Hallo Handball-Fans,
Als ehemaliger Trainer der Schweiz war es für mich besonders interessant, den mühsamen 23:22-Sieg des DHB-Teams in der EM-Quali in der Schweiz zu beobachten. Neben der Aufbruchsstimmung, in der sich der Schweizer Handball befindet, hat sich auch gezeigt, dass sich die deutsche Nationalmannschaft auf ihrem Weg in die Weltspitze noch in einem Entwicklungsprozess befindet.
Gerade in der Schlussphase stand das Spiel auf des Messers Schneide - die Schweiz hätte die Platte genauso gut als Sieger verlassen können. Beim letzten Angriff zeigte sich einmal mehr die herausragende Coaching-Qualität von Dagur Sigurdsson. Der Bundestrainer sagte in der Auszeit für das Überzahlspiel 6:5 haargenau den Spielzug an, der schließlich von Steffen Weinhold erfolgreich mit dem entscheidenden Siegtor abgeschlossen wurde.
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Ansonsten haben die Bad Boys ihre Würfe oft zu fahrlässig und unvorbereitet genommen. Spieler wie Uwe Gensheimer, Tobias Reichmann oder Kai Häfner ließen außerdem gute Chancen liegen, die Abschlüsse wurden teilweise nicht mit der notwendigen Klasse im Torwurf genutzt.
Kader noch nicht so stabil und ausgeglichen
Die Analyse der erfolgreichen Auftritte bei den vergangenen Turnieren belegt klar, dass Deutschland eine hohe Wurfeffektivität aus dem Rückraum benötigt, um Spiele zu gewinnen. Bleiben - wie gegen die Schweiz - mit Häfner, Steffen Fäth und Niclas Pieczkowski gleich drei Rückraumspieler deutlich unter ihren Möglichkeiten, machen sich Ausfälle wie von Fabian Wiede, Julius Kühn und Christian Dissinger negativ bemerkbar.
Aus meiner Sicht ist die Stabilität und Ausgeglichenheit des deutschen Kaders noch nicht so weit, wie von vielen zuletzt angenommen. Man muss deshalb daran erinnern, was für ein junges Team da immer noch auf dem Feld steht. Deutschland hat bei den letzten Turnieren bereits so nah am Optimum gespielt, dass man nicht vergessen sollte, wo wir noch vor zwei Jahren waren.
Dem DHB-Team fehlt ein torgefährlicher Playmaker
Basis der enormen Leistungssteigerung in der bisherigen Amtszeit von Dagur Sigurdsson sind die flexible Abwehr mit einem herausragenden Torhüterduo und die Konterqualitäten unserer Außenspieler. Hier sind wir absolute Weltspitze. Auch im Angriff verfügen wir auf jeder Position über Spieler, die das Prädikat "Weltklasse" verdienen - mit einer Ausnahme: Es fehlt ein Playmaker, der torgefährlich ist und gleichzeitig das Spiel kreativ lenken kann.
Mit Paul Drux oder Simon Ernst stehen hier vor allem wurfstarke Spieler mit einem sehr guten Zweikampfverhalten zur Verfügung. Das gleiche gilt auch für die Variante mit einem Linkshänder auf der Mitteposition. Dadurch fehlt dem deutschen Angriffsspiel oft noch die Kreativität und die damit verbundene Fähigkeit, einfache Wurfchancen aus der Nahdistanz für unsere starken Kreis- und Außenspieler herauszuspielen.
Auf der Rückraum-Mitte-Position würde dem deutschen Team natürlich ein Spieler wie Andy Schmid helfen, um stabil auf Weltklasseniveau zu agieren. Er erfüllt das Profil eines torgefährlichen Spielmachers in Perfektion. Bei unserer Nationalmannschaft sehe ich aktuell Paul Drux und Simon Ernst auf einem sehr guten Weg, mit zunehmendem Alter eine noch stärkere Rolle als Führungsspieler auf der zentralen Rückraumposition einnehmen zu können.
Sigurdsson würde große Fußstapfen hinterlassen
Derzeit beschäftigt Handball-Deutschland vor allem die Zukunft des Bundestrainers. Sollte Dagur Sigurdsson wirklich zurücktreten, würde er für seinen Nachfolger sehr große Fußstapfen hinterlassen. Er hat es in kürzester Zeit geschafft, den deutschen Handball dahin zu führen, wo er hingehört - nämlich in die absolute Weltspitze.
Mit seiner mutigen Auswahl von jungen Spielern, hat er vor allem Emotion, Motivation und positives Denken in die Mannschaft gebracht. Mit seinem Charisma als authentischer Leader ist er im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert, gerade für dieses junge Team.
Vor allem seine taktische Expertise hat sich als die entscheidende Komponente für den Erfolg herausgestellt. Zum einen seine Entscheidungsschnelligkeit, auf die verschiedensten Spielsituationen die richtigen Lösungen nicht nur zu finden, sondern auch optimal an die Spieler zu vermitteln. Zum anderen das intuitive Bauchgefühl, die richtigen Spieler zum richtigen Zeitpunkt vor allem in der Endphase des Spieles auf das Feld zu schicken. Man sollte deshalb alles dafür tun, damit Dagur Sigurdsson bleibt!
Gudmundsson erfüllt das Profil am meisten
Sollte er den DHB doch verlassen, wird die Suche nach einem geeigneten Nachfolger nicht leicht. Bob Hanning hat angekündigt, in diesem Fall eine Liste mit 15 Kandidaten erstellen zu wollen. Bei allem Vertrauen, das ich in Hannings Personalmanagement habe, bin ich da skeptisch. Ich halte es für ein unmögliches Unterfangen, 15 geeignete Kandidaten zu nennen.
Eigentlich möchte ich mich nur ungern an den Spekulationen beteiligen, die es derzeit um mögliche Nachfolger gibt. Deshalb nur soviel: Der von vielen gehandelte Gudmundur Gudmundsson ist der Kandidat, der für mich am plausibelsten klingt. Er erfüllt das Profil eines Bundestrainers am meisten.
Gudmundsson ist ein erfahrener Vereins- und Nationaltrainer, der große Erfolge vorzuweisen hat und frei ist. Er ist taktisch sehr gut, bodenständig und gleichzeitig emotional. Zudem haben wir mit der isländischen Mentalität dank Dagur Sigurdsson nun wahrlich sehr gute Erfahrungen gemacht.
bis zum nächsten Mal!
Euer Rolf Brack
Dr. Rolf Brack, geboren am 6. Dezember 1953, war als Trainer über 25 Jahre in der ersten und zweiten Liga aktiv und schaffte mit verschiedenen Klubs vier Aufstiege in die Bundesliga. Er coachte unter anderem von 2004 bis 2013 die Spielgemeinschaft HBW Balingen-Weilstetten und von 2013 bis 2016 das Nationalteam der Schweiz. Der Diplom-Sportwissenschaftler war lange Jahre mitverantwortlich für die Planung und Durchführung der A-Trainerausbildung des DHB, ist aktuell Lektor der EHF im Rahmen der Mastercoach-Ausbildung und im Hauptberuf Privatdozent am Sportinstitut der Universität Stuttgart. Als Spieler war Brack bei der SG Dietzenbach in der Bundesliga aktiv.