Wiegert verrät außerdem, wie der Handball, mit dem der SCM gerade die Liga anführt, entstanden ist, was Statistiken damit zu tun haben und welchen Wunsch er den Fans trotz des Erfolgs nicht erfüllen kann.
Außerdem spricht Wiegert über emotionale Interviews, sein Vorbild Alfred Gislason und er begründet, warum der SCM auch nach der Niederlage gegen den THW Kiel jetzt Favorit auf die deutsche Meisterschaft ist.
Herr Wiegert, das Spiel Ihres Teams zeichnet sich von außen betrachtet vor allem durch viel Tempo, viele Durchbrüche und somit viele Würfe aus der Nahdistanz aus. Wie nahe kommt diese Beschreibung Ihrer Philosophie?
Bennet Wiegert: Das kommt der Philosophie schon nahe. Ich habe mit dem SCM in den vergangenen Jahren versucht, die Wahrscheinlichkeit zu steigern, zu gewinnen. Dabei geht es vor allem darum, Würfe zu kreieren, die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, für eine gute Abschlussquote in Frage zu kommen. Das gelingt uns durch Eins-gegen-eins-Situationen und Durchbrüche. Außerdem ist es Grundvoraussetzung unserer Magdeburger DNA, aus einer stabilen Abwehr ins Tempospiel zu gehen.
Wie ist diese Philosophie entstanden? War das Ihre Idee?
Wiegert: Ich kann mich nicht als Erfinder des Handballs hinstellen. Ich hatte, als ich vor sieben Jahren hier angefangen habe, ein Bild im Kopf, das ich aber sicherlich auch schon mal irgendwo gesehen hatte. Eine Art Vorbild war vielleicht der slowenische Handball, in dem damals aus der Not der vielen kleinen Handballer eine Tugend gemacht wurde. Dort wurde versucht, ein anderes Spielsystem zu entwickeln, um auch mit kleineren Rückraumspielern erfolgreich zu sein. Das fand ich spannend und habe mir gedacht, dass das erfolgreich sein kann, wenn man sich die nötige Qualität zusammenstellt.
Sie haben Mannschaft und Verein also den Stempel des heutigen SCM-Handballs aufgedrückt.
Wiegert: So möchte ich das gerne sehen, ja. Ich habe das in meiner vorherigen Funktion als Trainer der zweiten Mannschaft schon so ähnlich in der 3. Liga gemacht. Mein Ziel war es, eine Benchmark für den Verein zu entwickeln. Wenn man ein Spiel des SC Magdeburg sehen würde, bei dem Spieler und Trikots nicht erkennbar wären, sollte man die Mannschaft trotzdem als eine SCM-Mannschaft erkennen können. Auch ohne große Handballexpertise sollte erkennbar sein, dass dieser Stil unser Stil ist. Ich wollte weder graue Maus noch strahlender Leuchtturm sein, aber ich wollte, dass wir für etwas stehen.
Wie wichtig ist es, dass diese Philosophie sich durch den ganzen Verein zieht, also auch in der zweiten Mannschaft und den Jugendteams so angewandt wird?
Wiegert: In der Jugend verfolgen wir einen ausbildungsorientierteren Ansatz, während wir bei den Profis ergebnisorientierter arbeiten. Es geht für uns ausschließlich darum, kurz- und mittelfristig Spiele zu gewinnen. Im Nachwuchs hingegen geht es um eine langfristige Entwicklung.
Ist das auch ein Grund, wieso der SCM zwar zwischen 1996 und 2006 neunmal deutscher A-Jugend-Meister wurde, seitdem aber nicht mehr?
Wiegert: Aus meiner Sicht beißen sich eine individuelle Ausbildung und das Spielen um Meisterschaften im Jugendbereich nicht. Dennoch macht Erfolg uns natürlich attraktiver für Jugendliche, die wir gerne in unserer Akademie hätten. Vor allem, weil wir auch überregional, also nicht nur in Sachsen-Anhalt, scouten. Dass wir damals so viele Meisterschaften gewonnen haben, lag aus meiner Sicht daran, dass wir ein Monopol hatten. Wir haben das Prinzip der Kinder-und-Jugend-Schulen aus der DDR übernehmen können und hatten zeitweise die bundesweit einzige Sportschule. Da wollte jeder hin!
Sie waren damals auch an dieser Sportschule.
Wiegert: Genau. Ich erinnere mich noch, wie beim Probetraining Spieler aus ganz Deutschland neben mir saßen, die alle unbedingt nach Magdeburg wollten, weil die Sportschule hier etwas Einzigartiges war. Heute hat jedes Bundesland mindestens eine Sportschule, auch in der Nähe. Ich denke beispielsweise an Leipzig, Berlin oder Eisenach - das sind direkte Konkurrenten um junge Spieler. Dazu kommt, dass wir nicht im Fußball sind, wo es am Ende darum geht, aus Quantität Qualität zu machen. Wir sind mit dem Handball noch eine Randsportart. Wir müssen die Jugendlichen davon begeistern, sich überhaupt für diese Sportart zu entscheiden. Das ist ein riesengroßer Unterschied. Außerdem liegt unsere Priorität in der Jugendarbeit eben nicht auf Meisterschaften, sondern darauf, Spieler zu entwickeln. Wir wollen alle fünf bis zehn Jahre einen Spieler für das Profiteam entwickeln - und das ist bei den Ansprüchen, die sich hier entwickelt haben, schwer genug.
"Leute, seid mir nicht böse, aber das wird nicht funktionieren"
Mit Matthias Musche und Philipp Weber stehen aktuell nur zwei Profis in Ihrem Kader, die in der SCM-Jugend gespielt haben. Beide sind Jahrgang 1992, gemessen am Zehnjahresrhythmus wäre es dann bald mal wieder so weit, oder?
Wiegert: Das würde ich mir wünschen. Aber es ist leider kein Wunschkonzert. Es kann sein, dass mal in einem Jahr zwei oder drei Spieler hochkommen, aber das ist leider sehr schwer planbar, auch wegen der mittlerweile hier geforderten Qualität. Es ist ja kein Geheimnis, dass der Sprung zu den Profis in der 2. Liga einfacher ist. Ich bin deswegen auch ein Freund davon, wenn junge Spieler den Umweg über beispielsweise eine Mannschaft in der 2. Liga nehmen. Auch ein Philipp Weber war relativ lange weg, um sich zu entwickeln und nun wieder zurückzukommen. Ich finde diesen Ansatz nicht uncharmant.
Trotzdem gibt es immer wieder Rufe nach mehr Spielern aus der eigenen Jugend.
Wiegert: Ich kriege die Diskussionen natürlich mit. Die sind aber größer, wenn der Erfolg gerade kleiner ist und andersherum genauso. SCM-Fans wollen die Champions League gewinnen - das aber am liebsten nur mit Magdeburgern. Da muss ich dann Realist bleiben und sagen: 'Leute, seid mir nicht böse, aber das wird nicht funktionieren' Am Ende wird nur eines von beidem gehen. Ich wäre zwar bereit, nur mit Magdeburgern zu spielen, aber dann landen wir vielleicht zwischen Platz zehn und zwölf. Am Ende ist es der gesunde Mix. Da sollten wir uns nicht zu sehr auf schwarz oder weiß einlassen, sondern uns im Graubereich bewegen.
Sie erwähnten bereits, dass Ihre Philosophie auf die erhöhte Wahrscheinlichkeit, ein Tor zu erzielen, ausgerichtet ist. Arbeiten Sie dementsprechend viel mit Statistiken?
Wiegert: Unbedingt. Ich brauche die Hard Facts. Nur von einem subjektiven Gefühl kann ich nicht leben. Statistiken müssen mir belegen können, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Dennoch ist das nur Theorie. Ich erinnere mich an Spiele, in denen wir uns zahlreiche gute Wurfchancen herausarbeiteten, am Ende aber am gegnerischen Torhüter scheiterten. Letztlich muss ich also gerade in solchen Situationen neben den Statistiken auch subjektive Eindrücke einfließen lassen. Waren das die Würfe, die wir haben wollten? Oder waren unsere Fehlwürfe außerhalb der 9-Meter? Das muss ich unterschiedlich beurteilen. Im Handball ist es nie so, dass ich bloße Zahlen lesen kann und dadurch das Spiel nachvollziehen kann.
Die Bedeutung von Statistiken wächst aber auch im Handball.
Wiegert: Absolut. Und wir sind da noch stiefmütterlich unterwegs. Wenn ich mir anschaue, wie das in der NBA oder NFL läuft - davon sind wir Welten entfernt. Dazu fehlt uns auch die Manpower, davon lebt das Ganze nämlich. Ich sehe dort große Reserven, mit denen wir den Handball auf ein anderes Level heben könnten. Daher begrüße ich die Entwicklung, was Scouting und Statistik angeht.
"Die Mannschaft hat von mir drei Eckdaten bekommen"
Wie sieht die Manpower beim SCM aus? Sammeln Sie neben den offiziellen Daten auch eigene?
Wiegert: Die offiziellen Daten nehme ich gar nicht, weil ich ihnen nicht vertraue. Das ist nicht böse gemeint, aber ich weiß nicht, wie viel Handballexpertise der Mensch hat, der da scoutet. In der Bundesliga scoutet jede Halle selbst, das kann mal passen und mal nicht. Deswegen machen wir das alles selbst. Vor allem mein Co- und Torwarttrainer sind dafür verantwortlich. Teilweise schauen wir uns im Nachgang Spiele nochmal an, um unsere Statistiken möglichst sauber zu haben. Dass wir aber einen Analysten oder Ähnliches im Trainerteam haben, so weit sind wir im Handball leider noch nicht.
Was sind Sie die entscheidenden Statistiken, auf die Sie nach jedem Spiel schauen?
Wiegert: Technische Regelfehler, Torwartparaden und die entsprechende Quote, Angriffseffektivität und Torwurfeffektivität. Das sind die Hard Facts, die ich ab und zu auch während des Spiels abfrage und die ich sofort griffbereit haben muss. Wenn ich da eine Zahl bekomme, die mir nicht gefällt, hinterfrage ich anhand dessen unser Spiel und schaue, was wir anpassen können.
Sie haben bei diesen Statistiken also Bereiche, die Ihnen gefallen und entsprechende Vorgaben an die Spieler?
Wiegert: Genau. Wir wissen aufgrund der Erfahrungen aus den vergangenen sieben Jahren ganz gut, in welche Bereiche wir kommen müssen, um eine Siegchance zu haben. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber im Grunde wissen wir, welche Quoten wir erreichen müssen, um für einen Erfolg in Frage zu kommen und bei welchen es schwer wird. Diese Bereiche sind auch komplett unabhängig vom Gegner. Die Mannschaft hat von mir drei Eckdaten bekommen, zu denen ich ihnen gesagt habe: Wenn wir die erfüllen, werden wir zu 80, 90 Prozent Erfolg haben. Die kann ich Ihnen jetzt aber nicht nennen, sorry. (lacht) Was ich sagen kann: Wir erlauben uns mehr technische Regelfehler als der Gegner. Natürlich versuche ich, diese Zahl möglichst gering zu halten, letztlich spielen wir aber anders als der Gegner und mit unserem System bekommt man eher mal Schritte oder ein Stürmerfoul. Das muss man bei uns mehr akzeptieren als bei anderen Philosophien.