Xabi Alonso, Thiago Motta und Co.: Setzt die neue Trainergeneration sogar Pep Guardiola unter Druck?

Von Justin Kraft
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Der europäische Spitzenfußball befindet sich in einem weiteren Zykluswechsel, was die taktische Entwicklung anbelangt. Viele Trainer orientieren sich wieder an den Ideen, die Pep Guardiola über viele Jahre hinweg geplant hat – und gehen womöglich noch einen Schritt weiter.

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Journalist Christof Kneer veröffentlichte jüngst einen lesenswerten Kommentar in der Süddeutschen Zeitung, der sich mit dem immer komplizierteren Trainermarkt im Weltfußball beschäftigt hat. Darin geht es auch um einen "Trainerkult", der "sich auf ungesunde Art verselbstständigt".

Die grundsätzliche Stoßrichtung des Kommentars soll hier keine übergreifende Rolle spielen. Am Rande hat Kneer aber eine spannende These formuliert: "Irgendwie hat immer alles mit Pep zu tun." Dabei bezieht er sich unter anderem auf die vielen Trainer aus der "Schule" des Katalanen, die derzeit den Trainermarkt in Schwung bringen.

Warum genau führt aber vieles zu Pep Guardiola? Darauf geht Kneer nicht weiter ein, weil es für seine These keine Priorität hat. Die Frage führt aber zu einem Thema, das vielleicht noch interessanter ist.

Denn schaut man sich die taktischen und strategischen Entwicklungen der letzten Jahre im Weltfußball an, dann findet eine Rückorientierung zum Fußball statt, den der Katalane - Weiterentwicklung einbegriffen - nun seit über 15 Jahren prägt wie kein anderer.

Und vielleicht deutet sich sogar an, dass schon recht bald nicht mehr alles mit Pep zu tun hat.

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Saison 2023/24 bringt viele Überraschungen hervor

Bayer Leverkusen wird Deutscher Meister mit einer Rekordsaison. Der VfB Stuttgart beendet die Bundesliga-Saison überraschend als Vizemeister. In England sprechen nicht nur alle über den FC Arsenal unter Mikel Arteta, sondern auch Brighton bekommt unter Roberto De Zerbi trotz Misserfolg in der Rückrunde viel positive Aufmerksamkeit in den internationalen Medien.

In der Serie A holt der FC Bologna unter Thiago Motta zur Verwunderung einiger italienischer Fans 68 Punkte und wird so am Ende Fünfter. Inter Mailand spielt mit 94 Punkten eine sehr starke und extrem dominante Saison, wird zum zweiten Mal in den letzten 14 Spielzeiten Meister.

Auch in Spanien gibt es eine große Überraschung: Der FC Girona begeistert alle und sorgt für Abwechslung in der zuletzt sehr monoton und fast schon langweilig gewordenen Primera Division. Mit einem dritten Platz und 81 Punkten rechnete kaum jemand auf der iberischen Halbinsel.

Auch in anderen Ligen gab es durchaus spannende Überraschungen und Teams, die sich fußballerisch klar von dem grundlegenden Tenor der Liga unterscheidet haben. Gemein haben viele dieser Mannschaften, dass sie - mal etwas mehr, mal etwas weniger - viel Wert auf Kontrolle, qualitativ hochwertige Ballbesitzphasen und Lösungen legen, die proaktiv und nicht reaktiv sind. Sie haben Trainer, die den Fußball der letzten Jahre verändern.

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Ballbesitzfußball ist tot, lang lebe der Ballbesitzfußball

Es ist eine Rückbesinnung hin zu einer Entwicklung, die Pep Guardiola Ende der 2000er und Anfang der 2010er Jahre losgetreten hatte. Damals orientierten sich viele Trainer an seiner Arbeit - vor allem im Ausland. In Deutschland setzte recht schnell eine Gegenbewegung ein, die eher Jürgen Klopp und dessen Gegenpressing-Fußball in den Mittelpunkt stellte.

Spätestens mit der Ankunft des Katalanen beim FC Bayern gab es aber auch in Deutschland zunehmend Teams, die mehr Lösungen aus dem Ballbesitz heraus gesucht haben, statt sich von (erzwungenen) Fehlern des Gegners abhängig zu machen. Das wohl erfolgreichste Team im deutschen Klubfußball war der BVB unter Thomas Tuchel, der in seinen Ansätzen sehr ähnlich agierte wie Guardiolas Mannschaften. Auch die Nationalmannschaft profitierte 2014 enorm von den Einflüssen des heutigen City-Trainers.

Entwicklungen im taktischen Bereich verlaufen im Fußball sehr dynamisch. Die Annahme, dass eine bestimmte Sorte von Fußball tot sei, wird überraschend häufig getroffen. Louis van Gaal prägte einst das Vier-Phasen-Modell im Fußball. Ein Kreislauf, den man beliebig starten kann: Ballbesitzphase, Umschaltmoment nach Ballverlust, Arbeit gegen den Ball und Umschaltmoment nach Ballgewinn. Trainer setzen in ihren Philosophien unterschiedliche Akzente, müssen aber auf alle Phasen vorbereitet sein. Plakativ erklärt: Kein Team wird 0 oder 100 Prozent Ballbesitz haben.

Schauen wir auf die Entwicklung von taktischen Trends, dann sind diese oft eine Reaktion auf das, was zuvor im Weltfußball dominant war. Was erfolgreich ist, stellt eine Problemfrage auf: Wie ist diese Spielweise zu knacken?

In Deutschland haben Bayer 04 Leverkusen und der VfB Stuttgart in dieser Saison eine Antwort auf einen Fußball gefunden, der sehr stark auf Pressing und Gegenpressing ausgelegt war. Die Problemfragen waren unter anderem: Wie bespielt man einen tiefen Abwehrblock? Oder wie befreit man sich alternativ aus hohem Druck im Mittelfeld oder im Spielaufbau?

Sehr vereinfacht dargestellt: Die Antwort auf Pressingfußball kann Ballbesitzfußball sein, die Antwort auf Ballbesitzfußball kann Pressingfußball sein. Wird der Ballbesitzfußball mal wieder für tot erklärt, lebt er bald wieder auf. Das ist so sicher wie die Tatsache, dass Arjen Robben in seiner Laufbahn immer wieder nach innen gezogen ist.

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Taktische Trends: Ein neuer Zyklus bricht an

Im Moment befinden wir uns wieder in einem Zykluswechsel, in dem viele Trainer Lösungen aus dem Ballbesitz heraus präferieren. Die erneute Orientierung an Pep Guardiola resultiert unter anderem daraus, dass einige der prägenden Figuren eng mit ihm zusammengearbeitet haben - als Spieler oder als Trainer. Neben Alonso betrifft das unter anderem auch Mikel Arteta, den frisch zum FC Bayern gewechselten Vincent Kompany oder Enzo Maresca, der Trainer des FC Chelsea wird.

Sie ist zu großen Teilen aber auch eine Reaktion darauf, dass viele auch große Mannschaften in den vergangenen Jahren viel Wert auf schnellen und umschaltbetonten Fußball gelegt haben. Der FC Bayern gewann unter Hansi Flick so die Champions League im Jahr 2020.

Natürlich verschwimmen die Grenzen häufig. Teams wie der FC Girona, Leverkusen oder Stuttgart haben einen klar zu erkennenden Fokus auf Kontrolle und strukturierten Ballbesitz mit orchestriertem Freilaufverhalten - gleichzeitig sind sie in der Lage, einen Gegner mit guten Gegenpressingmomenten einzuschnüren. Oft bedingen beide Stile einander.

Die fußballphilosophische Annäherung von Jürgen Klopp und Guardiola ist das beste Beispiel dafür. Beide haben Elemente des anderen in die eigene Ausrichtung übernommen. Beide profitieren enorm von den Herausforderungen, die sie sich gegenseitig über viele Jahre hinweg gestellt haben.

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Setzt die neue Generation sogar Pep Guardiola unter Druck?

Interessant an der jetzigen Generation an Trainern ist aber, dass sie Guardiola nicht einfach kopieren oder ihm blind nacheifern. Trainer wie Thiago Motta (Bologna), Roberto De Zerbi (ehemals Brighton) oder Michel (FC Girona) lassen sich vom Katalanen inspirieren, scheinen dessen Stil aber nochmal weiterzuentwickeln.

Guardiolas Fußball war nie statisch, allerdings war er auch nie so dynamisch wie das, was viele der Überraschungsteams in dieser Saison oder in den Vorjahren gezeigt haben. Rotationen im Spielaufbau, im Mittelfeld oder auch in der Offensive - die Trainer der genannten Klubs haben sich viel einfallen lassen, um unberechenbar zu werden.

Auch in der Arbeit gegen den Ball gibt es unterschiedliche Ansätze. Zwar eint alle, dass sie nach Ballverlusten schnell ins Gegenpressing kommen wollen, um das engmaschige Positionsspiel mit kurzen Wegen zum Gegenspieler zu nutzen. Doch gerade Alonsos Leverkusen legt Wert auf Kontrolle.

Wird der Ball nicht schnell zurückerobert, ließ man sich auch mal tief fallen und lockte den Gegner so in die eigene Hälfte. Die Variation innerhalb der auf Ballbesitz konzentrierten Systeme ist so hoch wie schon lange nicht mehr. Konkrete Formationen sind Nebensache, entscheidend ist, dass Überzahl in bestimmten Räumen hergestellt wird und man Dynamik in statische Situationen bekommt. Der Totaalvoetbal aus den 70er-Jahren erlebt ein Revival: Hohe Athletik, Positionswechsel und attraktiver Offensivfußball.

Es wird interessant zu sehen sein, wie Guardiola darauf reagiert und ob er in der Lage ist, seinen Fußball abermals zukunftsfähig zu machen. Noch bahnen sich keine ganz großen Probleme an, doch selbst die besten Trainer der Welt stehen regelmäßig vor der Herausforderung, sich zu wandeln.

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Das Comeback der Konzepttrainer – auch beim FC Bayern?

Von heute auf morgen ist diese Entwicklung aber nicht entstanden. Einige der genannten Trainer haben viel Zeit bekommen, um ihre mitunter riskante Spielweise zu etablieren. Zeit, die Trainer bei Top-Klubs schon länger nicht mehr haben.

Gerade der Blick auf Girona, Bologna oder Leverkusen zeigt aber, dass Zeit ein hohes Gut ist. Girona war zu Beginn unter Michel alles andere als erfolgreich, verlor in den ersten 20 Partien achtmal. Selbiges gilt für Motta bei Bologna. Alonso startete bei der Werkself mit sieben Niederlagen und vier Remis aus 20 Spielen.

Die Erfolge sprechen für sich. Es ist klar, dass Trainer bei Klubs wie dem FC Bayern oder Paris Saint-Germain oft den großen Ansprüchen und dem generellen Druck des Umfelds unterliegen. Dieses Problem wird sich kaum auflösen lassen.

Und doch sollten auch die Superklubs einen Blick darauf werfen, was in dieser Saison passiert ist und wie die Teams erfolgreich waren. Gerade mit dem Blick nach München wird es interessant, zu beobachten, wie lang oder kurz der Geduldsfaden mit Kompany ist.

Ein weiterer Trainer, der sehr viel mit Guardiola zu tun hat. Einer, der den aktuellen Zeitgeist treffen könnte. Auch einer, der zum von Kneer beschriebenen Wahnsinn auf dem Trainermarkt passt. Nur vielleicht wäre das alles etwas weniger wahnsinnig, würden die, die hauptsächlich dafür verantwortlich sind, mehr Wert auf konzeptionelle Planung und den Faktor Zeit legen.

Während der fußballerische Trend immer mehr zurück in Richtung proaktiven Fußball geht, haben sich die Führungsetagen der Superklubs größtenteils einem reaktiven Stil verschrieben. Einerseits, weil ausbleibende Erfolge wirtschaftlichen Schaden anrichten. Andererseits aber auch, weil ihnen klare sportliche Konzepte oftmals fehlen. Die Saison 2023/24 war deshalb eine, in der kleinere Klubs den Großen mitunter zeigen konnten, wie es geht.

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