Dagur Sigurdsson setzt in der letzten Phase der Vorbereitung auf die EM in Polen auf 18 Spieler, bevor spätestens am Abend vor dem Spiel gegen Spanien (Sa., 18.30 Uhr im LIVETICKER) noch einmal zwei Akteure gestrichen werden. Mit dabei: Potenzielle Durchstarter, ein alter Hase, ein Weltklasse-Mann und gefährliche Lücken.
Torhüter
Carsten Lichtlein (VfL Gummersbach), Andreas Wolff (HSG Wetzlar)
Lange war Silvio Heinevetter die Nummer 1 zwischen den deutschen Pfosten, diesmal schaut der Füchse-Keeper in die Röhre. Sigurdsson setzt auf das Duo Lichtlein und Wolff. "Er war in meinen Augen nicht so stabil wie die anderen zwei", begründete der Bundestrainer seine Entscheidung gegen Heine.
Der vergleichsweise alte Hase Lichtlein hat bereits in Katar bewiesen, dass auf ihn in der Regel Verlass ist - mit einem Schönheitsfehler. Nach einer starken Vorrunde und einem genialen Auftritt im Achtelfinale gegen Ägypten bekam der 35-Jährige ausgerechnet beim Aus im Viertelfinale gegen die Gastgeber keinen Ball zu packen. Der zukünftige Kiel-Torhüter Wolff ist 24 Jahre alt und mit seinen 17 Länderspielen unerfahren.
Hätte Sigurdsson sich deshalb nicht besser für Heinevetter entschieden? Schließlich weiß man vom Berliner, dass er an einem guten Tag jeden Gegner dieser Welt zur Verzweiflung treiben kann. Allerdings gibt es aktuell auch gute Gründe gegen ihn - ein Blick in die Statistiken der laufenden HBL-Saison genügt.
Polen vor Heim-EM: Ein Traum in Weiß und Rot
Heinevetter erhält bei seinem Klub deutlich weniger Spielzeit als seine beiden Kontrahenten und wehrte in 20 Partien 26,28 Prozent der Würfe ab. Lichtleins Quote ist zwar nicht wesentlich besser (26,83), doch der gebürtige Würzburger wirkt insgesamt tatsächlich solider und ist mit 23 abgewehrten Strafwürfen der unangefochtene Sieben-Meter-Killer der Liga.
Und Wolff? Der spielt eine sehr starke Saison, zeigte die zweitmeisten Paraden aller Torhüter (228) und weist mit 33,28 Prozent gehaltener Würfe die beste Quote der Bundesliga auf.
Fazit: Deutschland schickt ein gutes, aber kein Weltklasse-Duo ins Rennen. Sehr wahrscheinlich werden beide ihre Einsatzzeit erhalten, wobei Lichtlein die Nummer 1 ist. Bei den jüngsten Testspielen wurde deutlich, dass die Abstimmung zwischen den Torhütern und der Abwehr noch besser werden muss.
Linksaußen
Rune Dahmke (THW Kiel)
Auf Linksaußen hat das Verletzungspech beim DHB besonders erbarmungslos zugeschlagen. Der für Deutschland spielerisch und charakterlich absolut unersetzliche Kapitän Uwe Gensheimer, auf seiner Position der beste Mann der Welt, musste seine Teilnahme aufgrund eines Muskelfaserrisses in der Wade und einer Reizung der Achillessehne absagen.
Doch damit nicht genug: Der nachnominierte Melsunger Michael Allendorf zog sich einen Sehnenabriss in der Hüftmuskulatur zu. Auch für ihn war damit der Traum von der Reise nach Polen geplatzt.
Somit steht mit Dahmke nur ein echter Linksaußen im DHB-Kader. Der 22-Jährige hat sich beim THW zwar prächtig entwickelt, verfügt über ein großes Wurfrepertoire, ist aber ebenfalls recht unerfahren und schlug sich zuletzt auch noch mit Verletzungen herum. Klar ist: Dahmke wird die EM nicht durchspielen können.
Deshalb probierte Sigurdsson in den letzten Tests alle möglichen Dinge aus. So mussten/durften sich die beiden Spielmacher Martin Strobel und Niclas Piecskowski ebenso als Linksaußen versuchen wie der linke Rückraumspieler Christian Dissinger und die Kreisläufer Hendrik Pekeler und Jannik Kohlbacher. Überzeugt hat dabei keiner der fünf Akteure so richtig.
Fazit: Linksaußen hat das DHB-Team ein riesiges Problem, das auf die Dauer eines großen Turniers nur schwer zu lösen sein dürfte und deshalb zu einem entscheidenden Faktor für ein eventuell frühes Scheitern werden könnte.
Rückraum links
Steffen Fäth (HSG Wetzlar), Christian Dissinger (THW Kiel), Finn Lemke (SC Magdeburg), Julius Kühn (VfL Gummersbach)
Auf der Königsposition ist Deutschland in den nächsten Jahren sehr gut aufgestellt. Da waren sich nach den tollen Auftritten von Nachwuchsstar Paul Drux bei der WM in der Wüste alle Experten einig. Dann der Genickschlag: Aufgrund einer Schulterverletzung ist auch Drux in Polen nicht dabei.
Lemke ist ein wichtiger Mann für die Abwehr im Mittelblock, Kühn scheint im linken Rückraum derzeit keine ernsthafte Alternative für längere Einsätze zu sein. Nun ruhen die Hoffnungen vor allem auf Fäth und Dissinger, die in den beiden Testspielen gegen Island und zuvor gegen Tunesien sehr gute Ansätze zeigten.
Hanning: Verletzungsmisere als Chance
Das Problem: Beide waren in der Vergangenheit schon so oft verletzt, dass es durchaus fraglich ist, ob sie den knallharten Belastungen eines großen Turniers körperlich gewachsen sind. Immerhin erwiesen sich die Verletzungen der beiden Spieler aus dem letzten Test gegen Island als nicht schwerwiegend, der EM-Start ist nicht in Gefahr.
Der wurfgewaltige Dissinger lässt auch unter Trainer Alfred Gislason in Kiel immer wieder sein Können aufblitzen und brachte es in der laufenden HBL-Saison immerhin auf 67 Tore in 19 Einsätzen. Fäth netzte in 12 Partien 50 Mal.
Fazit: Trotz des Ausfalls von Drux ist das DHB-Team im linken Rückraum mindestens solide aufgestellt. Bleiben Dissinger und Fäth fit, kann das Duo ein echtes Pfund sein und für Druck auf die gegnerische Deckung sorgen.
Rückraum Mitte
Martin Strobel (HBW Balingen-Weilstetten), Niclas Pieczkowski (TuS N-Lübbecke), Simon Ernst (VfL Gummersbach)
Der in Katar nie überzeugende Mimi Kraus ist nicht mehr dabei, rein nominell sind Strobel und Pieczkowski die ersten beiden Optionen auf der Position des Spielmachers. Ernst wird keine große Rolle einnehmen.
Ein Spieler vom Tabellen-15. und vom Schlusslicht sollen also die Geschicke der Nationalmannschaft lenken. Das klingt zunächst einmal nicht sonderlich überzeugend, zumal Pieczkowski zwar Potenzial besitzt, aber auch angeschlagen und unerfahren ist.
Strobel allerdings hat 2015 bewiesen, wie intelligent und mit wie viel Übersicht er agieren kann. In Katar hatte der 29-Jährige die Fäden über weite Strecken fest in der Hand und setzte seine Mitspieler erstklassig in Szene.
Zudem wird Sigurdsson die Halbrechten und Fäth in den Spielaufbau einbinden. "Mit Steffen Weinhold, Fabian Wiede und Kai Häfner können wir auch mit einem Linkshänder auf der Mitte spielen und es eröffnen sich dadurch neue taktische Varianten", sagte der Isländer der Handballwoche.
Fazit: Das DHB-Team verfügt weiterhin über keinen klassischen Spielmacher von herausragendem Format, größere Sorgen sollten sich deshalb aber nicht ergeben. Sigurdsson bieten sich hier genügend Möglichkeiten, um verschiedene Systeme spielen zu lassen.
Rückraum rechts
Steffen Weinhold (THW Kiel), Fabian Wiede (Füchse Berlin), Kai Häfner (TSV Hannover-Burgdorf)
Nach Gensheimers Ausfall ist EM-Kapitän Weinhold der einzig verbliebene deutsche Spieler, der unter der Kategorie Weltklasse eingestuft werden darf. Jeder Handball-Fan weiß nur zu gut, wie einmalig die Fähigkeiten des Kielers sind, schräg in der Luft liegend den Ball noch im Tor unterzubringen.
Durch die Ausfälle steigt der Druck auf den 29-Jährigen aber noch mehr. Ohne einen Weinhold in Topform ist ein erfolgreiches Abschneiden der deutschen Mannschaft eigentlich undenkbar.
Positiv ist, dass mit dem 21-jährigen Wiede ein fähiger Man dabei ist, der auch Weinhold zumindest ab und zu ein paar Ruhepausen verschaffen können sollte. Je nachdem, wie Sigurdsson auf der Mitte agieren lässt.
Auch Häfner, Junioren-Weltmeister von 2009, bringt Qualitäten mit. Von ihm sollte man die eine oder andere Bude erwarten dürfen. In der HBL hat er in der laufenden Saison bereits 112 Mal zugeschlagen.
Fazit: Steht Weinhold auf der Platte, ist Deutschland auf der halbrechten Rückraumposition besser als die meisten anderen Nationen besetzt. Auf ihn kommt es an, er muss, wenn die gegnerische Abwehr sicher steht, auch mal durch Einzelaktionen Tore erzielen.
Rechtsaußen
Tobias Reichmann (KS Vive Kielce), Johannes Sellin (MT Melsungen)
Auch auf Rechtsaußen wiegt ein Ausfall schwer. Patrick Groetzki bleibt mit einem Wadenbeinbruch in Deutschland zurück.
Dennoch darf man Reichmann und Sellin zutrauen, diese Lücke als Duo zu schließen. Immerhin haben beide Spieler bereits auf internationalem Terrain Erfahrungen vorzuweisen, ob mit der Nationalmannschaft oder auf Vereinsebene in der Champions League.
Ein Faktor, der gerade nach dem Aus von Gensheimer ebenfalls nicht zu vernachlässigen ist, ist die Tatsache, dass sowohl Polen-Legionär Reichmann als auch Sellin für gewöhnlich gute Siebenmeterschützen sind.
Fazit: Rechtsaußen hat das DHB-Team längst nicht so ein großes Problem wie Linksaußen. Sellin sollte zudem durch seinen Siegtreffer beim 26:25 gegen Island zusätzliches Selbstvertrauen getankt haben.
Kreisläufer
Hendrik Pekeler (Rhein-Neckar Löwen), Erik Schmidt (TSV Hannover-Burgdorf), Jannik Kohlbacher (HSG Wetzlar)
Leider muss Sigurdsson auch am Kreis auf einen Stammspieler von der WM 2015 verzichten. Patrick Wiencek zog sich einen Kreuzbandriss zu und fehlt an allen Ecken und Enden.
Im Angriff ruhen die Hoffnungen auf dieser Position damit mehr oder weniger allein auf Pekeler. Der 24-Jährige hat im ersten Test gegen Island mit sechs Toren gezeigt, wie wertvoll er sein kann.
Gemeinsam mit Schmidt und Lemke spielt Pekeler zudem in der Abwehr im Mittelblock eine entscheidende Rolle. Für Kohlbacher muss es darum gehen, bei seinen wahrscheinlich kurzen Einsätzen möglichst viele Akzente zu setzen.
Fazit: Wienceks Fehlen ist mit der bitterste Ausfall, weil am Kreis die großen Alternativen fehlen. Es besteht aber die berechtigte Hoffnung, dass Pekeler bei der EM einen großen Schritt nach vorne machen kann. Die Qualität dazu ist definitiv vorhanden.
Die EM-Reserve
Tor: Silvio Heinevetter (Füchse Berlin), Dario Quenstedt (SC Magdeburg)
Linksaußen: -
Rückraum links: Stefan Kneer (Rhein-Neckar Löwen)
Rückraum Mitte: -
Rückraum rechts: Michael Müller (MT Melsungen)
Rechtsaußen: -
Kreisläufer: Evgeni Pevnov (VfL Gummersbach), Manuel Späth (Frisch Auf Göppingen)
Gensheimer, Groetzki, Drux und Allendorf stehen ebenfalls im 28er-Kader, den Sigurdsson am 15. Dezember benennen musste. Nur aus diesem Pool kann der Bundestrainer jetzt noch Spieler bestimmen. Nachdem er am Tag vor dem Auftaktspiel gegen Spanien maximal 16 Mann nominieren muss, kann er noch drei Akteure innerhalb des 28er-Kaders austauschen.
Fazit DHB-Kader: Die Ausfälle von Gensheimer, Groetzki, Drux und Wiencek wiegen schwer, womöglich sogar zu schwer. Dennoch besteht die Hoffnung auf eine gute EM, weil einige Spieler dabei sind, die eine Leistungsexplosion schaffen könnten. Entscheidend ist außerdem, ob es das DHB-Team schafft, mannschaftlich geschlossen zu decken und starke Torhüterleistungen auf die Platte zu bringen. Generell bleibt festzuhalten, dass Sigurdsson seinen Weg, auf junge Spieler zu setzen, konsequent weitergeht. Es sind gleich elf Spieler dabei, die 1990 oder später geboren sind.
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