Würde man die Verrücktheit einer Sportart an der Verrücktheit ihres Erfinders messen, Schachboxen wäre im Ranking ganz vorne dabei. Als die Polizei Iepe Rubingh vor zehn Jahren in Tokio festnahm, gab es für die Beamten kaum Gründe, diesen Mann für zurechnungsfähig zu halten. Mit einem simplen Plastik-Absperrband hatte es der Brillenträger geschafft, binnen Sekunden eine stark frequentierte Kreuzung lahmzulegen.
Während der Rushhour hatte er die rot-weißen Bänder kreuz und quer über die Fahrbahnen gespannt und so den Verkehr zum Erliegen gebracht.
Auf der Suche nach dem Verursacher des massiven Durcheinanders stieß die Polizei auf einen Mann, der nicht in das Bild einer japanischen Metropole passte: Im Epizentrum der Blechlawine stand ein hagerer Europäer in einem schwarz-gelben Harlekin-Kostüm, der in eine Trillerpfeife blies und sich an der allgemeinen Konfusion ergötzte.
Dieser Mann, der die folgenden zehn Tage im Gefängnis verbrachte, war Iepe Rubingh, genannt "The Joker", Künstler aus den Niederlanden und generell ein sehr kreativer Mensch. Drei Jahre nach der Verkehrs-Posse hatte Iepe wieder eine Idee.
Der Gegenentwurf zum Chaos
"Es klingt paradox, aber beim Schachboxen geht es um Aggressionskontrolle", sagt Rubingh über seinen Sport. Der mittlerweile 36-Jährige ist sowohl Gründer als auch Präsident der World Chess Boxing Organisation (WCBO). Schachboxen ist quasi sein Gegenentwurf zum Chaos.
Die wichtigsten Eigenschaften dafür sind: Strategie, Konzentration und Beherrschung. Ein Kampf läuft so ab: Blitzschach (je vier Minuten) und Boxen (je drei Minuten) wechseln einander über elf Runden ab, den Sieg erringt man durch Knockout, Schachmatt, Aufgabe oder Zeitüberschreitung - je nachdem, was zuerst passiert.
Die Kernfrage lautet: Schaffst du es, am Schachbrett souverän zu bleiben, wenn dir dein Gegner zuvor eine rechte Gerade verpasst hat? "Schachboxen heißt, in Stresssituationen einen klaren Kopf zu behalten", sagt Rubingh. Wer sich die außergewöhnliche Kombination wettkampfmäßig antun will, muss zwei Vorgaben erfüllen: nachgewiesene Box-Erfahrung (auf Amateur-Ebene) und eine Elo-Zahl von mindestens 1600 (die Elo-Zahl bestimmt die Stärke eines Schachspielers). Zum Vergleich: Garri Kasparows Elo-Zahl betrug 2851.
Schachboxen wird mittlerweile von Los Angeles über London bis nach Sibirien betrieben. Anfang November stieg Iepe selbst wieder in den Ring - nach sechs Jahren Pause, gegen einen fünf Jahre jüngeren Gegner. Sein Antreten demonstrierte, was ein falscher Zug anrichten kann.
Die Luft dick, Bier gibt's nur in Flaschen
Festsaal Kreuzberg, Berlin: Bierbäuchige Kiez-Bewohner drängen ebenso Richtung Boxring wie junge Damen mit schwarzen Hornbrillen.
Der kleine Saal ist zum Brechen voll, die Luft dick, Bier gibt's nur in Flaschen. Soeben hat ein 26-jähriger Firmengründer den Vorkampf verloren, obwohl der bewegliche Kerl eine ansprechende Box-Leistung gezeigt hat.
Sein Pech: Der Gegner war vierfacher deutscher Jugendmeister im Schach. Elo-Zahl 2120. Am Brett war das dann doch eine deutliche Angelegenheit.
"Pfuh!", "Pfuh!", "Pfuh!"
Dann wird es plötzlich still im Saal. Der Altmeister kämpft. Iepe Rubingh steht jetzt im Ring. Der Wettbewerb startet mit Schach. Es ist ein seltsamer Anblick: Zwei Männer in Shorts sitzen im Boxring vor einem Spielbrett. Im Publikum kein Mucks.
Die Partie wird an die Wand projiziert, ein Kommentator erklärt die Züge mit sonorer Stimme. Resümee der ersten vier Minuten: ausgeglichen.
In der ersten Boxrunde wird's für Iepe heiß. Gegner Tim Yilmaz beginnt furios und treibt seinen Gegner in den ersten 30 Sekunden quer durch den Ring. Jeder seiner Schläge wird von einem kurzen Fauchen begleitet: "Pfuh!", "Pfuh!", "Pfuh!" - schon hängt Iepe in den Seilen. Spätestens jetzt ist klar: Der Joker muss sich wohl auf sein Schachspiel konzentrieren, will er eine Chance auf den Sieg haben.
Ein unüberlegter Zug - Dame weg!
Gong! Zweite Schachrunde. Der Tisch wird wieder in den Ring getragen, die Kämpfer streifen die Boxhandschuhe ab und stülpen sich dicke Kopfhörer über die Ohren.
Konzentration, viel Schweiß, angespannte Blicke. Iepe, bereits gezeichnet von den Treffern, schafft das Umschalten von Defensive auf Angriff: Er schnappt sich Yilmaz' Springer und startet einen Angriff auf den König. Gong! Tisch raus - Boxhandschuhe an.
Yilmaz legt wieder los, teilt einen bösen Uppercut aus, gefolgt von einem rechten Haken. Iepe taumelt. Diesmal zeigen die Treffer Wirkung, denn in der folgenden Schachrunde macht der Joker einen unüberlegten Zug und verliert seine Dame. Riesenvorteil Yilmaz.
Gong! Wieder heißt es Tisch raus und in die Boxhandschuhe. Jetzt passiert das Bemerkenswerte: Iepe hält beim Boxen dagegen und landet einen sauberen Kinnhaken. Yilmaz wirkt angeschlagen. In der folgenden Schachrunde verliert auch er seine Dame. Der Kampfverlauf hat sich wieder um 180 Grad gedreht.
Aufgabe, der Kampf ist vorbei
Nun kommt ein entscheidender Vorteil guter Schachspieler zum Tragen: Auf der Uhr hat Iepe deutlich mehr Restzeit als sein Gegner (Merke: Wer schneller zieht, verschafft sich ein Zeitpolster). Yilmaz laufen die Sekunden davon, die Uhr tickt gnadenlos gegen ihn.
Er beginnt die Nerven wegzuschmeißen und verliert Figur um Figur. Iepe hingegen zieht souverän und setzt seinen Springer geschickt ein. Seinem Gegner bleiben nur noch 20 Sekunden. Yilmaz' einzige Chance wäre, Iepe schachmatt zu setzen - was ohne Dame schwierig ist. Ein Blick auf die digitale Anzeige der Schachuhr, dann wischt er seine restlichen Figuren vom Brett - Aufgabe, der Kampf ist vorbei.
Sieger Iepe schmettert seinen Kopfhörer auf den Ringbogen, springt vom Sessel, reißt die Arme hoch: Sieg! Tosender Applaus, Sprechchöre. "Beim Boxen hat das nicht gut ausgesehen", wird er später sagen. "Es war ein Sieg des Charakters."
Kampfname: Anti-Terror
Will man mit einem Schachboxer über Charakter sprechen, ist auch Frank Stoldt eine gute Wahl. Iepe Rubingh nennt ihn "den ersten Menschen, der Schachboxen hundertprozentig verinnerlicht hat". Stoldt, im Hauptberuf Polizist, wird im Januar nach Afghanistan fliegen - um dort einheimische Einsatzkräfte auszubilden.
Bis dahin gibt der 41-jährige ehemalige Kickboxer (Elo-Zahl 1900) im Berliner Chess Boxing Club Unterricht. Dort schwitzen Werber, Anwälte und Studenten zwischen verbeulten Sandsäcken und abgegriffenen Schachbrettern.
"Wir sind natürlich für den Breitensport offen", sagt Stoldt, "denn Boxen fördert das Selbstvertrauen und Schach die Fähigkeit, strategisch zu denken." 2007 war der großgewachsene Stoldt aus Berlin erster Schachbox-Weltmeister im Halbschwergewicht. Sein Kampfname: Anti-Terror.
Sein Trainingsprogramm für die Schachbox-Amateure sieht so aus: Liegestütze, Seilspringen, Liegestütze, Sparring, Sprint zum Schachbrett. Dort ist eine knifflige Stellung aufgebaut. Lautstarke Ansage: "Ihr habt zwei Züge, um den Gegner matt zu setzen, die Zeit läuft! Pro Fehler zehn Liegestütze extra!"
"Schachboxen ist Philosophie"
Frank Stoldt kann man sich schwer im Harlekin-Kostüm vorstellen. Wenn Iepe Rubingh die kreative Kraft des Schachboxens ist, ist Stoldt dessen athletischer Ausdruck.
Sein Tipp: "Du musst Aggression aufbauen können - auch beim Schachspiel - und danach trotzdem einen kühlen Kopf bewahren."
Dann öffnet Stoldt einen Spind. "Schachboxen ist auch Philosophie", sagt er und kramt einen Aufkleber mit dem Logo der World Chess Boxing Organisation hervor. Auf dem Sticker steht: "Chess Boxing. Beherrsche Dich, bevor es Dein Gegner tut."