Als die Auslosung eine Gruppe mit Belgien, der BRD und der DDR ergeben hatte, fuhr Spielern und Funktionären beider Seiten der Schrecken in die Glieder. Jedem war aufgrund der Unterlegenheit der Belgier klar, dass im Kampf um das Olympia-Ticket alles auf einen Showdown zwischen West- und Ostdeutschland hinauslaufen würde - mitten im Kalten Krieg, als die Beziehungen zwischen beiden Ländern den Gefrierpunkt erreicht hatten.
Nur einer rieb sich die Hände: Vlado Stenzel. Diese Alles-oder-Nichts-Situationen, diese Duelle unter höchstem Druck, an deren Ende nur der triumphale Sieg oder eine vernichtende Niederlage stehen konnten und auf keinen Fall irgendetwas dazwischen, waren genau nach dem Geschmack des DHB-Trainers.
Es waren die Spiele, in denen der Magier, wie sie ihn nannten, alle seine Tricks aus dem Hut zaubern konnte - und davon hatte er ein schier unerschöpfliches Arsenal. "Das war Krieg. Das kann sich heute keiner mehr vorstellen", sagte der mittlerweile 83-Jährige 40 Jahre nach dem Drama im Film "Kalter Krieg": Handball DDR - BRD 1976.
Stenzel impft Selbstbewusstsein ein
Aber der Reihe nach: Als 1975 in der Olympiahalle in München das Hinspiel stattfand, war der Kroate, der eben an diesem Ort die jugoslawische Nationalmannschaft 1972 zur Goldmedaille geführt hatte, seit rund eineinhalb Jahren im Amt.
Die Rollen waren klar verteilt: Während der Handball in der BRD am Boden lag und nach einer Verjüngungskur unter Stenzel erst ganz langsam aus einem Tief herauskam, war die DDR zuvor zwei Mal Vizeweltmeister geworden und dementsprechend der große Favorit.
"Das waren alles Spieler, die wir gar nicht auf dem Zettel hatten", erinnerte sich der damalige DDR-Torhüter Wieland Schmidt: "Aber Stenzel hatte denen ein Selbstbewusstsein eingeimpft - das war Wahnsinn! Die haben alle daran geglaubt, gegen uns weiterzukommen. Das hat man gemerkt."
Stenzels Griff in die Trickkiste
20. Dezember 1975, München: Die DDR-Spieler betraten die Halle und staunten nicht schlecht. Stenzel hatte bereits vor der Partie zum ersten Mal tief in die Trickkiste gegriffen und einen Nadelfilzboden verlegen lassen. Auf Teppich zu spielen, war für Handballer absolut ungewöhnlich.
Die DDR-Funktionäre waren außer sich und warfen Stenzel "ein Foul vor dem Anpfiff" vor. Linksaußen Hans Engel erklärte später: "Sie haben sich mit diesem Teppich einen Vorteil verschafft. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche."
Doch nicht nur der Boden machte der DDR-Auswahl zu schaffen. Auch die 10.500 Zuschauer (es hatte 100.000 Kartenanfragen gegeben) sorgten für eine feindselige Atmosphäre. Jede Aktion der ostdeutschen Mannschaft wurde von einem gellenden Pfeifkonzert begleitet, die Spieler als "sozialistische Schweine" beschimpft.
Angeführt vom starken Torhüter Manfred Hofmann, der von Stenzel in einen knallgelben Trainingsanzug gesteckt worden war, um größer zu wirken, und Joachim Deckarm (9 Tore) gewann die BRD sensationell mit 17:14. Stenzel wurde von seinen Spielern auf den Schultern durch die Halle getragen, obwohl drei Tore Vorsprung alles andere als eine Entscheidung bedeuteten.
Welches System verlässt den Platz als Sieger?
Bis zum Rückspiel im März 1976 blieben mehr als zwei Monate Zeit. Ost und West nutzten diese, um den ultimativen Showdown wie schon vor dem Hinspiel politisch zu instrumentalisieren. Besonders die DDR-Akteure waren immensem Druck ausgesetzt.
"Es waren immer wieder Funktionäre da, die uns eingebläut haben, wie wichtig es ist, dass die DDR gut dasteht, dass man den Klassenfeind besiegt", erinnerte sich DDR-Keeper Schmidt. Und BRD-Kreisläufer Horst Spengler ergänzte: "Es war wie eine politische Demonstration. Welches System wird den Platz als Sieger verlassen?"
Stenzel fordert deutsche Fans auf: "Bitte pfeift uns aus"
Stenzel hatte derweil andere Sorgen. Der Mann aus Zagreb überlegte fieberhaft, wie er seine Mannschaft auf die gehässige Atmosphäre in der DDR vorbereiten könnte. Und er ging dabei mal wieder viel weiter, als es sonst irgendjemandem einfallen würde.
Der Bundestrainer beraumte zwei Testspiele gegen süddeutsche Klubs im hessischen Dietzenbach an. Als seine Spieler kurz vor Anpfiff noch einmal in die Kabine verschwanden, wandte sich Stenzel persönlich ans Publikum und sagte: "Bitte pfeift uns aus."
Die Zuschauer gehorchten und pfiffen, was das Zeug hielt. Das DHB-Team war darauf überhaupt nicht vorbereitet, schließlich hatte Stenzel seine Spieler nicht in seine Pläne eingeweiht. "Die haben das so toll gemacht. Es war fast wie in der DDR", lobte der Coach die Zuschauer in Dietzenbach noch Jahre später.
Doch damit nicht genug, Stenzel hatte sich gleich noch etwas einfallen lassen: "Ich habe mit den Schiedsrichtern abgemacht, dass sie gegen uns pfeifen. Natürlich wusste die Mannschaft nichts davon. Kurt Klühspies kam während des Spiels zu mir, fasste sich verzweifelt an den Kopf und meinte: 'Was sind das denn für Schiedsrichter?'."
Stenzels Befürchtung: Schlafmittel in der Suppe
Auch als der Tag gekommen war und die westdeutsche Delegation in die DDR aufbrach, überließ Stenzel nichts dem Zufall. Der Magier hatte die Befürchtung, dass man seinen Spielern im Hotel in Karl-Marx-Stadt "Schlafmittel in die Suppe" kippen könnte.
Als Stenzel schließlich im heutigen Chemnitz vom Koch gefragt wurde, was er zubereiten solle, antwortete der Bundestrainer knapp: "Nichts." Er hatte noch in der BRD Lunchpakete herrichten lassen, wodurch die Verpflegung seiner Mannschaft bis zum Spiel sichergestellt war.
"Jeder traute dem anderen zu, mit linken Tricks zu arbeiten", beschrieb der damalige DHB-Spieler Heiner Brand einmal die Situation.
Showdown in Karl-Marx-Stadt
6. März 1976, Karl-Marx-Stadt: Als die BRD-Spieler die umgestaltete Eishalle betraten, schlug ihnen von 3000 ausgewählten Zuschauern eine ebenso hitzige Atmosphäre wie den DDR-Spielern zweieinhalb Monate zuvor in München entgegen. Es gab ein dauerhaftes Pfeifkonzert, Becher flogen.
Die DDR-Funktionäre hatten den Austragungsort bewusst gewählt. Das westdeutsche Team sollte sich ruhig an die beiden vernichtenden Niederlagen erinnern, das es in dieser Halle bei der WM 1974 kassiert hatte.
Die Ausgangslage: Eine Niederlage mit drei Treffern Differenz würde der BRD reichen, solange die DDR nicht mehr als 16 Tore erzielen würde.
Siebenmeter in letzter Sekunde
Angeführt von Reiner Ganschow ging die DDR kurz vor der Pause mit 7:2 in Führung, der Rückstand aus dem Hinspiel war dahin. Die Halle explodierte, Stenzels Anweisungen waren für keinen Spieler mehr zu verstehen.
Doch die BRD kämpfte sich in einer unglaublichen Abwehrschlacht zurück, Sekunden vor dem Ende lag die DDR mit 11:8 vorne. Dann erlebte das Drama, das von nahezu ganz Deutschland vor den Fernsehgeräten verfolgt wurde, seinen Höhepunkt.
BRD-Kapitän Spengler foulte Engel beim letzten Angriff. Ein Pfiff des Schiedsrichters ertönte - Siebenmeter für die DDR in letzter Sekunde. Ist der Siebenmeter drin, fährt die DDR nach Montreal. Geht er daneben, darf die BRD zu Olympia.
Stenzel kramte hektisch in der Trickkiste und verzögerte durch allerlei Spielereien die Ausführung des Siebenmeters um zwei Minuten. Plötzlich kam er auf die Idee, Ersatzmann Rudi Rauer für Hofmann ins Tor zu beordern. "Hofmann kam zu mir und sagte: 'Lass es sein, Alter'", erzählte Stenzel Jahre später und lachte: "Er hat sich selbst in die Situation gebracht, dass er diesen Siebenmeter halten muss."
Engel, der zuvor drei Mal sicher verwandelt hatte, setzte nach einer gefühlten Ewigkeit zum Wurf an. Der Ball kam aus Sicht des Schützen rechts halbhoch auf das Tor, Hofmann riss das linke Bein nach oben und wehrte mit dem Knie ab.
DDR-Team wird "zusammengeschissen"
Während Stenzel, der das DHB-Team 1978 zum WM-Titel in Dänemark führte, die Duelle gegen die DDR als "den wichtigsten Sieg meines Lebens" bezeichnete, verzweifelte Hofmann in den folgenden Jahren fast an diesem Moment: "Mein ganzes Leben ist nur dieser eine Siebenmeter. Das macht mich wahnsinnig."
Weitaus schlimmer waren allerdings die Folgen für die DDR-Akteure. "Für mich ist eine Welt zusammengebrochen", sagte Schmidt: "Mein Traum von Olympia war dahin, wir haben gegen den Klassenfeind verloren und wurden nach dem Spiel von DDR-Sportchef Manfred Ewald bis zum Gehtnichtmehr zusammengeschissen."
Das DHB-Team fuhr im Sommer 1976 nach Kanada. Eine Niederlage im Spiel um Platz drei gegen Polen kostete die Bronzemedaille.