Bennet Wiegert vom SC Magdeburg im Interview: "So könnten wir den Handball auf ein anderes Level heben"

Thomas Weber
30. März 202210:08
Bennet Wiegert ist seit 2015 Trainer des SC Magdeburg.getty
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Der SC Magdeburg marschiert in der HBL Richtung Meisterschaft und einer der größten Faktoren für den Erfolg ist ohne Zweifel Coach Bennet Wiegert. Im Interview mit SPOX erzählt der 40-Jährige offen, wie er tickt, was seine Handball-Philosophie ausmacht und warum der Ehrgeiz auch mal ins Extreme gehen darf.

Wiegert verrät außerdem, wie der Handball, mit dem der SCM gerade die Liga anführt, entstanden ist, was Statistiken damit zu tun haben und welchen Wunsch er den Fans trotz des Erfolgs nicht erfüllen kann.

Außerdem spricht Wiegert über emotionale Interviews, sein Vorbild Alfred Gislason und er begründet, warum der SCM auch nach der Niederlage gegen den THW Kiel jetzt Favorit auf die deutsche Meisterschaft ist.

Herr Wiegert, das Spiel Ihres Teams zeichnet sich von außen betrachtet vor allem durch viel Tempo, viele Durchbrüche und somit viele Würfe aus der Nahdistanz aus. Wie nahe kommt diese Beschreibung Ihrer Philosophie?

Bennet Wiegert: Das kommt der Philosophie schon nahe. Ich habe mit dem SCM in den vergangenen Jahren versucht, die Wahrscheinlichkeit zu steigern, zu gewinnen. Dabei geht es vor allem darum, Würfe zu kreieren, die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, für eine gute Abschlussquote in Frage zu kommen. Das gelingt uns durch Eins-gegen-eins-Situationen und Durchbrüche. Außerdem ist es Grundvoraussetzung unserer Magdeburger DNA, aus einer stabilen Abwehr ins Tempospiel zu gehen.

Wie ist diese Philosophie entstanden? War das Ihre Idee?

Wiegert: Ich kann mich nicht als Erfinder des Handballs hinstellen. Ich hatte, als ich vor sieben Jahren hier angefangen habe, ein Bild im Kopf, das ich aber sicherlich auch schon mal irgendwo gesehen hatte. Eine Art Vorbild war vielleicht der slowenische Handball, in dem damals aus der Not der vielen kleinen Handballer eine Tugend gemacht wurde. Dort wurde versucht, ein anderes Spielsystem zu entwickeln, um auch mit kleineren Rückraumspielern erfolgreich zu sein. Das fand ich spannend und habe mir gedacht, dass das erfolgreich sein kann, wenn man sich die nötige Qualität zusammenstellt.

Sie haben Mannschaft und Verein also den Stempel des heutigen SCM-Handballs aufgedrückt.

Wiegert: So möchte ich das gerne sehen, ja. Ich habe das in meiner vorherigen Funktion als Trainer der zweiten Mannschaft schon so ähnlich in der 3. Liga gemacht. Mein Ziel war es, eine Benchmark für den Verein zu entwickeln. Wenn man ein Spiel des SC Magdeburg sehen würde, bei dem Spieler und Trikots nicht erkennbar wären, sollte man die Mannschaft trotzdem als eine SCM-Mannschaft erkennen können. Auch ohne große Handballexpertise sollte erkennbar sein, dass dieser Stil unser Stil ist. Ich wollte weder graue Maus noch strahlender Leuchtturm sein, aber ich wollte, dass wir für etwas stehen.

Wie wichtig ist es, dass diese Philosophie sich durch den ganzen Verein zieht, also auch in der zweiten Mannschaft und den Jugendteams so angewandt wird?

Wiegert: In der Jugend verfolgen wir einen ausbildungsorientierteren Ansatz, während wir bei den Profis ergebnisorientierter arbeiten. Es geht für uns ausschließlich darum, kurz- und mittelfristig Spiele zu gewinnen. Im Nachwuchs hingegen geht es um eine langfristige Entwicklung.

Ist das auch ein Grund, wieso der SCM zwar zwischen 1996 und 2006 neunmal deutscher A-Jugend-Meister wurde, seitdem aber nicht mehr?

Wiegert: Aus meiner Sicht beißen sich eine individuelle Ausbildung und das Spielen um Meisterschaften im Jugendbereich nicht. Dennoch macht Erfolg uns natürlich attraktiver für Jugendliche, die wir gerne in unserer Akademie hätten. Vor allem, weil wir auch überregional, also nicht nur in Sachsen-Anhalt, scouten. Dass wir damals so viele Meisterschaften gewonnen haben, lag aus meiner Sicht daran, dass wir ein Monopol hatten. Wir haben das Prinzip der Kinder-und-Jugend-Schulen aus der DDR übernehmen können und hatten zeitweise die bundesweit einzige Sportschule. Da wollte jeder hin!

Sie waren damals auch an dieser Sportschule.

Wiegert: Genau. Ich erinnere mich noch, wie beim Probetraining Spieler aus ganz Deutschland neben mir saßen, die alle unbedingt nach Magdeburg wollten, weil die Sportschule hier etwas Einzigartiges war. Heute hat jedes Bundesland mindestens eine Sportschule, auch in der Nähe. Ich denke beispielsweise an Leipzig, Berlin oder Eisenach - das sind direkte Konkurrenten um junge Spieler. Dazu kommt, dass wir nicht im Fußball sind, wo es am Ende darum geht, aus Quantität Qualität zu machen. Wir sind mit dem Handball noch eine Randsportart. Wir müssen die Jugendlichen davon begeistern, sich überhaupt für diese Sportart zu entscheiden. Das ist ein riesengroßer Unterschied. Außerdem liegt unsere Priorität in der Jugendarbeit eben nicht auf Meisterschaften, sondern darauf, Spieler zu entwickeln. Wir wollen alle fünf bis zehn Jahre einen Spieler für das Profiteam entwickeln - und das ist bei den Ansprüchen, die sich hier entwickelt haben, schwer genug.

Bennet Wiegert ist Mitglied der Hall of Fame des SC Magdeburg.getty

"Leute, seid mir nicht böse, aber das wird nicht funktionieren"

Mit Matthias Musche und Philipp Weber stehen aktuell nur zwei Profis in Ihrem Kader, die in der SCM-Jugend gespielt haben. Beide sind Jahrgang 1992, gemessen am Zehnjahresrhythmus wäre es dann bald mal wieder so weit, oder?

Wiegert: Das würde ich mir wünschen. Aber es ist leider kein Wunschkonzert. Es kann sein, dass mal in einem Jahr zwei oder drei Spieler hochkommen, aber das ist leider sehr schwer planbar, auch wegen der mittlerweile hier geforderten Qualität. Es ist ja kein Geheimnis, dass der Sprung zu den Profis in der 2. Liga einfacher ist. Ich bin deswegen auch ein Freund davon, wenn junge Spieler den Umweg über beispielsweise eine Mannschaft in der 2. Liga nehmen. Auch ein Philipp Weber war relativ lange weg, um sich zu entwickeln und nun wieder zurückzukommen. Ich finde diesen Ansatz nicht uncharmant.

Trotzdem gibt es immer wieder Rufe nach mehr Spielern aus der eigenen Jugend.

Wiegert: Ich kriege die Diskussionen natürlich mit. Die sind aber größer, wenn der Erfolg gerade kleiner ist und andersherum genauso. SCM-Fans wollen die Champions League gewinnen - das aber am liebsten nur mit Magdeburgern. Da muss ich dann Realist bleiben und sagen: 'Leute, seid mir nicht böse, aber das wird nicht funktionieren' Am Ende wird nur eines von beidem gehen. Ich wäre zwar bereit, nur mit Magdeburgern zu spielen, aber dann landen wir vielleicht zwischen Platz zehn und zwölf. Am Ende ist es der gesunde Mix. Da sollten wir uns nicht zu sehr auf schwarz oder weiß einlassen, sondern uns im Graubereich bewegen.

Sie erwähnten bereits, dass Ihre Philosophie auf die erhöhte Wahrscheinlichkeit, ein Tor zu erzielen, ausgerichtet ist. Arbeiten Sie dementsprechend viel mit Statistiken?

Wiegert: Unbedingt. Ich brauche die Hard Facts. Nur von einem subjektiven Gefühl kann ich nicht leben. Statistiken müssen mir belegen können, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Dennoch ist das nur Theorie. Ich erinnere mich an Spiele, in denen wir uns zahlreiche gute Wurfchancen herausarbeiteten, am Ende aber am gegnerischen Torhüter scheiterten. Letztlich muss ich also gerade in solchen Situationen neben den Statistiken auch subjektive Eindrücke einfließen lassen. Waren das die Würfe, die wir haben wollten? Oder waren unsere Fehlwürfe außerhalb der 9-Meter? Das muss ich unterschiedlich beurteilen. Im Handball ist es nie so, dass ich bloße Zahlen lesen kann und dadurch das Spiel nachvollziehen kann.

Die Bedeutung von Statistiken wächst aber auch im Handball.

Wiegert: Absolut. Und wir sind da noch stiefmütterlich unterwegs. Wenn ich mir anschaue, wie das in der NBA oder NFL läuft - davon sind wir Welten entfernt. Dazu fehlt uns auch die Manpower, davon lebt das Ganze nämlich. Ich sehe dort große Reserven, mit denen wir den Handball auf ein anderes Level heben könnten. Daher begrüße ich die Entwicklung, was Scouting und Statistik angeht.

Bennet Wiegert gewann mit dem SC Magdeburg unter anderem die EHF European League.getty

"Die Mannschaft hat von mir drei Eckdaten bekommen"

Wie sieht die Manpower beim SCM aus? Sammeln Sie neben den offiziellen Daten auch eigene?

Wiegert: Die offiziellen Daten nehme ich gar nicht, weil ich ihnen nicht vertraue. Das ist nicht böse gemeint, aber ich weiß nicht, wie viel Handballexpertise der Mensch hat, der da scoutet. In der Bundesliga scoutet jede Halle selbst, das kann mal passen und mal nicht. Deswegen machen wir das alles selbst. Vor allem mein Co- und Torwarttrainer sind dafür verantwortlich. Teilweise schauen wir uns im Nachgang Spiele nochmal an, um unsere Statistiken möglichst sauber zu haben. Dass wir aber einen Analysten oder Ähnliches im Trainerteam haben, so weit sind wir im Handball leider noch nicht.

Was sind Sie die entscheidenden Statistiken, auf die Sie nach jedem Spiel schauen?

Wiegert: Technische Regelfehler, Torwartparaden und die entsprechende Quote, Angriffseffektivität und Torwurfeffektivität. Das sind die Hard Facts, die ich ab und zu auch während des Spiels abfrage und die ich sofort griffbereit haben muss. Wenn ich da eine Zahl bekomme, die mir nicht gefällt, hinterfrage ich anhand dessen unser Spiel und schaue, was wir anpassen können.

Sie haben bei diesen Statistiken also Bereiche, die Ihnen gefallen und entsprechende Vorgaben an die Spieler?

Wiegert: Genau. Wir wissen aufgrund der Erfahrungen aus den vergangenen sieben Jahren ganz gut, in welche Bereiche wir kommen müssen, um eine Siegchance zu haben. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber im Grunde wissen wir, welche Quoten wir erreichen müssen, um für einen Erfolg in Frage zu kommen und bei welchen es schwer wird. Diese Bereiche sind auch komplett unabhängig vom Gegner. Die Mannschaft hat von mir drei Eckdaten bekommen, zu denen ich ihnen gesagt habe: Wenn wir die erfüllen, werden wir zu 80, 90 Prozent Erfolg haben. Die kann ich Ihnen jetzt aber nicht nennen, sorry. (lacht) Was ich sagen kann: Wir erlauben uns mehr technische Regelfehler als der Gegner. Natürlich versuche ich, diese Zahl möglichst gering zu halten, letztlich spielen wir aber anders als der Gegner und mit unserem System bekommt man eher mal Schritte oder ein Stürmerfoul. Das muss man bei uns mehr akzeptieren als bei anderen Philosophien.

Auch die Verletzungsgefahr ist bei vielen Zweikämpfen höher. Als sich vor rund einem Jahr Ihr Spieler Gisli Kristjansson in einem Zweikampf erneut schwer an der Schulter verletzte, gaben Sie unmittelbar nach Spielende ein emotionales Interview, in dem Sie unter anderem sagten, Sie wüssten nicht, ob Ihre Spielphilosophie der vielen Zweikämpfe noch die richtige sei. War das eine Momentaufnahme oder hat das nachhaltige Zweifel ausgelöst?

Wiegert: Ich hatte überhaupt keine Zweifel. Das war in dem Moment einfach etwas provokant formuliert. Ich wollte dieses Zeichen setzen, bewusst. Ich habe nie das Spielsystem des SC Magdeburg in Frage gestellt, sondern wollte provozieren und die Fragen aufwerfen: Was wollen wir? Wollen wir unsere Spieler weiter verheizen oder wollen wir sie irgendwann durch das Regelwerk schützen?

Anpassungen gab es in der Folge also keine?

Wiegert: Überhaupt nicht. Das war ein emotionales Interview, in dem ich mir mehr Sorgen um meinen Spieler gemacht habe als um die Aussagen, die ich dort treffe. Es ist immer schön, wenn die Fernsehsender diese Interviews direkt nach Spielschluss bekommen, wo man emotional noch nicht so abgekühlt ist, um seine Worte mit Bedacht zu wählen. Davon lebt das Ganze. Alles gut, das kann ich liefern. Aber ich wusste direkt danach, was ich damit gemeint habe und vor allem was ich nicht gemeint habe.

Es ging um eine gewisse Diskrepanz zwischen der nationalen und internationalen Regelauslegung. Nicht selten verfolgen die Schiedsrichter bei Welt- und Europameisterschaften deutlich progressivere Linien als in der Bundesliga. Kann da der Videobeweis, der kommende Saison eingeführt werden soll, helfen?

Wiegert: Ich bin mir nicht sicher, ob wir den Videobeweis in der kommenden Saison bekommen. Das, was ich aktuell aus der Liga höre, geht in die Richtung, dass das technisch wieder nicht umsetzbar ist. Das ist mein letzter Stand. Das finde ich natürlich schade. Ich bin Fan des Videobeweises. Ich weiß zwar um die Diskussionen im Fußball, aber für mich - ich bin ein Typ mit ausgeprägten Gerechtigkeitssinn - geht es um Gerechtigkeit. Ich denke, der Videobeweis macht die Sache für alle Beteiligten einfacher. Ob man mich da aber erhört? Ich glaube nicht.

Blicken wir doch wieder ins Hier und Jetzt. Sie haben vor einiger Zeit verraten, dass Sie Ihre bisher letzten beiden Flaschen Bier nach Titelgewinnen getrunken haben. Haben Sie die nächste Flasche schon kaltgestellt?

Wiegert: (lacht) Nein. Das mache ich auch nicht, weil ich so gerne Bier trinke, sondern weil die Spieler das gerne möchten. Es gibt ein paar Spieler im Team, bei denen habe ich das Gefühl, es ist ihnen wichtiger, ein Bier mit mir zu trinken als einen Titel zu gewinnen. Wenn sie das so möchten, werde ich dem nach einem Erfolg gerne gerecht. Für mich betrachtet könnte ich einen Titel aber auch sehr gut ohne Bier genießen.

Es ist ja sehr sehr gut möglich, dass Sie in dieser Saison noch einen Titel gewinnen...

Wiegert: Ich hoffe, dass das möglich ist und ich wehre mich - anders als momentan immer mal behauptet - auch nicht dagegen. Ich will nur darauf hinweisen, dass noch ein langer Weg vor uns liegt. Deswegen möchte ich mich auf solche Fragen gar nicht einlassen. Das ist alles in die Zukunft gedacht, ich möchte aber im Hier und Jetzt leben und den Ist-Status nutzen. Der ist super, wir haben eine super Basis geschaffen, um in dieser Saison erfolgreich zu sein und das ist ein gutes Gefühl. Erfolgreich sind wir dadurch aber noch nicht. Wir können es sein, sind es aber noch nicht. Das ist mein Mindset.

Wiegert: "Wir in Magdeburg müssen demütig bleiben"

Sind Sie denn, Stand jetzt, Favorit auf die deutsche Meisterschaft?

Wiegert: (überlegt kurz) Ja. Das denke ich schon. Wer sich diese Ausgangsposition erarbeitet hat, bei nur zwei Niederlagen steht und die Verfolger bereits einige Punkte distanziert hat, sollte als Favorit in den Rest der Saison gehen. Wir haben die Pole Position, so würde ich es formulieren. Ob wir damit das Rennen gewinnen, werden wir sehen. Es in der eigenen Hand zu haben und nicht abhängig von anderen Ergebnissen zu sein, ist aber ein gutes Gefühl.

Sie stehen auch im Halbfinale des DHB-Pokals. Sind zwei Titel das Ziel?

Wiegert: Das Ziel ist, überhaupt einen Titel mitzunehmen. Ich weiß, wie schnell das weggeht. Wir in Magdeburg müssen demütig bleiben, wir wissen, wo wir herkommen. Mit dem Super Globe haben wir schon einen Titel geholt, daraus hat sich sicherlich ein kleiner Suchtfaktor entwickelt. Deswegen wollen wir mehr. Aber über ein Triple zu reden? Nein. Am Ende bin ich froh, wenn wir etwas in den Händen halten und uns für unsere Saison belohnen können. Ich habe schon Mannschaften überragend spielen sehen und am Ende hatten sie gar nichts. So ungerecht kann unser Sport manchmal sein. Das ist aber ein Thema, über das ich gar nicht wirklich nachdenken möchte, weil das sehr hypothetisch und in die Zukunft gedacht ist.

Sollte es mit dem großen Wurf klappen, hätte neben Ihrer Philosophie auch Ihre Art des Coachings einen großen Anteil am Erfolg. Von außen betrachtet wirkt es, als seien Sie nicht nur vom Alter her nahe an der Mannschaft, sondern begegneten den Spielern generell häufig auf Augenhöhe und setzten auf flache Hierarchien. Stimmt das?

Wiegert: Da müssten Sie mal unsere Spieler fragen, die Antworten würden mich interessieren. (lacht) Ich kann aber sagen, wie ich mich gern sehe. Ich möchte nahe am Spieler sein und nehme es daher auch als Kompliment, wenn Sie sagen, ich sei nahe dran am Team. Ich möchte mit einer hohen sozialen Kompetenz mit jedem einzelnen Spieler arbeiten und individuell auf Probleme eingehen können und nicht alle gleich sehen - das würde nicht funktionieren, weil alle unterschiedliche Charaktere sind und unterschiedliche Ansprachen, unterschiedliche Kommunikation benötigen. Flache Hierarchien? Ja und nein. Ich bin ein Fan von Struktur und da gehört dazu, dass einer den Takt, den Puls vorgibt. Würde jeder machen können, was er will, gäbe es ein großes Chaos und das wäre in einem taktisch geprägten Sport wie unserem nicht unbedingt erstrebenswert. Ich sehe es aber auch nicht so, dass einer der Koch und einer der Kellner ist. Jeder soll sich ein bisschen einbringen und eine Gewinnereigenschaft ist es, von jedem das Beste zu nehmen.

Welche Rolle spielt dabei Yves Gravenhorst, mit dem Sie einst zusammengespielt und ihn später trainiert haben, bevor er Ihr Co-Trainer wurde?

Wiegert: Beruflich kennt er mich besser als meine Frau. Er weiß genau, was in meinem Kopf vorgeht. Das ist mal gut, weil er weiß, wie ich ticke und mich so abholen kann, mal ist es aber auch schlecht, weil wir dann mit Scheuklappen unterwegs sind und betriebsblind werden. Das Vertrauen schätze ich aber natürlich unglaublich. An sich fühlt es sich für mich hier in Magdeburg gerade im Team hinter dem Team, also mit den Trainern aber auch der Geschäftsführung und dem Aufsichtsrat sehr, sehr gut an. Da ist ein hoher Grad an Respekt und Vertrauen vorhanden, der mir viel Sicherheit gibt.

Als Vorbild nannten Sie einst den heutigen Bundestrainer Alfred Gislason, der Sie in seiner Zeit in Magdeburg trainiert hat. Inwieweit hat er Sie geprägt?

Wiegert: Bei ihm habe ich die Chance bekommen, das erste Mal Bundesliga zu spielen. Ich war damals überrascht, wie innovativ er war. Das kannte ich aus dem Nachwuchs nicht, für mich waren das Welten, diesen Sprung aus dem Nachwuchs zu einem Team, das von Alfred Gislason trainiert wird. Vor allem in der Spielvorbereitung, bei dem Thema war er sicherlich seiner Zeit voraus. Mich hat begeistert, mit welcher Akribie er nach den Trainingseinheiten, nach den Spielen unterwegs war. Da habe ich super viel mitgenommen und das hat mich sicherlich auf die eine oder andere Art sehr geprägt.

Im Umgang mit den Spielern allerdings war Gislason damals ganz anders als Sie heute.

Wiegert: Absolut. Das ist nicht zu vergleichen. Das ist aber auch gut, ich will ja keine Gislason-Kopie sein. Ich hatte das Glück, viele gute Trainer zu haben und habe immer versucht, das mitzunehmen, was ich gut fand - und am Ende trotzdem authentisch zu bleiben.

Was Sie eint, ist der scheinbar unbändige Ehrgeiz. Von Ihnen ist beispielsweise bekannt, dass bei einer Niederlage auch mal das heimische Monopoly-Brett durchs Wohnzimmer fliegt. Ist diese Einstellung notwendig im Profisport?

Wiegert: Ich denke ja. Das kann ruhig mal ins Extreme gehen. Wenn ich damals als Jugendtrainer Kinder nach Niederlagen in der Halle habe weinen sehen, habe ich meist zu den Eltern gesagt: 'Das ist Gewinnermentalität.' Ich finde das nicht super, aber das Nicht-verlieren-können ist an sich nicht schlecht. Man muss lernen, damit umzugehen und die Energie zu kanalisieren, aber das ist das Mindset, das ich haben möchte. Ich möchte, dass gewisse Dinge dem Erfolg untergeordnet werden. Möchte man besser sein als andere, muss man mehr tun als andere - ganz einfache Rechnung. Das verlange ich von allen um mich herum, sowohl von der Mannschaft als auch dem Team hinter dem Team. Wenn das nicht gelingt, wird es schwierig in der Zusammenarbeit.

Wie versuchen Sie, dieses Mindset bei Ihren Spielern zu fördern?

Wiegert: Es geht dabei um Grundvoraussetzungen. Wenn man Pünktlichkeit will, muss man der Erste und der Letzte in der Halle sein. Wenn man Fleiß erwartet, muss man Fleiß vorleben. Das formuliere ich gar nicht, wir versuchen das als Trainerteam vorzuleben. Ich glaube, dann kann sich auch keiner dagegen wehren. Für mich ist das das Gesetz der Horde: Wenn du eine Mannschaft von 17 Leuten hast und 15 trainieren überragend, dann werden die zwei, die nicht so trainieren können oder wollen, einfach mitgezogen. Die zwei können sich nicht wehren. Hast du es aber andersrum, werden auch die zwei, drei, die wollen, runtergezogen. Deswegen ist es gut, wenn man viele willige Spieler hat, die das vorleben.

Wiegert: "Schauen Sie sich an, wie ich aktuell aussehe"

Diese Charaktereigenschaft ist dementsprechend Teil des Scoutings?

Wiegert: Unbedingt. Das ist ganz wichtig. Wir sagen ganz klar, dass wir bis zu einem gewissen Grad - fünf bis zehn Prozent - auf sportliche Qualität verzichten, wenn charakterlich die Eigenschaften da sind, die zu uns passen: Kampf, Leidenschaft, Mentalität. Darauf liegt der Fokus, alles andere kriegen wir über Training noch hin. Das ist ein ganz wichtiger Teil des Scoutings.

Sie sind nicht nur ehrgeizig, auch der Aberglaube spielt bei Ihnen eine große Rolle. Eine Rasur Ihres Bartes beispielsweise erlauben Sie sich nur bei einer Niederlage. Auch sagten Sie einmal, Ihr schwarzes Polohemd steigere die Siegwahrscheinlichkeit.

Wiegert: Ich bin grundsätzlich ein abergläubischer Typ, der bestimmte Zwänge hat. Schauen Sie sich an, wie ich aktuell aussehe. Der Bart ist schon ziemlich lang. An sich ein gutes Zeichen, nur meine Kinder finden das schon nicht mehr so lustig. Das ist etwas, wo ich mich verbessern muss. Unser Erfolg ist nicht abhängig vom schwarzen Poloshirt oder von meinem Bart. Aber ich habe einfach gewisse Routinen, die ich beibehalte. Da kann ich mich noch sehr entwickeln, auch um das von der Mannschaft fernzuhalten.

Wir haben vorhin über die mögliche deutsche Meisterschaft gesprochen. Sagen Sie uns doch zum Schluss, was es den Menschen in Ihrer Geburtsstadt Magdeburg bedeuten würde, wenn Sie den Titel holen.

Wiegert: Wie ich diese Stadt, die so handballfanatisch ist, kennengelernt habe, muss das ein absolut überragendes Gefühl sein. Die Menschen würden sich sicherlich von Herzen mit dem SC Magdeburg freuen. Das sollte uns alle anspornen, den Leuten in diesen schwierigen Zeiten - mit der Pandemie, mit dem Krieg - trotzdem ein gutes Gefühl geben zu dürfen.