25. Januar 2016, Breslau, an einem klirrend kalten Vormittag im deutschen Mannschaftsquartier. Mit vier Siegen in Serie hat sich Deutschland ein "Endspiel" gegen Dänemark um den Einzug ins EM-Halbfinale erkämpft. Doch anstatt Jubel- herrscht Katerstimmung.
Zu hoch war der Preis für den am Vortag errungenen 30:29-Sieg gegen Russland. Bob Hanning hatte der wartenden Journalisten-Schar soeben mit ernster Miene mitgeteilt, was alle ohnehin schon befürchtet hatten: Das von Verletzungen gebeutelte DHB-Team muss für den Rest des Turniers auch noch auf Christian Dissinger und Steffen Weinhold verzichten.
"Das war es mit der EM", sind sich die Journalisten größtenteils einig. Viele von ihnen sind geknickt, sie sehen die in den vergangenen Tagen immer größer gewordene Handball-Begeisterung in Deutschland schon wieder am Boden liegen. Wenn schon unter den Journalisten eine derart miese Laune herrscht, wie wird es dann erst der Mannschaft und dem Bundestrainer gehen?
Unnahbar und kühl
Wenige Minuten später betritt Dagur Sigurdsson den Raum, wie immer wortlos und einige Minuten zu früh. Der Isländer, ohnehin im Umgang mit der Mannschaft und erst recht mit den Medien kein Kumpel-Typ, wirkt in solchen Momenten unnahbar und kühl.
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"Bob Hanning meinte einmal zu mir, dass ich während eines Turniers wie ein Eisblock bin, weil ich nicht sehr viel sprechen würde. Da versuche ich, wirklich ganz bei mir zu sein und bin in einem Tunnel, in dem vier Wochen lang nur für Handball Platz ist", erklärte Sigurdsson dazu im SPOX-Interview.
Was bei der darauffolgenden Pressekonferenz passiert, zeigt die vielleicht größte Qualität des Trainers Sigurdsson. Der 43-Jährige jammert nicht ein einziges Mal über die vielen Ausfälle, obwohl er allen Grund dazu hätte. Er beschäftigt sich nicht mit unverrückbaren Realitäten, sondern sucht sofort und in aller Konsequenz einen Weg, das Beste aus den verbliebenen Möglichkeiten zu machen.
Wenig Worte mit großer Wirkung
Der Welthandballtrainer des Jahres 2016 berichtet von den Nachnominierungen von Julius Kühn und Kai Häfner und bringt ohne große Worte seine Überzeugung beeindruckend glaubhaft zum Ausdruck, es auch so gegen Dänemark schaffen zu können.
Allen Anwesenden ist in diesem Moment schlagartig klar: Der Plan des Bundestrainers steht bereits. Und dieser Plan - auch wenn er ihn natürlich nicht im Detail verrät - wird Hand und Fuß haben. Sigurdsson genießt längst auch bei den sonst so kritischen Schreiberlingen ein riesiges Vertrauen.
Als die Meute sich vom Ort der Pressekonferenz in einen größeren Raum begibt, wo es die obligatorischen Interviews mit den Spielern gibt, ist die Niedergeschlagenheit einer Jetzt-erst-recht-Mentalität gewichen. Ganz nebenbei hat der frühere Coach der Füchse Berlin auch noch die Medienleute neu motiviert.
Mit der ihm eigenen Gabe, ohne große Worte Power, Selbstvertrauen und Zuversicht zu vermitteln. Oder wie es der frühere DHB-Präsident Bernhard Bauer einmal angesprochen auf Sigurdsson formulierte: "Kraft macht keinen Lärm, sie ist einfach da und wirkt."
Das Ende eines grauenhaften Kapitels
Den Spielern, die sich nun unter die Medienleute mischen, hat Sigurdsson dieses Gefühl bereits zuvor vermittelt. "Dann hauen wir die Dänen eben weg", sagt beispielsweise der völlig unerfahrene Jannik Kohlbacher - und er meint das ernst.
Der Rest ist Geschichte: Deutschland schlägt zwei Tage später tatsächlich Dänemark, gewinnt das Halbfinale gegen Norwegen und anschließend das Endspiel gegen Spanien. Es ist der erste große Titel für den DHB seit dem WM-Sieg im eigenen Land 2007.
Sigurdsson hat es tatsächlich geschafft, das DHB-Team nur eineinhalb Jahre nach seinem Amtsantritt auf wundersame Weise ganz oben zu platzieren. Eines der grauenhaftesten Kapitel des deutschen Handballs war damit wenigstens vorerst beendet.
Strukturiert und organisiert
Denn in der Vor-Sigurdsson-Zeit hatte es unter Bundestrainer Martin Heuberger außer einer soliden WM 2013 mit dem Einzug ins Viertelfinale lediglich heftige Ohrfeigen gegeben. 2012 wurden die Olympischen Spiele verpasst, 2014 fand in Dänemark erstmals überhaupt eine EM ohne Deutschland statt und auch die sportliche Qualifikation für die WM 2015 in Katar wurde nicht erreicht.
Dass Sigurdsson die goldrichtige Wahl war, zeigte sich indes bereits beim Turnier in der Wüste, an dem die deutsche Mannschaft dank einer reichlich dubiosen Wildcard teilnehmen durfte. Schlagartig spielte die Mannschaft nicht mehr ideenlos, sondern hatte immer mindestens noch einen Plan B, meist sogar einen Plan C in der Tasche. Sigurdsson ist eben ein komplett strukturierter und organisierter Mensch.
"Dagur hat sich von diesem verkrusteten System beim DHB völlig losgelöst, hatte ganz neue Ansätze. Er war sehr mutig, hat viele junge Spieler eingeladen, die andere gar nicht auf der Rechnung hatten. Er hat den deutschen Handball in eine neue Richtung geführt", lobte Stefan Kretzschmar vor einiger Zeit im Gespräch mit SPOX.
Der Zweifler mit der klaren Linie
Dabei ist Sigurdsson eigentlich ein Zweifler. Er sei sich nie sicher gewesen, "als Trainer gut genug" zu sein - ein aus heutiger Sicht absurder Gedanke. Umso überraschender scheint es, dass er hervorragend Entscheidungen treffen kann.
Der Mann aus Reykjavik macht es sich zwar nicht leicht, ist eine Entscheidung aber erst einmal gefällt, wird diese konsequent durchgezogen. Und er schreckt dabei auch nicht vor unbequemen Tatsachen zurück, wenn er von deren Richtigkeit überzeugt ist.
Die Österreicher, die von Sigurdsson von 2008 bis 2010 trainiert und zur Heim-EM 2010 geführt wurden, können davon ein Lied singen. Damals stellte der frühere Spielmacher nahezu den gesamten ÖHB auf den Kopf und setzte beispielsweise mit David Szlezak den Kapitän und Kopf der Mannschaft ab. Mit Erfolg: Österreich belegte am Ende einen hervorragenden neunten Platz.
Linke Dinger zieht Sigurdsson dabei nie ab, was dazu führt, dass seine Entscheidungen von der Mannschaft und auch von den einzelnen Spielern in aller Regel nachvollzogen und als gerecht empfunden werden. "Ich versuche, meine Sachen ehrlich zu machen", sagt Sigurdsson.
"Dann sind wir sehr gut"
So wird er auch seine Arbeit bei der WM in Frankreich angehen, seinem letzten Akt als Bundestrainer, bevor er die japanische Nationalmannschaft übernimmt. Neben den verletzungsbedingten Ausfällen von Steffen Weinhold und Fabian Wiede erklärten mit Christian Dissinger, Martin Strobel und Hendrik Pekeler gleich drei Leistungsträger ihren freiwilligen Verzicht. Insgesamt fehlen sechs Europameister.
"Oft waren wir schlechter besetzt. Deswegen mache ich mir keine großen Sorgen. Die Ausfälle sind kein Neuland für uns, das ist Realität", sagt Sigurdsson gewohnt nüchtern: "Meine Aufgabe ist es, zu schaffen, dass die Spieler das abrufen, wozu sie in der Lage sind. Wenn mir das gelingt, dann sind wir sehr gut."
Läuft in Frankreich alles rund, könnte Sigurdsson nach dem EM-Titel in Polen und Bronze bei den Olympischen Spielen in Rio die dritte Medaille innerhalb eines Jahres eintüten. Es wäre die Erfüllung der letzten Mission.
Die WM 2017 im Überblick