an sich ja bekannt für seine treuen Fans und auch für seine treuen Sponsoren. Sollte der Weg in die 2. Liga gehen, bin ich eigentlich schon sicher, dass der direkte Wiederaufstieg gelingen würde. Aber daran will ich gar nicht denken. Ich bin Optimist und glaube, dass es mindestens für die Relegation reicht. Und da wird dann egal wer aus dem Stadion geschossen.

SPOX: Es könnte eine Relegation gegen den KSC geben. Ausgerechnet Karlsruhe.

Kraus: Die schicken wir dann direkt wieder mit einer 4:0-Packung aus dem Stadion zurück. (lacht)

SPOX: Bei Frisch Auf läuft es nach einer schwierigen letzten Saison in diesem Jahr sehr ordentlich. Der 5. Platz ist das große Ziel. Wie zufrieden sind Sie mit der Saison in Göppingen?

Kraus: Wenn man die Hinrunde betrachtet, können wir nicht ganz zufrieden sein. Wir hatten vier oder fünf richtig schwache Spiele dabei. Dummerweise waren es immer die TV-Spiele, die so richtig desaströs waren und unser wahres Leistungsvermögen nicht widergespiegelt haben. Wir möchten jetzt mit aller Macht diesen fünften Platz erreichen, damit die Qualifikation für den Europapokal für die nächste Saison steht. Da gilt es, bis zum Saisonende noch eine Schippe draufzulegen.

SPOX: Wenn man ehrlich ist, wäre der 5. Platz ja so was wie eine Art Maximum, was derzeit in Göppingen rauszuholen ist. An Kiel, Flensburg und die Löwen wird man kaum rankommen. Jemand wie Sie muss aber eigentlich den Anspruch haben, um Titel mitzuspielen und in der Champions League auf der Platte zu stehen. Wie soll das in Göppingen möglich sein?

Kraus: Wenn wir unser komplettes Potenzial abgerufen hätten, würden wir schon in dieser Saison noch weiter oben stehen. Es ist generell in Göppingen zu spüren, dass das Umfeld mehr möchte. Wir sind für die nächste Saison auch schon sehr gut aufgestellt. Wir haben uns auf den Außen, im Innenblock und am Kreis punktuell verstärkt und werden eine noch stärkere Mannschaft haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass in dieser Truppe noch mehr Potenzial steckt. Ich habe noch einen Vertrag bis 2016, wir werden sehen, wo wir dann in Göppingen stehen. Natürlich habe ich hohe Ansprüche an mich und es ist immer etwas Besonderes, in der Champions League zu spielen. Mit Frisch Auf Champions-League-Luft schnuppern zu können, wäre toll. Ich halte das auf keinen Fall für ausgeschlossen, aber wir sind sicher gut bedient, einen Schritt nach dem anderen zu machen.

SPOX: Sie glauben also, dass Frisch Auf auf Sicht vielleicht auch wieder um die Meisterschaft spielen kann?

Kraus: Es gibt keine Selbstverständlichkeiten in der HBL. Es muss vom finanziellen Rahmen her passen, das Gefüge aus Mannschaft, Trainer und Umfeld muss stimmen, es muss wirklich jedes Rädchen ineinandergreifen. Aber es ist auch völlig klar, dass wir nicht die finanziellen Möglichkeiten haben wie die Löwen und der THW. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir da anklopfen können. Aber mein absoluter Traum ist es, mit meinem Heimatverein einen Titel zu gewinnen. Das will ich angehen, aber dafür heißt es: 'Leistung bringen, Mimi!' (lacht)

SPOX: Sie sind Weltmeister geworden, Sie haben mit dem HSV die Champions League und mit Lemgo den EHF-Pokal gewonnen. Bei allen großen Titeln hatten Sie einen ganz entscheidenden Anteil. Wenn wir an die WM 2007 denken, was schießen Ihnen für Bilder in den Kopf?

Kraus: Ich sehe mich gerade mit der deutschen Flagge um den Körper gewickelt in Richtung Zuschauer laufen. Das ist so ein Bild von den Feierlichkeiten, an das ich sofort denken muss. Ich habe generell noch jedes einzelne Spiel vor Augen und weiß noch genau, wie es lief. Als wäre es gestern gewesen. Die WM war eine unglaublich tolle Erfahrung und wird mich mein Leben lang begleiten. Trotzdem bin ich jemand, der nicht so sehr in Erinnerungen schwelgt, sondern lieber in die Zukunft schaut. Wir sollten auf das schauen, was noch kommt. Das noch bevorstehende ist doch das Schönste.

SPOX: Nach Ihrer sensationellen WM entstand ja damals gefühlt der Eindruck, dass Mimi Kraus jetzt jedes Jahr Welthandballer wird und eine ganz große Karriere startet. Ganz so ist es nicht gekommen. Bereuen Sie etwas im Nachhinein?

Kraus: Nein, überhaupt nicht. Es sind sehr viele hypothetische Sachen dabei. Was wäre gewesen, wenn ich vielleicht dies oder das anders gemacht hätte? Ich kann es nicht beantworten. Es ist gut so, wie es ist. Wäre mein Leben anders verlaufen, hätte mich mein Weg nicht nach Hamburg geführt und ich wäre jetzt nicht mit dieser tollen Frau verheiratet und hätte nicht das wunderbarste Kind auf der Welt. Es kommt so, wie es kommen soll.

SPOX: Ob bei der WM oder im CL-Finale in Halbzeit zwei, wenn Sie mal heiß liefen, dann konnte Sie niemand mehr stoppen. Wie ist es, wenn man auf der Platte steht und "in the zone" ist?

Kraus: Das sind Spiele und Momente, für die ein Sportler lebt. Gerade ein Champions-League-Finale erlebst du ja nicht jeden Tag, sondern vielleicht einmal im Leben. Ich habe mir immer gesagt: 'Junge, geh' raus auf die Platte und spiel einfach das Spiel, das du so liebst.' Das hat bei mir immer ganz gut funktioniert. In großen Spielen vor einer großen Kulisse einen Lauf zu bekommen und dem Spiel seinen Stempel aufzudrücken, macht enorm Spaß. Ich hätte vielleicht häufiger solche Leistungen abrufen können, aber ich habe es früher einfach nicht geschafft, den Fokus zu 100 Prozent auf Handball zu legen. Ich war vom Typ her immer ein Lebemann, so ist einfach mein Charakter. Jedes Mal, wenn ich fokussiert war, hat es sensationell geklappt. Aber es ist ein langer Lernprozess und du musst viele Erfahrungen sammeln, bis du das alles richtig einordnen kannst. Wenn ich damals schon ein paar Sachen gewusst hätte, wäre wahrscheinlich auch einiges anders gelaufen.

SPOX: Bei der WM in Katar sind Sie in diesem Jahr ganz spät doch noch in den Kader gerutscht, konnten aber kaum Impulse setzen. Sie sind erst 31 Jahre alt, wie sehen Sie Ihre Zukunft im DHB-Team?

Kraus: Ich möchte weiter für die Nationalmannschaft spielen und hoffe, dass es nicht mein letztes Turnier gewesen ist, das ist ganz klar. Nachdem ich den ganzen Dezember verletzt war, habe ich mich sehr gefreut, dass ich am Ende noch nominiert wurde. Aber mir war auch bewusst, dass ich von den Spielabläufen keine hundertprozentige Sicherheit haben würde. Das beschäftigt einen dann auch sehr während des Turniers. Ich habe versucht, irgendwie in den Flow reinzukommen, aber du kannst nicht innerhalb von ein paar Wochen alle Spielzüge komplett verinnerlichen. Diese Sicherheit, dass ich mitten in der Nacht aufstehen kann, die Spielzüge perfekt kenne und befreit aufspiele, fehlte mir. Das hat meine Spielanteile logischerweise schrumpfen lassen. Nichtsdestotrotz können wir als Team ein positives Fazit der WM ziehen und mit breiter Brust in die nächsten Turniere gehen.

SPOX: Dennoch kann ein 7. Platz ja eine Handball-Nation wie Deutschland per se nicht zufrieden stellen. Wie lange dauert es noch, bis das Team wirklich wieder um Medaillen spielen kann?

Kraus: Es wächst gerade wieder etwas Tolles zusammen. Wenn wir einen etwas anderen Lauf bekommen hätten als im Viertelfinale gegen Katar, hätten wir jetzt schon nach einer Medaille greifen können. Das Potenzial ist da, die Qualität ist vor allem da, das ist ganz wichtig. Die Mannschaft ist extrem hungrig und war wirklich sehr enttäuscht nach dem Ausscheiden. Das zeigt mir, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

SPOX: Dagur Sigurdsson hat frischen Wind in die Mannschaft gebracht. Was zeichnet den Bundestrainer aus?

Kraus: Dagur gibt ganz klare Vorgaben und sagt jedem unmissverständlich, was er haben will. Er legt sehr viel Wert auf eine starke Abwehr, im Zusammenspiel mit den Torhütern, und auf schnelle Gegenstöße. Die Ausrichtung passt optimal zur Mannschaft, dazu stimmt die Mischung im Team. Der Teamgeist war herausragend gut. Für sein erstes Turnier war er auch sehr cool und abgezockt. Dagur ist wie ein Schwamm, der alles aufsaugt und die Gabe hat, seine Erfahrungen brutal schnell an die Mannschaft weiterzugeben. Das ist eine seiner großen Stärken.

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SPOX: Stefan Kretzschmar hat in seinem WM-Tagebuch mit Ihnen bereits die Zeit nach der Karriere angesprochen. Beim Gedanken, Sie könnten mal Trainer werden, meinte Kretzsche: 'Gott bewahre.' Das denkt sich wohl jeder.

Kraus: (lacht) Wahrscheinlich. Ganz im Ernst: Ich glaube, dass ich ein guter Trainer wäre. Ich wäre natürlich jemand, der dann sehr viel über die Motivation kommen würde. Mal schauen, es ist nicht die erste Option für mich. Im Moment stehe ich noch so voll im Saft, der Fokus liegt auf Handball. Ich studiere jetzt nebenbei erst mal internationales Business Management, weil ich mir natürlich schon ein paar Gedanken mache über die Zeit nach der Karriere. Ich würde gerne einen möglichst nahtlosen Übergang schaffen. Ich versuche, schon mal ein paar Kontakte zu knüpfen, auch im Medienbereich. Ich fühle mich auf jeden Fall sehr wohl vor der Kamera, wer weiß wo der Weg hinführt.

SPOX: Vielleicht ja auch ins Showgeschäft. "Schlag den Mimi"?

Kraus: (lacht) Ich will mich da überhaupt nicht einschränken, Showformate wären auf jeden Fall auch sehr interessant.

SPOX: Sie haben Ihre Frau Isabel vorhin schon angesprochen. Die Geschichte Ihres Kennenlernens ist ganz nett. Wie war Ihr Plan, sich an Sie heranzupirschen?

Kraus: (lacht) Ich hatte gar keinen Plan. Es war so: Ich war in der Abendschule und kam in die Klasse rein. Ich weiß nicht, ob es mein Unterbewusstsein war, auf jeden Fall schaute ich nach rechts und sah da diese kleine Rakete sitzen. Ich dachte mir: 'Dahinter ist bestimmt noch ein Platz frei.' Und so war es auch. Also habe ich es mir hinter ihr gemütlich gemacht. Wir haben dann im ersten halben Jahr aber gar nicht viel miteinander gesprochen, wir waren beide zu dem Zeitpunkt noch liiert. Irgendwann musste sie dann komischerweise über meinen Humor lachen, das hat das Eis so langsam gebrochen.

SPOX: Jetzt haben Sie gemeinsam Töchterchen Zoe Helene. Und Mimi, der Chaot, ist plötzlich Papa.

Kraus: Solange man nicht selbst Papa geworden ist, ist es schwer zu verstehen, was das mit dir macht. Sobald du dein eigenes Fleisch und Blut in den Händen hältst und dich dieses kleine Geschöpf jeden Tag anlacht, ist es ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Da kommen dir sogar die Tränen. Seit meine Tochter auf der Welt ist, sehe ich das Leben mit ganz anderen Augen. Ich weiß jetzt, was richtige Verantwortung bedeutet. Ich bin verantwortlich für dieses kleine Geschöpf, dass es ihm gut geht und es glücklich und zufrieden ist. Eine größere Verantwortung gibt es gar nicht.

SPOX: Umso schlimmer muss die NADA-Geschichte gewesen sein, als Sie gegen die Meldepflicht verstießen und Ihre Karriere auf dem Spiel stand. Wie viele schlaflose Nächte hatten Sie?

Kraus: Sehr viele. Es war mit die schwerste Phase in meinem Leben. Ich hatte eine schwangere Frau zuhause, um die ich mich kümmern will und für die ich eine Fürsorgepflicht habe. Wenn du dann damit konfrontierst wirst, dass deine Karriere vielleicht vorbei sein könnte, ist das nicht einfach. Ich lag schlaflos im Bett und habe mir Gedanken gemacht - die wünsche ich meinem schlimmsten Todfeind nicht. Deshalb war ich auch umso glücklicher, als der Freispruch kam. Solche Phasen prägen einen, aber ich will so etwas nie wieder durchleben müssen.

SPOX: Der entscheidende Punkt in Ihrem Fall war die Geschichte mit der defekten Klingel, weshalb ein Kontrolleur Sie einmal nicht antraf. Wie lief die Sache aus Ihrer Sicht ab?

Kraus: Meine Frau und ich haben zu dem Zeitpunkt in einem Neubau gewohnt. Wir waren zuhause und wissen nicht, ob die Klingel jetzt funktioniert hat oder nicht, auf jeden Fall haben wir sie nicht gehört. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist und ob Sie jedes Mal die Klingel hören, wenn es um 5.58 Uhr morgens klingelt?

SPOX: Höchstwahrscheinlich nicht.

Kraus: Der Kontrolleur war sich auch nicht sicher, ob er die Klingel gehört hat oder nicht. Was viele Leute nicht verstanden haben und was ich noch einmal klarstellen will: Ich befürworte das System an sich total und stehe für einen sauberen Sport. Ich bin in der Vergangenheit häufig kontrolliert worden. Jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis: negativ. Wir brauchen die Kontrollen für einen sauberen Sport, wir sollten das System aber überdenken und uns Gedanken machen, wie die Kontrollen durchgeführt werden. Kein Sportler hat ein Problem, vor oder nach dem Training kontrolliert zu werden, von mir aus auch zweimal am Tag. SPOX

SPOX: Aber so läuft es ja nicht immer ab, stattdessen sind die wildesten Geschichten zu hören. Sie wurden in Ihrer Hochzeitsnacht kontrolliert, Basketball-Nationalspieler Per Günther hat sich einmal extrem darüber aufgeregt, wie bizarr es ist, wenn morgens ein Fremder in deinem Wohnzimmer chillt.

Kraus: Ich habe mit Per auch darüber gesprochen. Es gibt schon ein paar krasse Geschichten, die sich ein Nicht-Sportler so gar nicht vorstellen kann. Es ist kein so tolles Gefühl, wenn morgens um 6 Uhr irgendjemand bei dir an der Tür klingelt und dir eine Blut- und Urinprobe entnehmen will. Oder die Sache, dass du drei Monate im Voraus sagen musst, wo du dich aufhältst. Ich weiß natürlich nicht immer, wo ich in zwei Monaten genau sein werde und muss dann irgendwas eintragen. Es gibt sicher bessere Methoden. Die Vereine könnten die Trainingspläne versenden, sodass unangemeldete Kontrollen auch so jederzeit möglich wären. Und ob ich um 6 Uhr zuhause oder um 9 Uhr in der Arena kontrolliert werde, macht doch keinen Unterschied.

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Michael Kraus im Steckbrief