Das DBB-Team eröffnet die Heim-EM nicht mit seiner möglichen Bestbesetzung. Dennoch steckt jede Menge Potenzial im Kader - und dieses könnte womöglich auch vom Coach noch mehr gefördert werden. Der Kader in der Analyse.
Zur Info: Da die alten Positionsbeschreibungen im modernen Basketball nicht mehr wirklich zeitgemäß sind, haben wir uns hier für die Unterteilung Playmaker, Wings und Bigs entschieden. Natürlich gibt es auch hier Grenzgänger, speziell Nick Weiler-Babb und Chris Sengfelder, wir haben uns bei der Aufteilung nach ihrer projizierten Rolle im Team gerichtet.
Das DBB-Team startet am Donnerstagabend um 20.30 Uhr gegen Topfavorit Frankreich ins Turnier. Alle Spiele der deutschen Mannschaft bei der EuroBasket gibt es live und kostenlos bei MagentaSport zu sehen!
Das DBB-Team in der Analyse: Die Playmaker
Es ist mittlerweile schon lange keine Neuigkeit mehr, dass Dennis Schröder liebend gerne für die Nationalmannschaft aufläuft und dort auch Verantwortung übernimmt. Gordon Herbert hat ihm nun passend dazu offiziell den Status des Kapitäns verliehen, nachdem Vorgänger Robin Benzing für die EuroBasket nicht berücksichtigt wurde.
Schröder war dafür die logische Wahl. Seit Jahren schon steht der Braunschweiger bei nahezu jeder Gelegenheit zur Verfügung, auch in einer für ihn komplizierten Situation wie der aktuellen: Schröders Vertrag bei den Houston Rockets ist ausgelaufen, er ist noch immer Free Agent. Eine Verletzung könnte es noch schwieriger machen, ein neues NBA-Team zu finden, entsprechend laut schrillten die Alarmglocken, als er beim Supercup umknickte.
Schröder pausierte jedoch nicht lange, schon gegen Schweden und Slowenien war er wieder dabei, selbst wenn er zunächst etwas eingeschränkt wirkte. In der zweiten Halbzeit übernahm er jedoch gegen den künftigen Gruppengegner und zeigte, wie gefährlich er als Scorer sein kann.
Das war für ihn im DBB-Dress ohnehin noch nie das Problem. Bei der EM 2017 kam Schröder auf 23,7 Punkte im Schnitt, bei der WM 2019 waren es 19,6 Zähler und 9,4 Assists. Gab es in der Vergangenheit einen gültigen Vorwurf, dann den, dass er manchmal zu oft den eigenen Abschluss suchte - das sah in der Vorbereitung jedoch anders aus.
Das ist auch wichtig: Schröder muss seine Teamkollegen füttern, seinen Speed, der europaweit seinesgleichen sucht, dafür einsetzen, dass die Defense beschäftigt wird. Idealerweise nicht nur durch eine Isolation oder ein simples Pick'n'Roll, sondern durch komplexere Attacken. Schröder ist derjenige, der fast jeden Angriff initiieren, wenn auch nicht abschließen muss.
imago imagesDeutschland auf der Eins: Nicht nur Schröder ist Top
Auch sein Stellvertreter ist mittlerweile ein veritabler Topspieler, selbst wenn er in der Vorbereitung noch nach der Effizienz suchte. Maódo Lô hat sich in der EuroLeague etabliert und in Berlin vor allem offensiv noch einmal riesige Schritte gemacht. Auch er ist sehr schnell, aus der Distanz sogar etwas verlässlicher als Schröder (dafür am Korb nicht ganz so gefährlich). Sein Crossover verschafft ihm viel Platz, er kann zwischen Scoring und Playmaking hin- und herwechseln und funktioniert auch abseits des Balles.
Schröder und Lô gehören zu den vier oder fünf besten Einzelspielern des Teams. Folglich dürfte Herbert auch von Zeit zu Zeit auf beide gleichzeitig setzen, das Zwei-Guard-Lineup hat in der Vergangenheit schon öfter gut funktioniert. Und es sollte auch in dieser Gruppe zu den besten und am schwersten zu verteidigenden Guard-Kombinationen gehören, gerade angesichts der Schnelligkeit.
Hinter Schröder und Lô wird vermutlich nicht allzu viel Spielzeit übrig bleiben. Als zusätzliche Option steht jedoch noch Justus Hollatz bereit. Der 21-Jährige ist deutlich unerfahrener als seine Kollegen, bringt dafür aber auch eigene Qualitäten ein. Er ist etwas größer (1,94 m) und recht defensivstark, auch sein Wurf ist verbessert.
Bei den Hamburg Towers bekam er in der vergangenen Saison auch offensiv viel Verantwortung, gut möglich, dass im Lauf des sehr eng getakteten Turniers auch mal den primären Ballhandler geben und sein Drive-and-Kick-Spiel zeigen kann. Sein Körper erlaubt es dem Youngster, der für die kommende Saison zu CB Breogan in die spanische ACB wechselt, auch neben Schröder oder Lô auf dem Court zu stehen.
Das DBB-Team in der Analyse: Die Wings
Es gibt nur einen Spieler im DBB-Team, der sich in der gleichen Altersgruppe befindet, sogar noch ein paar Tage jünger ist als Hollatz. Dieser Spieler ist indes schon da, wo Hollatz gerne hinmöchte: In der NBA. Franz Wagner hat eine bärenstarke Rookie-Saison bei den Orlando Magic hinter sich, die fast ein bisschen unterging, da Orlando in den US-Medien als NBA-Standort kaum eine Rolle spielt.
Man stelle sich vor, Wagner hätte diese Leistungen in Los Angeles oder New York gezeigt ... nun, stattdessen geht sein Stern vielleicht bei der Heim-EM noch mehr auf. Wagner ist im Prinzip ein prototypischer NBA-Forward, sehr lang und dabei sehr beweglich. Der 21-Jährige konnte sich bei den Magic in unterschiedlichen Rollen ausprobieren, teilweise den Ballhandler geben, oft aber auch abseits des Balles durch seine exzellenten Cuts und seinen soliden Distanzwurf für Gefahr sorgen.
All dies soll er auch in der Nationalmannschaft zeigen. In der Vorbereitung sah das Team in einigen Phasen dann am besten aus, wenn Schröder mehr den Playmaker gab und Wagner der primäre Scorer war. Das kann aber auch switchen. Wagners vielleicht größte Stärke ist seine Vielseitigkeit, die Fähigkeit, seinem Team immer genau das zu geben, was es gerade braucht.
Es wird dabei spannend zu sehen, wie sich der Berliner gegen die physischere Defense zurechtfindet, wie sie ihm beispielsweise die Serben beim Supercup entgegenstellten. Allerdings sollte es ihm helfen, dass in der Regel jemand wie Schröder mit auf dem Court steht und viel gegnerische Aufmerksamkeit auf sich zieht.
DBB-Team auf dem Flügel: Eine Reihe von Spezialisten
Wagner ist unter den Flügelspielern schon in seinem Alter ganz klar die erste Wahl unter Herbert, der ihm kürzlich bescheinigte, "einer der besten der Welt in seinem Alter" zu sein. Er kann durchaus auch der beste Spieler der deutschen Mannschaft sein. Die restlichen Optionen haben nicht unbedingt dieses Format, bringen aber unterschiedliche, sehr wichtige Fähigkeiten mit, die je nach Matchup ebenfalls sehr gefragt sein dürften.
Andreas Obst ist der beste Distanzschütze der Mannschaft. Der Swingman des FC Bayern Basketball bringt einen exzellenten Wurf off-the-catch mit und ist ständig in Bewegung, wodurch er die Defense permanent beschäftigt und auseinanderzieht. Obst ist für die Shooting Gravity zuständig - er muss den Ball oft nicht berühren, um seinen Beitrag zu einem Bucket zu leisten. Und wenn er den Ball berührt, dann vornehmlich, um draufzuhalten - in seiner Nationalmannschaftskarriere trifft Obst bis dato 41,8 Prozent seiner Dreier bei Pflichtspielen.
Nick Weiler-Babb ist im echten Leben Obsts Teamkollege bei Bayern, beim DBB ist er es erst seit wenigen Wochen. Das zeigte sich auch in den bisherigen Länderspielen - komplett angekommen wirkte der gebürtige Amerikaner noch nicht. In der Theorie kann er als Combo-Guard sowohl etwas Playmaking übernehmen als auch werfen, in der Praxis nahm er bisher eher defensiv Einfluss. Wie hilfreich er hier sein kann, zeigte Weiler-Babb vor allem in Test gegen Slowenien, als er den primären Doncic-Verteidiger gab.
Niels Giffey hat eine schwierige Saison bei Zalgiris Kaunas hinter sich und ist derzeit noch vereinslos, soll in Köln (und Berlin) aber seine Erfahrung und seine Qualitäten als 3-and-D-Spieler einbringen. Der 31-Jährige ist vermutlich der kräftigste Flügel im DBB-Team und könnte, ähnlich wie Wagner, auch mal auf der Vier in kleinen Lineups zum Einsatz kommen. Auch er verpasste Teile der Vorbereitung, hinterließ zuletzt gegen Slowenien aber wieder einen guten Eindruck.
Chris Sengfelder war zuletzt, ähnlich wie Hollatz, kein fester Bestandteil der Rotation mehr. Dabei kann der Bamberger Forward jederzeit für Punkte und (Offensiv-)Rebounds sorgen. Sengfelder gilt als unermüdlicher Arbeiter, der mit dem Rücken zum Korb scoren, aber auch effizient aus der Distanz abschließen kann (vergangene Saison: 40,9 Prozent Dreier in der BBL). Im Vergleich zu den restlichen Wings fehlt es ihm indes an Erfahrung in den höchsten Spielklassen.
Das DBB-Team in der Analyse: Die Bigs
Auf keiner Positionsgruppe ist das deutsche Team so tief und prominent besetzt wie bei den Bigs. Das DBB-Team hat hier zwei legitime EuroLeague-Stars in Tibor Pleiß und Johannes Voigtmann zur Verfügung, zwei gestandene NBA-Veteranen in Maxi Kleber und Daniel Theis, zwei aufstrebende NBA-Bigs in Isaiah Hartenstein und Moritz Wagner - selbst wenn viele der Genannten im Team eher Rollenspieler sind, könnte das qualitativ mit der beste Frontcourt im Turnier sein. Eigentlich.
Denn, das ist mittlerweile wohl allen bekannt: Es sind eben nicht alle dabei, im Gegenteil. Kleber, Pleiß und Hartenstein hatten schon frühzeitig abgesagt, in der Vorbereitung gesellte sich Wagner hinzu, und auch bei Theis war es bis zum letzten Moment offen. Herbert hat dennoch demonstriert, dass er gerne mit zwei Bigs spielen lässt, entsprechend wichtig werden die "übrigen" großen Spieler trotz allem sein.
Gerade offensiv ist Johannes Voigtmann an erster Stelle zu nennen. Der 29-Jährige kam zwar mit wenig Spielpraxis zum Team, weil er seinen Verein ZSKA Moskau aufgrund des Angriffs auf die Ukraine im Februar aus Protest verließ (wie und wo es für ihn weitergeht, ist noch unklar), ist in der deutschen Mannschaft aber längst etabliert und zeigte dies auch in der Vorbereitung.
Voigtmann bringt als Big Man jede Menge Guard-Skills ein. Vor allem ist er ein herausragender Passer, der die Offense mit initiieren, aber auch als Katalysator fungieren kann. Er hat zudem einen sehr guten Wurf auch aus der Distanz, ein weiches Händchen in Korbnähe und vereinfacht gesagt ein überragendes Gefühl für das Spiel.
Er kann als einziger Big fungieren, oder auch, wie häufiger unter Herbert, neben einem physischeren Big, der vermehrt in Korbnähe aktiv ist. Voigtmann agiert gerne und häufig auf dem Flügel, wo er seine Passfähigkeiten wohl am besten zur Geltung bringen kann.
Deutschland und die Großen: Wie sehr hängt Herbert an Twin-Towers?
Wenn er wieder fit ist, dürfte Daniel Theis häufig dieser Spieler sein. Der Neu-Pacer ist Deutschlands bester Rim-Runner und seit Jahren ein eingespielter Pick'n'Roll-Partner von Schröder, selbst wenn dieses Play bei der WM 2019 etwas zu oft genutzt wurde. Theis ist zudem, obwohl er für einen Center etwas klein ist, der beste Ringbeschützer im Kader.
In der Vorbereitung wiederum war oft Jonas Wohlfarth-Bottermann der Starting Center neben Power Forward Voigtmann. Das hätte vor wenigen Monaten noch niemand erwartet, auch der 32-Jährige selbst wohl nicht, aber WoBo hat sich im Zuge der Quali-Fenster offenbar in Herberts Gunst gespielt.
Er ist ein starker Rebounder und beschränkt sich offensiv auf das, was er kann - Blöcke stellen, Anspiele am Korb verwerten, um Offensiv-Rebounds kämpfen. Defensiv soll er den Ring beschützen, gerade im Pick'n'Roll ist er aufgrund seiner eingeschränkten Mobilität aber angreifbar. Es bleibt abzuwarten, wie groß seine Rolle bei der EM sein wird und kann.
Als dynamischere Option steht noch Johannes Thiemann bereit. In der Vorbereitung gefiel der Alba-Spieler gerade in den Minuten neben Voigtmann. Er hat mittlerweile ebenfalls einen soliden Wurf, ist aber vor allem in Korbnähe gut unterwegs und kann auch als Cutter fungieren. Defensiv ist er kein Shotblocker, aber mobiler und individuell schwerer zu attackieren als WoBo oder auch Voigtmann.
Das Fazit: "Hätte, wäre, wenn" ist überflüssig
Es hilft nicht, darüber zu lamentieren, was hätte sein können - es ist auch nicht nötig. Denn: So talentiert und stark besetzt war eine deutsche Mannschaft selten, vielleicht auch noch nie. Vor allem die Achse Schröder-Wagner-Voigtmann bringt ein enormes offensives Potenzial mit, selbst wenn das in der Vorbereitung noch nicht immer zu sehen war.
Vielleicht auch deshalb, weil Herbert mit seinen Lineups eher Rebounding und Defense priorisierte. Das ging zumeist durchaus auf, vielleicht wird es im Turnier aber häufiger nötig sein, die besten Spieler möglichst lange gemeinsam spielen zu lassen. Das würde in diesem Fall bedeuten, eher klein zu agieren und vor allem Wagner auf die Vier zu beordern.
Der Drive kann in einem Team mit Lô, Schröder und Wagner die größte Stärke sein - es wird nur eben komplizierter, wenn häufig zwei Bigs mit auf dem Court stehen, von denen abgesunken werden kann. In der Vorbereitung war dies jedoch fast immer der Fall und dadurch wurde die Offense streng genommen ein Stück weit gehandicapt. Es wird sich zeigen, wie sehr Herbert wirklich daran hängt.
SPOX-Tipp: Diese Mannschaft hat Potenzial, trotz der personell schwierigen Vorbereitung. Selbst in der überragend besetzten Gruppe B sollte es für mindestens Platz vier und damit die K.o.-Runde in Berlin reichen.