"Ältere Menschen waren zum Weinen gerührt": Auswärts-Pleite und Weltkriegs-Rhetorik - so lief die letzte EM in Deutschland

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Die EM 2024 wird das vierte große Fußball-Turnier in Deutschland. Der WM-Titel von 1974 mit Kapitän Franz Beckenbauer und das Sommermärchen von 2006 sind in der allgemeinen Erinnerung omnipräsent - aber was ist eigentlich mit der EM 1988? Geschichten von einer Berlin-Verweigerung, einem deutschen Auswärtsspiel und einem Rekord für die Ewigkeit.

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Es ist eines der ikonischsten Tore der Fußballgeschichte: Marco van Basten schleicht sich rechts in den Strafraum, perfekt kommt Arnold Mührens Hereingabe von links. Aus spitzem Winkel versenkt van Basten den Ball volley über den sowjetischen Keeper Rinat Dassajew hinweg zum 2:0 für die Niederlande. Vorentscheidung und letztlich Endstand im EM-Finale 1988 von München.

Aber warum eigentlich München und nicht Berlin? Wie schon bei der WM 1974, dem ersten Fußball-Turnier in Deutschland, stieg auch das Finale der EM 1988 in München. Anders als 1974 fanden 1988 sogar überhaupt gar keine Partien in Berlin statt. Das hatte politische Gründe, sorgte für einen riesigen Skandal und letztlich indirekt für die feste Vergabe des DFB-Pokal-Finals nach Berlin.

Deutschland wollte sich ursprünglich mit Berlin bewerben. Doch schnell wurde klar, dass die osteuropäischen Mitglieder im UEFA-Exekutivkomitee Spielen im Westen der geteilten Stadt nicht zustimmen würden. Letztlich beugte sich DFB-Präsident Hermann Neuberger ihrer Forderung nach einem Berlin-Verzicht, was wiederum die deutsche Öffentlichkeit und Bundeskanzler Helmut Kohl empörte.

Kohl nannte die Entscheidung einen "sportpolitischen Fehler" und appellierte in einem Brief an die westeuropäischen Mitglieder, Deutschlands Bewerbung abzuschmettern. Sie folgten jedoch nicht, also ging die EM im März 1985 ohne Berliner Beteiligung an Deutschland. Für Berlin gab es kurz darauf immerhin einen Trostpreis: Das bis dahin mal hier und mal dort ausgetragene Finale des DFB-Pokals wurde fest in die baldige Hauptstadt vergeben, seit 1985 steigt es alljährlich im Olympiastadion.

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DFB-Team: Souveräne Gruppenphase nach Magenbitter von Bremen

Fragen warf vor dem Turnier aber nicht nur die Entscheidung gegen den Spielort Berlin auf, sondern auch die durchwachsene Form der Nationalmannschaft von Teamchef Franz Beckenbauer. Ähnlich wie übrigens auch vor der Heim-WM 2006 (Stichwort: 1:4 gegen Italien) herrschte auch 1988 vorab kaum Euphorie im Land. Zum letzten Testspiel wenige Tage vor dem Turnierstart kamen nur 13.000 Fans ins Bremer Weserstadion. Sie sollten ihren Besuch bereuen, es setzte ein müdes 1:1 gegen Jugoslawien.

"Anstatt sich und die ganze Nation mit einem flotten Cocktail, einem Spiel, so rauschend wie Champagner, auf das große Fußballfest im eigenen Land einzustimmen, verabreichte die deutsche Nationalelf beim letzten EM-Test eher Magenbitter", schrieb der kicker. Nach einem Remis zum Auftakt gegen Italien qualifizierte sich Deutschland dank Siegen gegen Dänemark und Spanien dennoch souverän fürs Halbfinale.

Tatsächlich nahmen an dieser achten Ausgabe der EM lediglich acht Nationen teil, aufgeteilt in zwei Gruppen. Das Turnier dauerte zwei Wochen und umfasste nur 15 Spiele. Kein Vergleich zum mittlerweile aufgeblasenen Format mit dreimal so vielen Teilnehmern und unübersichtlichen Gruppenkonstellationen.

Für die größte Sensation der EM 1988 sorgte der größte Außenseiter, gleich zum Auftakt der Gruppe B gewann Irland das prestigeträchtige Duell mit England - und zwar vor einer äußerst stimmungsvollen Kulisse. 60.000 Fans waren von den britischen Inseln nach Stuttgart gereist. Genau wie England scheiterte Irland aber letztlich dennoch in der Gruppenphase. Ins Halbfinale schafften es stattdessen die Niederlande um die beiden Stars der AC Milan Marco van Basten und Ruud Gullit. Sowie die Sowjetunion bei ihrer letzten Turnier-Teilnahme vor dem Zerfall.

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Auswärtsspiel in Hamburg: Wie Deutschland bei der Heim-EM scheiterte

Obwohl beide in ihren Halbfinals als Außenseiter galten, sollte es zum Wiedersehen im Finale kommen. Die Sowjetunion hatte keine Probleme mit Italien, die Niederlande setzten sich in einem hitzigen Spiel in Hamburg gegen das DFB-Team durch und beendeten somit die deutschen Träume vom Titelgewinn im eigenen Land. Den Niederländern diente der Sieg unterdessen als große Revanche für das verlorene WM-Finale von 1974, begleitet wurde es von gehässiger Weltkriegs-Rhetorik.

Deutschland ging zwar durch Lothar Matthäus in Führung, dank zweier später Tore drehten die Niederländer aber das Spiel, angepeitscht von 15.000 mitgereisten Oranje-Fans. "Schön wäre es gewesen, wenn wir heute in Deutschland gespielt hätten", sagte Frank Mill anschließend sarkastisch. Ronald Koeman ertauschte sich nach Abpfiff das Trikot von Olaf Thon und wischte sich damit symbolisch den Hintern ab. "Ob ich es bereue? Nein, wirklich nicht."

Neun von 15 Millionen Einwohnern der Niederlande feierten anschließend auf den Straßen und sangen: "1940 kamen sie, 1988 kamen wir, holadihi, holadiho!" Trainer Rinus Michels, der schon bei der Finalpleite 1974 an der Seitenlinie gestanden hatte, sagte: "Vor allem ältere Menschen waren zum Weinen gerührt, das hatte noch etwas mit dem Krieg zu tun."

EM 1988 sorgte für einen bis heute gültigen Zuschauerrekord

Nach dem Prestige-Erfolg gegen Deutschland gelang den Niederlanden im Finale gegen die Sowjetunion der erste und bis heute einzige Titelgewinn, für immer verbunden mit van Bastens sensationellem Treffer zum 2:0. "Das schwierigste Tor, das ich je gesehen habe", schwärmte DFB-Teamchef Beckenbauer. Van Basten beendete das Turnier als Torschützenkönig, später gewann er auch den Ballon d'Or.

Beckenbauer und das DFB-Team sollten auf dem Weg zum WM-Titel zwei Jahre später immerhin Revanche an den Niederlanden nehmen. Die Heim-EM 1988 war für Deutschland zwar kein sportlicher Erfolg, dafür aber ein organisatorischer: Der Zuschauerschnitt von 62.379 ist bis heute mit riesigem Abstand EM-Rekord. Für die Ewigkeit? Gebrochen werden kann er aus Kapazitätsgründen jedenfalls auch in diesem Jahr nicht, obwohl anders als damals auch im Berliner Olympiastadion mit seinen 71.000 Plätzen gespielt wird.

Heim-EM 1988 und 2024: Die Austragungsorte im Vergleich

19882024
MünchenMünchen
StuttgartStuttgart
FrankfurtFrankfurt
KölnKöln
DüsseldorfDüsseldorf
GelsenkirchenGelsenkirchen
HamburgHamburg
HannoverDortmund
Berlin
Leipzig