Hallo Handball-Fans!
Aus eigener Erfahrung als Trainer weiß ich, wie schmal der Grat zwischen Erfolg und Misserfolg manchmal sein kann. Das Spiel war am Schluss auf des Messers Schneide und wurde extrem unglücklich verloren. Man könnte es auf die einfache Formel bringen: Zunächst hatten wir kein Glück und dann kam auch noch Pech dazu. Aber dieser Analyseansatz ist zu oberflächlich und würde sich zu sehr auf die Ereignisse in der Endphase beziehen.
Damit meine ich den taktischen Blackout von Steffen Fäth kurz vor Schluss, der im Spiel 7:6 anstatt den Ball weiterzuspielen, 15 Sekunden vor Schluss einen zu schweren Wurf aus dem Rückraum genommen hat. Oder die von den Schiedsrichtern als Offensivfoul ausgelegte Aktion von Paul Drux und die unberechtigte dritte Zwei-Minuten-Strafe gegen Patrick Wiencek. Wäre nur einer dieser Faktoren ausgeblieben, stünde Deutschland nun im Viertelfinale und wir würden nicht mehr groß über das Spiel gegen Katar diskutieren.
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Leider ist es anders gekommen und das DHB-Team musste den verfrühten Weg zurück in die Heimat antreten. Eines möchte ich hier aber direkt klarstellen: Insgesamt gesehen ist die Niederlage nicht an den Schiedsrichtern festzumachen. Zwar sind falsche Pfiffe am Ende eines Spiels besonders ärgerlich, aber über die gesamte Spielzeit betrachtet hatten wir keinen wirklichen Schiedsrichternachteil.
Die tieferliegenden Ursachen
Auch wenn das mangelnde Glück als Misserfolgsgrund nicht ganz von der Hand zu weisen ist, will ich einige tieferliegende Ursachen für die Niederlage ansprechen.
Die entscheidende Frage ist: Warum konnten sich die zuvor auch von mir gelobten deutschen Stärken, die Qualität im Kader und die Coaching-Expertise von Dagur Sigurdsson, im Spiel gegen Katar nicht entfalten? Was ist nach der zwischenzeitlichen 17:13-Führung passiert?
Vor allem das Angriffsspiel wurde mit zunehmender Spieldauer immer einfallsloser. Die wenigen Auslösehandlungen wurden von der Abwehr Katars zunehmend besser verteidigt. Es unterliefen zu viele technische Fehler, die Kreisläufer und Außenspieler wurden kaum eingebunden. Zu häufig suchten die Rückraumspieler individuelle Lösungen durch die Mitte. Dadurch wurde die im Vergleich zu Katar höhere Mannschaftsqualität nicht ausgenutzt.
Zu wenig Tore aus der Nahdistanz
Holger Glandorf setzte im Rückraum zwar mit seiner Dynamik positive Akzente, hatte aber im Überzahlspiel 6:5 und im Timing mit seinen Mitspielern auch schwächere Momente. Die drei eingesetzten Rechtshänder Drux, Kühn und Fäth verloren sich immer mehr in Einzelaktionen und haben es im gesamten Spiel nur einmal geschafft, ihren Kapitän Uwe Gensheimer auf Linksaußen freizuspielen. Lediglich der nur für knapp 30 Minuten eingesetzte Kai Häfner suchte spielerische Lösungen auch für seine Mitspieler.
Es wurde einmal mehr deutlich, dass der deutschen Mannschaft ein Spielmacher von Weltklasseformat fehlt. Auf der Mitte fehlt ein Auslösespieler, der das Spiel einerseits strukturiert und steuert und zusätzlich durch Eins-gegen-Eins-Situationen mit schnellem Weiterspielen leichte Abschlussmöglichkeiten für seine Mitspieler schafft.
Hier sehe ich in den gegen Katar nicht eingesetzten Mittespielern Pieczkowski und Ernst sowie den nicht für die WM nominierten Kneule, Weber und Sutton interessante Playmaker für die Zukunft.
Matchwinner Capote nicht attackiert
Für mich der spielentscheidende Faktor war, dass es in der letzten Viertelstunde keine Reaktion auf den immer stärker werdenden Rafael Capote gab, den das DHB-Team in den ersten 45 Minuten eigentlich gut im Griff hatte.
Man hätte seine Entfaltungsmöglichkeiten und damit den Großteil der gegnerischen Stärke deutlich einschränken müssen, in dem man einen Spieler aus dem Abwehrzentrum (zum Beispiel Hendrik Pekeler) oder von der Gegenhalbposition (zum Beispiel Paul Drux) vorzieht. Somit wäre Capote bei der Ballannahme sofort unter Druck gesetzt worden und hätte dann keinen dynamischen Anlauf für den Wurf oder den Durchbruch nehmen können.
Zum ersten Mal das Trainerduell nicht gewonnen
Als letzter Analyseteil stellt sich die Frage nach der viel zitierten Coaching-Qualität Dagur Sigurdssons. Der Bundestrainer hat selbstkritisch erklärt, dass er beim letzten Angriff eine Auszeit nehmen und seinem Team einen genauen Plan an die Hand hätte geben sollen. Sein Argument, darauf verzichtet zu haben, weil er Katar nicht die Möglichkeit geben wollte, die stärksten Abwehrspieler einzuwechseln, ist plausibel und kann ich auch gut nachvollziehen.
Aber es passt aus meiner Sicht eigentlich nicht zu dem Dagur Sigurdsson, der in allen vergleichbaren Situationen in der Vergangenheit aktiv gecoacht hat und in einer Auszeit seinen Spielern einen klaren Marschplan mit Hilfe seiner legendären Taktiktafel vorgegeben hat.
Im direkten Vergleich hat Sigurdsson zum ersten Mal in seiner Amtszeit als Nationaltrainer das Trainerduell nicht gewonnen. Valero Rivera hat aus Spielern mit Söldnermentalität eine Teamleistung entwickelt, in der alle ihr Potenzial ausschöpfen. Wie er taktisch das Fehlen eines Linkshänders im rechten Rückraum kompensiert hat und wie in der Abwehr in den Bereichen Antizipation, Steals und Helfen gearbeitet wurde, war lehrbuchreif.
Dies gilt auch für die mannschaftliche Unterstützung und den Einsatz ihres Schlüsselspielers Capote in der Crunchtime des Spiels. Nicht zu vergessen sind dabei die vereinsähnlichen Rahmenbedingungen der Kataris, die auch durch die vielen Trainingseinheiten unter einem Toptrainer zu einer festen Größe im Welthandball geworden sind.
Sigurdsson hat das Fundament gelegt
Es ist schade, dass die zweieinhalbjährige Erfolgsstory von Dagur Sigurdsson auf diese Art und Weise ein Ende gefunden hat. Dennoch bleibt festzuhalten: Sigurdsson hat das Fundament für eine erfolgreiche Zukunft gelegt. Der Großteil der Mannschaft kann bis zu den Olympischen Spielen 2022 zusammenbleiben und hat sogar noch Entwicklungs- und Steigerungspotenzial.
Für den Nachfolger Sigurdssons hat das frühe Aus bei dieser WM eine positive Seite. Es ist sicher leichter, eine Mannschaft nach einer Enttäuschung zu übernehmen, als in die Fußstapfen eines Weltmeister-Trainers zu treten.
Bis zum nächsten Mal!
Euer Rolf Brack
Dr. Rolf Brack, geboren am 6. Dezember 1953, war als Trainer über 25 Jahre in der ersten und zweiten Liga aktiv und schaffte mit verschiedenen Klubs vier Aufstiege in die Bundesliga. Er coachte unter anderem von 2004 bis 2013 die Spielgemeinschaft HBW Balingen-Weilstetten und von 2013 bis 2016 das Nationalteam der Schweiz. Der Diplom-Sportwissenschaftler war lange Jahre mitverantwortlich für die Planung und Durchführung der A-Trainerausbildung des DHB, ist aktuell Lektor der EHF im Rahmen der Mastercoach-Ausbildung und im Hauptberuf Privatdozent am Sportinstitut der Universität Stuttgart. Als Spieler war Brack bei der SG Dietzenbach in der Bundesliga aktiv.
Die WM 2017 im Überblick