Als die ersten Gerüchte aufkamen, dass der FC Arsenal an einer Verpflichtung von Kai Havertz interessiert sei, waren die meisten Beobachter versucht, die Meldung als Fake News abzutun. Was zum Teufel wollten die Gunners mit einem Spieler, der in 91 Spielen für Chelsea nur 19 Tore erzielt hatte? Das war die Stimmungslage in England.
Kai Havertz' tatsächlicher Transfer hat also überrascht. Doch dar war nichts im Vergleich zu den Schockwellen, die Arsenal vor einem Jahrzehnt mit der Verpflichtung eines anderen jungen deutschen Nationalspielers ausgelöst hatte.
Im Sommer 2013 brach Real Madrid mit der Verpflichtung von Gareth Bale von Tottenham den weltweiten Transferrekord - doch der erste 100-Millionen-Euro-Transfer stellte die Buchhaltung von Florentino Perez vor ein Problem (Stichwort Financial Fair Play). Ein wertvoller Spieler musste verkauft werden, um die Bücher auszugleichen - und Arsenal wusste das.
Der ehemalige Transferverantwortliche des Londoner Klubs, Dick Law, flog nach Spanien, um sich mit dem Generaldirektor von Madrid, José Angel Sanchez, zu treffen. Dieser verriet, dass Real Madrid sogar einen Verkauf von Karim Benzema oder Ángel Di María in Betracht ziehen würde. Allerdings legte Carlo Ancelotti, damals wie heute Trainer Reals, sein Veto ein. Allerdings war der Italiener offen dafür, Mesut Özil gehen zu lassen.
Mesut Özil wäre "umsonst" zu Arsenal gewechselt
Bei Arsenal konnten sie ihr Glück kaum fassen. In einem Interview mit GOAL verriet Law 2019: "Arsène (Wenger) war sehr interessiert, da wir diesen Spielertyp im Mittelfeld brauchten. Aber wir wussten nicht, wie Özil einem Wechsel gegenüber stehen würde. Wir wollten mit ihm sprechen, aber Madrid sagte, dass sie erst mit ihm reden würden. Ich glaube nicht, dass das ein glückliches Telefonat für Özil war. Wir haben dann mit ihm gesprochen, und sein Vater und sein Berater sind nach London geflogen, wo wir uns mit ihnen getroffen haben."
Zu diesem Zeitpunkt war Özil in der Tat wütend darüber, dass Madrid ihn zum Verkauf angeboten hatte, und gab später zu, dass er "umsonst" zu Arsenal gewechselt wäre und dass der "Respekt", den Wenger ihm entgegenbrachte, der Schlüssel zu seinem Wechsel war.
Fast wäre jedoch noch Tottenham dazwischengegrätscht. Die Verantwortlichen dort hatten versucht, im Zuge des Bale-Transfers noch Real das Versprechen abzuringen, keine Stars an Rivalen der Spurs zu verkaufen, um den Transfer Bales zu finanzieren. Arsenals Geschäftsführer Ivan Gazidis war jedoch überzeugt, dass Tottenhams mit allen Wassern gewaschener Klubchef Daniel Levy "blufft, weil er das Geld für Bale bereits ausgegeben hat". Aber er wollte kein Risiko eingehen.
Am 1. September, dem Tag vor Schließung des Sommertransferfensters, empfing Arsenal Tottenham in der Premier League. Am Morgen des Spiels war Law in München, wo sich Özil dem Medizincheck unterziehen sollte, aber Gazidis bat den Transferchef, zurück nach London zu fliegen, "um in der Direktorenloge im Emirates zu sein, weil Tottenham anfing zu glauben, dass etwas im Gange sei".
"Ich nahm also um elf Uhr einen Flug, zog mich unterwegs um und als ich in die Direktorenloge kam, sah ich Franco Baldini und Levy, die mich fragten, was ich da mache. Ich sagte, es sei das Derby, das wolle ich nicht verpassen", erinnerte sich Law.
Nach dem 1:0-Sieg von Arsenal wurde Wenger auf den Deadline Day angesprochen. Der Coach konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er zu Sky Sports sagte: "Vielleicht haben wir ja eine gute Überraschung für Sie".
Es war jedoch mehr als das. Als Arsenal den Deal mit Özil schließlich unter Dach und Fach hatte - trotz eines späten Angebots von Manchester United, das den Deal verhindern wollte - erlebten die Arsenal-Fans eine herrliche Mischung aus Freude und Unglauben. Özil war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 24 Jahre alt und galt als der beste offensive Mittelfeldspieler der Welt.
Cristiano Ronaldo war sauer wegen Mesut Özils Abgang von Real Madrid
In seinen drei Spielzeiten in Spanien war er stets unter den besten Vorlagengebern von LaLiga gewesen und wurde sowohl von den Medien als auch von den Fans in Madrid verehrt. Bei der offiziellen Vorstellung Bales als Real-Spieler riefen einige Fans Perez zu: "Verkauft Özil nicht!" Die Spieler von Real Madrid waren sogar entsetzt über den Abgang des Deutschen entsetzt.
Sergio Ramos wetterte: "Er ist ein großartiger Fußballer, einzigartig, der allerletzte Spieler, den ich von Real Madrid verkaufen würde, wenn es nach mir ginge. Ich verstehe diese [Entscheidung, die Red.] nicht." Cristiano Ronaldo war sogar noch wütender. Özil war sein wichtigster Assistgeber, sein Hauptlieferant von Pässen, und Berichten zufolge sagte er zu seinen Teamkollegen: "Dieser Verkauf ist eine sehr schlechte Nachricht für mich. Er war der Spieler, der meine Bewegungen vor dem Tor am besten kannte".
In London war die Stimmung eine andere. Als die Rekordsumme von 42,4 Millionen Pfund (54 Millionen Euro) Ablöse öffentlich bestätigt wurde, gerieten die Fans, die sich vor dem Emirates-Stadion versammelt hatten, in Ekstase und feierten ausgelassen vor den Kameras von Sky Sports. "Dies ist ein aufregender Tag für uns alle", schwärmte Gazidis. "Wir haben einen Weltklassespieler verpflichtet, der eines der größten Talente Europas ist."
Per Mertesacker wusste das, seit er bei Werder Bremen zum ersten Mal mit dem jugendlichen Özil trainiert hatte. Sein Talent war verblüffend, aber manchmal auch seine Einstellung. Mertesacker ärgerte sich vor allem darüber, dass Özil nach der peinlichen 3:6-Niederlage bei Manchester City im Dezember 2013 den Arsenal-Fans nicht die nötige Anerkennung zollte und mahnte seinen Landsmann, weil der die Fans im Auswärtsblock mit Nichtbeachtung brüskiert hatte.
Es gab immer wieder Vorwürfe, dass Özil dazu neige, auf dem Platz zu verschwinden, wenn es hart auf hart kommt. Wenger tat sein Bestes, um ihn in seiner Debütsaison zu verteidigen, und wies darauf hin, dass er nicht der erste Spieler sei, der sich in England nicht auf Anhieb zurechtfinde. Der Manager betonte auch: "Mesut arbeitet sehr hart, um sich an das physische Niveau der Premier League anzupassen."
Mesut Özil, der Passmeister
Özil konnte einen Pass spielen wie kaum ein anderer. Er fand nicht nur seine Mitspieler auf engstem Raum, er tat dies auch mit einer Nonchalance, die kaum zu glauben ist. Der ehemalige Madrider Trainer José Mourinho sagte einmal über seinen bevorzugten Spielmacher: "Es ist eine Kunst, Fußball leicht aussehen zu lassen, und Mesut hat diese Fähigkeit."
Zwischen seinem ersten und seinem letzten Einsatz für Madrid kreierte Özil mehr Chancen als jeder andere Spieler in LaLiga (323) und stellte mit 47 Assists die Marke von Lionel Messi ein. In der Saison 2015/16 kreierte er mehr Chancen (146) als jeder andere Spieler in einer einzigen Saison in der Geschichte der Premier League.
Dennoch war Özil nicht unumstritten. Ihm wurde vorgeworfen, faul zu sein - oder schlimmer noch, so auszusehen, als ob es ihm egal wäre. Sein ehemaliger Teamkollege Emmanuel Frimpong war da anderer Meinung: "Özils Spielstil war entspannt und nicht überhastet, und ich glaube, die Leute hielten ihn für faul. Ja, Özil ist nicht besonders viel gelaufen, weil er sich darauf verlassen hat, dass andere das für ihn tun. Aber er hat Chancen kreiert, wann immer er den Ball bekam. Und das ist unbestritten."
Bezeichnend ist auch, dass er immer noch den siebten Platz in der ewigen Bestenliste des FC Arsenal einnimmt, obwohl er weniger Spiele (184) absolviert hat als jeder andere Spieler in den Top 30. Aber er hätte noch mehr Chancen kreieren und noch mehr Vorlagen geben können. Özil verbrachte fast acht volle Spielzeiten in England, kam aber in den letzten 18 Monaten seines Aufenthalts kaum noch zum Einsatz. Sein letztes Spiel bestritt er am 7. März 2020 - obwohl er erst im darauffolgenden Januar zu Fenerbahce wechselte.
Passenderweise führte in seinem letzten Spiel im im Arsenal-Trikot ein Assist zum Sieg. Was lief also schief? Warum verließ ein so großes Talent den Verein im Streit?
"Ein Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ein Migrant, wenn wir verlieren"
Obwohl er Arsenal in seinen ersten vier Spielzeiten zum Gewinn von drei FA-Cups verhalf, brachte Özil seine Kritiker nie ganz zum Schweigen. Selbst der ehemalige Arsenal-Mittelfeldspieler Cesc Fabregas stellte seinen Charakter in Frage. "Ich will Mesut Özil nichts wegnehmen, er hat [bei Real Madrid] Spitzenfußball gespielt, aber wenn man einen kleinen Schritt zurückmacht muss man sich ein bisschen mehr zeigen, weil man nicht mehr die gleiche Qualität um sich herum hat", sagte der Spanier zu BT Sport. "Der Verein kauft dich, um der eigentliche Anführer zu sein - aber ich glaube nicht, dass er das in sich hat."
Aber vielleicht haben Fabregas und andere Kritiker auch etwas von Özil erwartet, was er nicht ist. Man könnte sicherlich argumentieren, dass er ein Opfer eines Spiels war, das sich verändert hat. Von offensiven Mittelfeldspielern wird heute erwartet, dass sie weitaus mehr Einsatz zeigen.
Özil wäre in den 1990er-Jahren ein Superstar gewesen. Damals florierten die Trequartistas, die klassischen Zehner. Aber nun wurde seine manchmal etwas lasche Herangehensweise mit Misstrauen - und in einigen Fällen sogar mit Verachtung - betrachtet. Immer wieder war Özil derjenige, der zum Sündenbock für schlechte Mannschaftsleistungen gemacht wurde, und das nicht nur bei Arsenal. Özil mag Deutschland zum Gewinn der Weltmeisterschaft 2014 verholfen haben, aber sein Wert für die Mannschaft war spätestens beim darauffolgenden Turnier in Russland Gegenstand einer öffentlichen Debatte.
Die Kritik aus einigen Kreisen im Zuge der Erdogan-Foto-Affäre hatte - bei aller berechtigten Kritik an Özils Sturheit - auch einen beunruhigenden rassistischen Unterton, und das zu einer Zeit, in der die diplomatischen Beziehungen Deutschlands zur Türkei - dem Land, aus dem Özils Eltern stammen - kurz vor dem völligen Zusammenbruch standen.
Als Özil nach dem schockierenden Ausscheiden der Nationalmannschaft in der Vorrunde der WM in Russland aus der Nationalmannschaft zurücktrat, schimpfte er über den DFB und die Art und Weise, wie er dort gesehen wurde: "Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ich bin ein Migrant, wenn wir verlieren."
Ein Großteil der Kontroverse drehte sich um Özils Beziehungen zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, mit dem er zusammen mit Ilkay Gündogan für ein Foto posiert hatte. Letzterer entschied sich, sein Verhalten zu erklären, aber Özil schwieg bis zur Ankündigung seines Rücktritts aus der Nationalelf.
Özil warf dem damaligen DFB-Präsidenten Reinhard Grindel indirekt sogar Rassismus vor, der damalige DFB-Direktor Oliver Bierhoff, der Özil während der WM noch verteidigt hatte, sah in ihm - oder der Debatte um das Foto - einen Grund für das Scheitern der DFB-Elf in Russland.
Rekordnationalspieler Lothar Matthäus betonte jedoch, dass die Kritik an Özil nichts mit Politik zu tun habe. Er und viele andere seien der Meinung, dass es dem Spieler keinen Spaß mehr mache, Deutschland zu vertreten. "Ich denke, seine Zeit in der Nationalmannschaft ist vorbei", sagte er ESPN. "Und das nicht wegen irgendeines Bildes oder einer politischen Entscheidung - das spielt keine Rolle, es ist mir egal. Ich sehe den Fußballer Mesut Özil und [bei der WM] hat er nicht so gespielt wie vorher."
Eine Meinung, die von vielen bei Arsenal geteilt wurde.
Mesut Özil nach seinem DFB-Rücktritt: "Ich werde es nicht so enden lassen"
Bei Arsenal hofften sie damals, dass ein Rücktritt vom internationalen Fußball die physische und emotionale Belastung für Özil, der sichtlich verärgert über die Art und Weise war, wie er in seinem Geburtsland verunglimpft worden war, lindern könnte. Aber Wengers Abgang beendete effektiv jede Hoffnung darauf, dass Özils wieder zu dem Spieler werden könnte, der in der Saison 2015/16 so geglänzt hatte.
Darüber hinaus bedeutete der kolossale Vertrag, der ihm im Januar 2018 gegeben worden war, dass sein Spiel, seine Leistungen und seine Einstellung noch stärker unter die Lupe genommen wurden. In dem verzweifelten Bemühen, einen Spieler zu halten, der sich in den letzten sechs Monaten seines Vertrags befand, sprengte Arsenal sein Gehaltsgefüge, um Özil im Emirates zu halten, und stimmte zu, ihm unglaubliche 350.000 Pfund pro Woche zu zahlen.
Leider konnte er diese enorme Gehaltserhöhung nicht annähernd rechtfertigen. Trainer Unai Emery tat sein Bestes, um Özil nach der schmerzhaften Trennung von der DFB-Elf zu trösten. Er gab ihm das Trikot mit der Nummer 10, zudem wurde Özil Co-Kapitän, doch schon bald begann der Coach, Özils Engagement für den Verein in Frage zu stellen. Özil wurde zu einem Rotationsspieler, der in einigen Partien nicht in der Startformation stand, und Emery bestätigte damit den Gedanken, dass man dem offensiven Mittelfeldspieler in schwierigen Auswärtsspielen einfach nicht vertrauen konnte.
Auch der Rücktritt Emerys trug nicht dazu bei, Özils Situation zu verbessern, denn Nachfolger Mikel Arteta strich ihn aus seinem 25-köpfigen Premier-League-Kader für die Saison 2020-21.
"Bei der Unterschrift meines neuen Vertrags im Jahr 2018 habe ich dem Verein, den ich liebe, Arsenal, meine Loyalität und Treue geschworen, und es macht mich traurig, dass dies nicht erwidert wurde", schrieb Özil auf Twitter später. "Ich habe immer versucht, von Woche zu Woche positiv zu bleiben, dass es vielleicht eine Chance gibt, bald wieder in den Kader zu kommen. Deshalb habe ich bisher geschwiegen."
Er ergänzte: "Vor der Coronavirus-Pause war ich mit meiner Entwicklung unter unserem neuen Trainer Mikel Arteta sehr zufrieden - wir waren auf einem positiven Weg und ich würde sagen, meine Leistungen waren auf einem wirklich guten Niveau. Aber dann haben sich die Dinge wieder einmal geändert, und ich durfte nicht mehr für Arsenal Fußball spielen. Egal was passiert, ich werde weiter um meine Chance kämpfen und meine achte Saison bei Arsenal nicht so enden lassen."
Mesut Özil ließ Fußball so einfach aussehen, dass er Kunst glich
Doch dann wurde Özil im Winter zu Fenerbahce transferiert, und das Traurige daran ist, dass die meisten Arsenal-Fans erleichtert waren, als er ging. Der Spieler, den sie mit so viel Enthusiasmus begrüßt hatten, war zu einer Last geworden, zu einer finanziellen Belastung für einen Verein, der versuchte, die Bilanzen auszugleichen und eine aufregende junge Mannschaft für die Zukunft aufzubauen.
In gewisser Weise hat der Abgang von Özil dem FC Arsenal unbestreitbar geholfen, genau das zu tun. Doch der Abschied war unwürdig, Özil und die Fans konnten sich nie richtig voneinander verabschieden.
Sportlich war es jedoch eindeutig die richtige Entscheidung, ihn gehen zu lassen - Özil trat Anfang dieses Jahres nach zwei enttäuschenden Spielzeiten in der Türkei zurück - aber es ist nicht so, dass seine Zeit in Nordlondon nur schlecht war. Weit gefehlt. Es gab zahllose magische Momente, von jenem freudigen Stichtag im Jahr 2013 bis hin zu seinem fulminanten Auftritt im FA-Cup-Finale vier Jahre später gegen Chelsea, den frischgebackenen englischen Meister.
Und dann war da noch dieses Tor, das Özils mühelose Genialität perfekt auf den Punkt brachte, jenes gegen Ludogorets, als er den Torhüter umkurvte und zwei Verteidiger aussteigen ließ, wodurch der Fußball so einfach aussah, dass er tatsächlich einer Kunst glich.
Dieser freudige Solotreffer zeigt alles, was man über die Art von Spieler wissen muss, die Mesut Özil war - und ist gleichzeitig eine schmerzhafte Erinnerung an den großen Spieler, der er hätte werden können.