Der beispiellose Absturz von Red Bull im WM-Kampf: Verlässt Max Verstappen das sinkende Schiff?

Von Christian Guinin
Formel 1, Red Bull, Max Verstappen, Jos Verstappen, Helmut Marko, Christian Horner
© SPOX

Nach einem sehr überzeugenden Start in die Saison 2024 hat sich das Blatt für Red Bull im WM-Kampf der Formel 1 mittlerweile komplett gewendet. Viele Spitzenkräfte haben das sinkende Schiff verlassen, auch Weltmeister Max Verstappen wirkt ratlos. Es droht der Verlust zweier sicher geglaubter Titel.

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Mit Prognosen vor einer neuen Saison ist das ja immer so eine Sache. Manchmal trifft man selbst mit gewagten Thesen den Nagel auf den Kopf und darf sich am Ende mit einem "hab ich ja gesagt" auf die Schulter klopfen. Manchmal aber liegt man auch komplett daneben. Bei der Prognose zur aktuellen Formel-1-Saison muss ich mich persönlich leider mit letzterem schmücken. Schließlich war ich mir zu 100 Prozent sicher, dass niemand Max Verstappen auf dem Weg zu seinem vierten Weltmeistertitel aufhalten könne.

An den ersten Rennwochenenden sollte sich diese Einschätzung auch noch bestätigen, schließlich war das Paket Verstappen/RB das mit weitem Abstand schnellste und konstanteste. Im Longrun nahm man der Konkurrenz teilweise über eine Sekunde pro Runde ab, womit sich auch kleinere Schwächen im Qualifying problemlos ausmerzen ließen. Bei den ersten zehn Grands Prix stand der Niederländer folgerichtig siebenmal ganz oben auf dem Podest, die Fahrerwertung führte er zwischenzeitlich mit 84 Zählern Vorsprung vor Rivale Lando Norris an.

Von dieser Überlegenheit ist knapp zwei Monate später nicht mehr viel übrig. Nicht nur haben die anderen Topteams um McLaren, Ferrari und Mercedes zu Red Bull aufgeschlossen, mittlerweile hängen alle drei das Weltmeisterteam in unschöner Regelmäßigkeit ab. Dank seines starken Saisonstarts führt Verstappen die Fahrer-WM immer noch mit 62 Punkten Vorsprung auf Norris an, doch das Polster schwindet kontinuierlich. In der Konstrukteurs-WM ist McLaren gar nur noch acht Punkte vom Spitzenreiter entfernt, auch Ferrari mit Monza-Sieger Charles Leclerc hat nur noch 39 Zähler Rückstand.

Doch wie konnte überhaupt es so weit kommen? Wie konnte Red Bull den massiven Vorsprung, welchen man beim Auftakt in Bahrain noch hatte, innerhalb nur eines halben Jahres einbüßen? Die einfache Antwort darauf wäre, dass Verstappen und RB mit der Zeit immer langsamer wurden und die anderen Teams so aufholen konnten. Tatsächlich ist die Causa aber ein wenig komplizierter.

Christian Horner
© getty

Red Bulls Absturz: Christian Horner bringt den Stein ins Rollen

Um den schleichenden Niedergang von Beginn an aufzudröseln, müssen wir zurück zum Jahresanfang. Genauer gesagt zum 5. Februar 2024. An jenem Tag kamen erstmals Berichte über ein grenzüberschreitendes Verhalten von Teamchef Christian Horner gegenüber einer Mitarbeiterin auf. Medien, Experten und am Ende sogar die Formel 1 selbst warfen sich auf den Fall und nahmen Red Bull in die Mangel. Der Rennstall gab eine unabhängige Untersuchung in Auftrag, welche letztlich - trotz einiger Ungereimtheiten - die Unschuld Horners feststellte.

Bei RB nahm man an, es vergleichsweise schnell und leise geschafft zu haben, den Trubel unter den Teppich zu kehren und sich von nun an aufs Sportliche konzentrieren zu können. Die Horner-Causa markierte allerdings erst den Beginn der Turbulenzen. Der Dominostein, der alles andere ins Wanken bringen sollte.

Trotz des offiziellen Abschlusses der Angelegenheit offenbarte sich nämlich ein tief gespaltenes Team. Auf der einen Seite der "Verstappen-Clan" um Max, Vater Jos, Chefdesigner Adrian Newey sowie Motorsportberater Helmut Marko, auf der anderen Seite Horner samt thailändischem Mehrheitsanteileigner im Rücken. Vor allem Jos Verstappen machte seinem Unmut über das Festhalten an Horner immer wieder Luft und attackierte den RB-Teamchef mehrmals scharf: "Es wird hier Spannungen geben, so lange er in seiner Position ist. Das Team läuft Gefahr, zerrissen zu werden. Es kann so nicht weitergehen, es wird explodieren." Horner spiele "das Opfer, obwohl er derjenige ist, der die Probleme verursacht".

Christian Horner, Helmut Marko, Adrien Newey, Max Verstappen
© getty

Horner-Causa: Spitzenkräfte wandern zur Konkurrenz ab

Und diese Spannungen sollten, obgleich sie auf die sportlichen Ergebnisse zunächst überhaupt keinen Einfluss hatten und sich RB von der Thematik relativ schnell zu erholen schien, letztlich auch Auswirkungen auf das Teaminnere haben. Newey, dessen Abgang schon seit einigen Monaten feststeht, ist dabei nur das prominenteste Beispiel, wie dem österreichischen Rennstall reihenweise gute Ingenieure, Mechaniker und Strategen in Richtung Aston Martin, Mercedes, McLaren und Ferrari davonlaufen.

"Dieses ganze Hickhack im Team Red Bull über die letzten sechs Monate hat natürlich seine Spuren hinterlassen", sieht auch Ex-F1-Pilot Gerhard Berger die Horner-Causa für die aktuellen Schwierigkeiten zumindest mitverantwortlich. "Das überlegene Paket ist heute kein überlegenes Paket mehr, sondern vielleicht an zweiter, dritter Stelle, ganz klar hinter McLaren."

Bisher war es Verstappen aufgrund seiner immensen individuelle Qualität möglich, den Schaden noch in Grenzen zu halten und, trotz der eklatanten Schwächen des Boliden, regelmäßig solide Punkteergebnisse einzufahren. "Verstappen ist immer noch eine Sondergröße in dem Geschäft", so Berger. "Er holt die Kohlen normalerweise schon aus dem Feuer. Wenn ihm das nicht mehr gelingt, dann weiß man, dass dort schon die Alarmglocken angehen müssen und dass sie (Red Bull) jetzt einfach Modifikationen brauchen, die sitzen."

Lando Norris, Oscar Piastri
© getty

McLaren und Ferrari plötzlich Favoriten? "Gibt definitiv eine Chance"

Inwiefern diese internen Kriegsschauplätze tatsächliche Auswirkungen auf den Performance-Einbruch hatten, ist schwer zu beurteilen - schließlich ist kaum festzustellen, welcher Mitarbeiter wie stark in welche Projekte und Entwicklungen involviert gewesen ist. Auf der Hand liegt allerdings, dass Red Bull sich, im Gegensatz zu vergangenen Jahren, als man auch während der Saison mit regelmäßigen Updates das Auto immer weiter voran brachte, im Entwicklungsrennen komplett verrannt zu haben scheint. Purer Zufall?

"Wir haben aus einem Rennwagen, der bei den ersten Rennen dominiert hat, ein mehr oder weniger unkalkulierbares, ganz schwierig zu fahrendes Auto gemacht", äußerte sich Marko in seiner Kolumne für Speedweek vielsagend. Hauptproblem scheint dabei die Balance zu sein, die den RB20 nahezu unfahrbar macht. "Wir haben ein Fahrzeug geschaffen, das überaus sensibel auf kleinste Veränderungen reagiert - sei dies die Außentemperatur oder eine andere Reifenmischung oder weniger Kraftstoff an Bord." Man müsse nun "zurückbauen und dabei hoffentlich den Punkt finden, an dem der Wagen in Balance war."

Ob den Bullen dafür genügend Zeit bleibt, ist fraglich. Denn nach der "Herbstpause" zwischen Singapur und Austin steht nur noch das knallharte Schlussprogramm mit sechs Überseerennen in acht Wochen an. Hat man die Probleme bis Mitte Oktober nicht gelöst, ist es beinahe aussichtslos, dass ein spürbarer Entwicklungssprung in diesem Jahr überhaupt noch gelingen wird.

Auch die Konkurrenz hat nämlich mittlerweile Blut geleckt und sieht die unverhoffte Chance, Verstappen und Red Bull vom Thron zu stoßen. McLaren verkündete im Zuge dessen vor dem Wochenende in Baku, die Ressourcen künftig voll und ganz auf Norris zu bündeln und den Engländer als Herausforderer des Niederländers zu unterstützen. Und auch Ferrari und Leclerc machen sich noch leise Hoffnungen, in den WM-Kampf noch eingreifen zu können.

"Es gibt definitiv eine Chance", sagte der Monegasse, angesprochen auf die Weltmeisterschaft. "Ich denke aber, dass es realistisch betrachtet nicht nur einen Leistungssprung braucht, um die Fahrermeisterschaft zu gewinnen, sondern wahrscheinlich auch ein bisschen Glück."

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Verlässt Verstappen Red Bull? - "Will um den Titel fahren"

Und dann ist da natürlich noch die Komponente Verstappen. Der Niederländer wirkt von Woche zu Woche gefrusteter und ratloser. In Monza sprach er davon, dass das Team "das dominanteste Auto aller Zeiten" in ein "Monster" verwandelt hätte. In der aktuellen Verfassung, fügte der 26-Jährige hinzu, "sind beide Weltmeisterschaften nicht realistisch". Sollte Red Bull den Titel tatsächlich noch verspielen, wird sich auch der dreifache Weltmeister Gedanken machen, ob das Gras möglicherweise nicht doch woanders ein wenig grüner wächst.

Mit Aston Martin tut sich eine interessante und aufstrebende Option auf, die ab 2026 nicht nur von Verstappens Weltmeister-Hersteller Honda beliefert wird, sondern mit Newey auch einen Vertrauten und guten Freund ab dem kommenden Jahr in den eigenen Reihen weiß. Darüber hinaus baggern auch Mercedes und Toto Wolff seit Jahren am Niederländer. Die Silberpfeile haben mit George Russell und Kimi Antonelli zwar künftig ein noch recht junges und vielversprechendes Fahrer-Duo unter Vertrag, wenn ein Name wie Verstappen auf den Markt kommt, wird man aber auch dort zwangsläufig hellhörig werden.

"Max Verstappen und speziell auch sein Vater und sein Management wollen gewinnen, die wollen um den WM-Titel fahren", schätzt auch Ralf Schumacher den Niederländer vorrangig als erfolgsgetrieben ein. Somit liegt es einzig und alleine an Red Bull, die Dinge wieder in die richtigen Bahnen zu leiten.

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© getty

Formel 1: Stand in der Fahrerwertung und der Konstrukteurswertung nach 16 von 24 Rennen

Fahrerwertung:

Pos.FahrerPkt.
1.Max Verstappen303
2.Lando Norris241
3.Charles Leclerc217
4.Oscar Piastri197
5.Carlos Sainz184
6.Lewis Hamilton164
7.Sergio Perez143
8.George Russell128
9.Fernando Alonso50
10.Lance Stroll24
11.Nico Hülkenberg22
12.Yuki Tsunoda22
13.Daniel Ricciardo12
14.Pierre Gasly8
15.Oliver Bearman6
16.Kevin Magnussen6
17.Alexander Albon6
18.Esteban Ocon5
19.Guanyu Zhou-
20.Logan Sargeant-
21.Franco Colapinto-
22.Valtteri Bottas-

Konstrukteurswertung:

Pos.TeamPkt.
1.Red Bull Racing446
2.McLaren438
3.Ferrari407
4.Mercedes-Benz292
5.Aston Martin74
6.Racing Bulls34
7.Haas28
8.Alpine13
9.Williams6
10.Sauber-
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