DFB-Team: Drei Spiele unter Julian Nagelsmann - was läuft gut, wo hapert es?

Von Justin Kraft
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Julian Nagelsmann ist seit drei Spielen Bundestrainer des DFB-Teams. Ein Sieg gegen die USA, ein Unentschieden gegen Mexiko und die Niederlage gegen die Türkei zeichnen einen durchwachsenen Start. Doch wo steht die Nationalmannschaft wirklich? Ein erstes Zwischenfazit.

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"Die Taktik ist zweitrangig, es ist immer erst die Emotion", erklärte Julian Nagelsmann nach der 2:3-Niederlage gegen die Türkei in Berlin: "Wenn du da auf 100 Prozent bist, kannst du taktisch auch deutlich schlechter sein. Wenn die Emotionen nicht so sind, musst du taktisch brillant sein, um das Spiel trotzdem positiv zu gestalten."

In Deutschland dominierte anschließend das Fazit, dass beides nicht gut war. Sonst hätte das DFB-Team das Spiel gegen die Türken wohl gewonnen - oder? Der Bundestrainer hatte da eine andere Meinung. "Wir können jetzt wieder anfangen, alles schwarzzumalen und alles schlecht zu sehen", so der 36-Jährige: "Das können wir machen, da werden wir aber nicht weiterkommen als Fußball-Nation." Er sei weit davon entfernt, "alles negativ zu sehen".

Dass viele sich bereits jetzt an Hansi Flick erinnert fühlen, der in jeder Länderspielpause versucht hatte, die vermeintliche "Fußball-Nation" hinter sich zu vereinen und dem irgendwann nur wenig mehr einfiel als die immer selben Phrasen, verwundert nicht. Der deutsche Fußball steckt in einer tiefen Krise. Und die großen Hoffnungen auf Nagelsmann waren vermutlich ebenso überhöht wie der jetzige Schwenk in andere Extreme.

Doch was lässt sich nach drei Spielen unter dem neuen Bundestrainer schon ablesen? Wo sind die positiven Dinge, die Nagelsmann implizit gesehen hat? Und mit welchen negativen Aspekten muss er sich zumindest intern weiter auseinandersetzen?

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DFB-Team: 25 Minuten gegen die Türkei machen Mut

Vielleicht war die Anfangsphase gegen die Türkei die beste Leistung der Nationalmannschaft seit vielen Monaten. Zugegeben: So schwer dürfte das mit dem Potential innerhalb des Teams nicht sein. Doch die DFB-Elf legte mit viel Euphorie und gut vorgetragenen Angriffen los. Tempo, Positionswechsel, selbst im sonst eher wackligen Spielaufbau gelang den Deutschen vieles auf hohem Niveau.

Das hohe Pressing des Gegners wurde mehrfach klug umspielt und so ergaben sich Räume, die vor allem auf der halb-rechten Seite mit Leroy Sané oft ausgenutzt wurden. Hinzu kam der frühe Führungstreffer durch Kai Havertz - aufgelegt von Sané. Deutschland vermittelte eine Spielfreude, die in dieser Form fast schon überraschte.

Im Zentrum gab es zudem einige Balleroberungen, weil gut von hinten nachgeschoben wurde. Hier und da deutete sich zwar an, dass die Türken mit langen Bällen eine Chance haben könnten, doch die ersten gut 25 Minuten gehörten ganz klar dem Team von Nagelsmann. Ein Hoffnungsschimmer.

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DFB-Team: Kontrollverluste wiederholen sich

Einer, der nach weiteren 65 Minuten keine große Rolle mehr spielte. Es passierte, was in den letzten Jahren viel zu oft passierte: Das Team verlor die Kontrolle. Und das, obwohl sich im Spiel selbst wenig veränderte. Ein individueller Fehler hier, eine unglückliche Aktion dort - die Türkei schaffte es, das DFB-Team häufiger in Situationen zu bringen, in denen es sich nicht wohlfühlt.

Liefen die Deutschen zu Beginn noch forsch im 4-2-2-2 an, so wurde daraus ziemlich bald ein tiefes 4-4-2, teilweise sogar ein 5-3-2. Die frühen Ballgewinne blieben aus und Spieler fanden sich in Rollen wieder, in denen sie nicht ihre größten Stärken haben. War die rechte Seite offensiv zu Beginn ein großes Plus, so war sie in der Defensive bald ein Problem.

Sané ist in dieser Saison über nahezu jeden Zweifel erhaben. Dass er aber kein besonders guter Verteidiger ist, liegt auf der Hand. Defensiv musste er diese Rolle dennoch oft ausüben. Benjamin Henrichs rückte ein, Sané schloss außen die Defensivlücke - oder versuchte es zumindest.

Besonders offensichtlich wurden die Probleme beim Ausgleich. Joshua Kimmich stand im Mittelfeld sehr hoch, Henrichs ließ sich aus seiner Position ziehen und Sané kam gegen den in den freien Raum startenden Ferdi Kadioglu zu spät. Eine Fehlerkette, die viele Ursachen hat.

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DFB-Team: Mittelfeld und Abstimmung bleiben ein Problem

Ausgelöst wird sie aber durch Kimmich, der auf seiner hohen Position keinen Druck auf den Ball ausübt und auch keine Passoption zustellt. Das passiert nicht nur ihm. Auch Ilkay Gündogan hatte Szenen, in denen er sich zu leicht aus seiner Position ziehen ließ.

Nagelsmann muss mit seinen Personalentscheidungen immer Kompromisse eingehen. Seine Idee ist klar darauf ausgelegt, aktiv Fußball zu spielen. Passive Verteidigungsphasen sollen reduziert werden. Dafür ist der Spielaufbau sehr wichtig. Abgesehen von den ersten 25 Minuten holperte dieser jedoch beachtlich.

Zweikampfstarke, aber spielerisch nicht besonders starke Sechser wie Robert Andrich würden die Unsicherheiten vielleicht eher verstärken. Pascal Groß hingegen vereint womöglich schon eher die Qualitäten, die Nagelsmann auf dieser Position sucht. Wie die Bild berichtete, könnte Kimmich seinen Platz im Mittelfeld bald verlieren.

Dass Gündogan und Kimmich Qualitäten mit dem Ball haben, ist unbestritten. Beide hatten auch gegen die Türkei viele gute Szenen, in denen sie das Pressing überspielten oder die Offensive klug in Szene setzten. Gündogan hatte zahlreiche gute Dribblings, Kimmich verlagerte das Spiel mehrfach mit viel Raumgewinn. Doch beide stehen stellvertretend für große Abstimmungsprobleme.

Bei mehreren Angriffen der Gäste schien das Übergeben von Gegenspielern unklar zu sein, wodurch türkische Offensivspieler sekundenlang in gefährlichen Zonen anspielbar waren. Wenn Sané in der Rückwärtsbewegung war, fand er oft keine Absicherung vor. Offenbar gibt es Spielsituationen, in denen die Spieler nicht genau wissen, was zu tun ist.

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DFB-Team: Havertz als Linksverteidiger?

Verstärkt wird die Unsicherheit auch dadurch, dass Spieler ganz bewusst außerhalb ihrer Wohlfühlzone agieren müssen. Eigentlich sollte die Zeit der Experimente so kurz vor einem großen Turnier vorbei sein, hieß es immer wieder. Schon Flick wurde dafür kritisiert, dass er in der Abwehr ständig umbaute.

Nagelsmann trieb es nun auf die Spitze: Kai Havertz musste als Linksverteidiger ran. Damit war nach dem Spiel auch klar, worauf sich die Kritik fokussieren würde. Der Bundestrainer wollte davon nichts wissen, attestierte Havertz auf seiner neuen Position sogar "Weltklasse". Natürlich war das eine Überspitzung, doch der ehemalige Leverkusener machte tatsächlich kein schlechtes Spiel gegen offensivstarke Türken.

Die meisten gefährlichen Angriffe wurden über eine Seite initiiert, auf der mit Henrichs ein gelernter Außenverteidiger agierte. Das Problem sind hier weder Nagelsmann noch Havertz, sondern die generelle Personalsituation. David Raum und Robin Gosens überzeugten im DFB-Dress zuletzt nicht. Für das Trainerteam stellt sich also die Frage: Experimente oder Mittelmaß?

Dass der immer noch neue Bundestrainer seine ersten Auftritte nutzt, um etwas auszuprobieren, sollte nicht verwundern. Und ihm bleibt in der aktuellen Situation auch keine andere Wahl. Denn darauf zu verzichten würde auch bedeuten, sich auf etwas zu verlassen, das bisher nicht bestmöglich funktioniert hat.

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DFB-Team: Euphorie weg, aber ...

Mit Havertz als offensivem "Joker", wie Nagelsmann dessen Rolle bezeichnet, zeigte Deutschland im Spiel nach vorn zumindest mal in einigen Phasen etwas, das es unter Flick sehr lange nicht mehr gab: Variabilität. Havertz' Tor steht stellvertretend dafür. Auf der Heatmap sei der Arsenal-Profi eher ein weiterer Zehner gewesen, erklärte Nagelsmann.

Für die Türkei war das Angriffsspiel der Deutschen mit vielen Positionswechseln häufig nur schwer auszurechnen. Das ist ein klarer Fortschritt, wenngleich Unbeständigkeit und defensive Absicherung große Themen bleiben.

So enttäuschend es für viele Fans auch ist, dass man nach dem 2:3 gefühlt wieder am Anfang steht, so wichtig wird es für das Trainerteam sein, das Ergebnis auszublenden. Anders als bei den Spielern sind es nicht Emotionen, die das Handeln von Nagelsmann zu sehr leiten sollten. Es geht jetzt um Sachlichkeit. Es geht darum, dem Team die richtigen Lösungen an die Hand zu geben, falls die emotionale Ebene nicht ausreicht.

Sachlich gesehen hatte der Bundestrainer bisher kaum Zeit, um seine Ideen umzusetzen. Alles andere als ein schwieriger Start der Amtszeit wäre eine Überraschung gewesen. Die Anfangseuphorie ist jetzt erstmal weg. Für Nagelsmann und die generelle Erwartungshaltung im Land ist das vielleicht gar nicht so schlecht.

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