"Ich würde auch in einer Garage leben"

Von Interview: Bastian Strobl
Jürgen Brähmer (2.v.r.) tritt am Samstag gegen Tony Averlant an
© getty

Jürgen Brähmers Weg zurück an die Spitze des Boxsports geht weiter. Am Samstag muss der 34-Jährige seinen Titel im Halbschwergewicht gegen Tony Averlant verteidigen (Sa., 22.30 Uhr im LIVE-TICKER). Im Interview spricht der Europameister über den Wechsel zu Sauerland, die Amateur-WM 1996 auf Kuba und einen denkwürdigen Länderkampf gegen Ricky Hatton.

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SPOX: Herr Brähmer, am Samstag verteidigen Sie Ihren EM-Titel gegen Tony Averlant. Ist dieser Kampf der entscheidende Schritt, um noch mal eine WM-Chance zu erhalten?

Jürgen Brähmer: Das große Ziel ist die Weltmeisterschaft, das ist kein Geheimnis und schwirrt natürlich auch in meinem Hinterkopf herum. Ein starker Gegner wie Averlant kommt da genau richtig, damit ich den Ringrost endgültig ablege. Dass der Kampf in Hamburg, also an meiner alten Wirkungsstätte, stattfindet, ist das i-Tüpfelchen.

SPOX: Wo liegen Averlants Stärken?

Brähmer: Er ist ein typischer Franzose, ein Arbeiter vor dem Herrn, der konditionell auf höchstem Niveau ist. Es wird eine große Aufgabe, so jemanden, der nie aufgibt, zu stoppen.

SPOX: Wie können Sie ihn knacken?

Brähmer: Wir haben uns im Training einiges ausgedacht und ein paar Schwächen entdeckt. Er hat technische Defizite, außerdem gehört seine Beinarbeit auch nicht immer zur Weltklasse. Er steht manchmal nicht richtig und sicher, das muss ich ausnutzen.

SPOX: Der Kampf gegen Averlant ist Ihre erste Titelverteidigung, nachdem Sie Eduard Gutknecht im Februar den Gürtel abgenommen haben. Dessen Trainer Ulli Wegner war damals mit der Entscheidung der Punktrichter nicht wirklich zufrieden und sprach sogar von Schiebung.

Brähmer: Jeder, der den Kampf gesehen hat, weiß, dass ich gewonnen habe. Nur Wegner hat das offenbar nicht erkannt. Wobei ich ihn ein wenig in Schutz nehmen muss: Am Tag danach hat er seine Aussage zurückgenommen. Er ist nun mal ein Typ, der nur ungern verliert. Für mich war die ganze Geschichte nicht so dramatisch.

SPOX: Trotz Ihres Sieges fehlte Ihnen laut eigener Aussage die Spritzigkeit. Sind Sie gegen Averlant besser vorbereitet?

Brähmer: Auf jeden Fall! Das ist aber auch keine große Überraschung. Gegen Gutknecht kam ich nach einer langen Auszeit zurück. Der Kampf war ein großes Risiko, ich hatte davor ja keinen richtigen Aufbaukampf. Aber das war meine Entscheidung. Ich habe mir gesagt: Entweder ganz oder gar nicht! Gutknecht hat mich richtig gefordert, dadurch wurde mir sofort wieder bewusst, dass die Latte im Boxen sehr hoch hängt.

SPOX: Profitieren Sie auch von Ihrer Rückkehr zu Karsten Röwer, der Sie bereits als Amateur betreut hat?

Brähmer: Wir haben während meiner Amateurzeit eine wunderbare Zusammenarbeit gehabt. Es war also logisch, dass er mich wieder unter seine Fittiche nimmt. Und es hat sich ausgezahlt. Karsten weiß ganz genau, wie er mich anpacken muss.

SPOX: Indem er nicht lange um den heißen Brei herumredet?

Brähmer: Genau! Er gibt mir auch mal einen Arschtritt, wenn ich die Übungen schleifen lasse. Das ist wichtig. Als Boxer braucht man einen Trainer, vor dem man Respekt hat. Ansonsten macht es keinen Sinn. Im Technik-Training macht ihm sowieso kaum jemand etwas vor.

SPOX: Röwer stand Averlant mit seinem Schützling Artur Hein bereits 2011 zweimal gegenüber. Könnten seine Erfahrungen ein großer Vorteil für Sie sein?

Brähmer: Darüber haben wir gar nicht gesprochen, ich wusste davon auch lange nichts. Was soll ich mir von Hein auch großartig abschauen? Wir sind zwei Boxer mit vollkommen unterschiedlichen Stilen, ganz zu schweigen vom Niveau. Dass Karsten Averlant bereits live gesehen hat, ist aber zumindest kein Nachteil.

SPOX: Der Höhepunkt Ihrer Zusammenarbeit mit Röwer war bislang der Junioren-WM-Titel 1996 in Havanna. Welche Erinnerungen haben Sie an dieses Turnier noch?

Brähmer: Das war ein überragendes Erlebnis. Wer einmal in einem Freiluftstadion auf Kuba geboxt hat, wird das niemals vergessen. Das ist Boxen pur. Vor allem das Publikum hat mich fasziniert. Das komplette Stadion war ausverkauft, so etwas würde es in Europa nicht geben. Die Fans waren sehr fair und fachkundig. In Kuba hat das Boxen, besonders im Amateurbereich, einen ganz anderen Stellenwert als in Deutschland.

SPOX: Ihr WM-Erfolg war nicht das einzige Highlight während Ihrer Amateurkarriere. Sie besiegten unter anderem Carl Froch, Ricky Hatton und Felix Sturm.

Brähmer: An Hatton kann ich mich noch gut erinnern. Ich stand mit ihm mehrmals im Ring, einmal sogar bei einem Länderkampf in England. Damals war er schon eine große Nummer dort und wurde wie ein Star gefeiert. In der Halle waren nur Männer mit Smoking und Fliege, Frauen waren nicht erlaubt. Es gab einen runden Tisch, an dem gewettet wurde. Vor meinem Kampf kam ein Typ auf einen Nationalmannschaftskollegen zu, um sich nach meiner Form zu erkundigen. Mein Kumpel hat ihm geantwortet: "Der Hatton hat keine Chance!" Er war ziemlich verblüfft, hat aber im Endeffekt Geld auf mich gesetzt und gewonnen, weil ich Hatton in der ersten Runde umgehauen habe. Er hat so viel bekommen, dass er uns sogar ein wenig abgegeben hat.

SPOX: In den darauffolgenden Jahren stiegen Sie bei Universum in die Weltspitze auf, haben sich 2012 aber endgültig voneinander getrennt.

Brähmer: Ich hatte eine tolle Zeit bei Universum, das muss ich immer wieder sagen. Aber Universum ist dem Untergang geweiht. Alles hat mit dem Abgang von Geschäftsführer Peter Hanraths begonnen. Danach war es nicht mehr das Universum, das ich gekannt habe. Wie sich alles entwickelt hat, ist einfach nur traurig. Neben Sauerland noch einen weiteren großen Boxstall in Deutschland zu haben, war nicht nur für das Prestige gut. Duelle untereinander hatten immer etwas Besonderes.

SPOX: Ihre letzten Jahre bei Universum verliefen ebenfalls alles andere als optimal.

Brähmer: Das waren verlorene Jahre, richtige Scheißjahre. Mal wurden Kämpfe einfach abgesagt, mal wurden vertragliche Sachen nicht eingehalten. Man konnte sich einfach nicht mehr auf den Sport konzentrieren. Umso glücklicher bin ich jetzt bei Sauerland. Ich hätte auch andere Wege gehen können, aber Sauerland ist genau der zuverlässige Partner, den ich wollte. Bereits nach dem ersten Gespräch mit Wilfried Sauerland auf Mallorca hatte ich ein positives Gefühl.

SPOX: Das klingt nach Ihrer bewegten Vergangenheit mal wieder nach einem Neubeginn. Rückblickend gesehen: Wie haben Ihre Gefängnisaufenthalte Sie verändert?

Brähmer: Das ist schwer zu sagen. Ich weiß jetzt zumindest, wie der Rechtsapparat läuft. Das komplette System ist veraltet. Damit habe ich mich als junger Mann nie befasst. Mit dem heutigen Wissen wäre ich wahrscheinlich nie im Knast gelandet.

SPOX: Fühlen Sie sich unfair behandelt?

Brähmer: Das gilt nicht nur für mich. Ich will nicht zu konkret werden, aber es gibt viele Sachen, die nicht richtig abgelaufen sind. Einige Richter und Staatsanwälte machen sich die Welt, wie sie ihnen gefällt.

SPOX: Schätzen Sie heutzutage Kleinigkeiten mehr wert als früher?

Brähmer: Ich war immer mit wenig zufrieden. Ich würde auch in einer Garage leben, aber damit wären meine Frau und unser Kind wohl nicht einverstanden. (lacht) Die Öffentlichkeit darf sich nicht von den großen Autos und dem Boot in die Irre führen lassen, die ich mal hatte. Diese ganzen Luxusobjekte haben für mich nie eine große Rolle gespielt. Natürlich war es schön, sie zu besitzen, aber mittlerweile hat sich der Fokus deutlich verschoben. Wenn ich sehe, wie viele ehemalige Sträflinge nach dem Knast in einem Maulwurfloch, also in einer mickrigen Ein-Zimmer-Wohnung, untergebracht werden, darf ich mich nicht beschweren.

SPOX: In Ihre Welt darf wohl bald jeder ein wenig eintauchen. Wie man hört, schreiben Sie momentan an einer Biografie.

Brähmer: Ich arbeite nebenbei daran, aber das dauert wohl noch ein bisschen. Das könnte ein interessantes Ding werden. Ich habe irgendwann angefangen, Sachen aufzuschreiben, die mir eingefallen sind. Das ist wie eine Reise in die Vergangenheit. Ob meine ganze Geschichte in ein Buch passt, würde ich aber bezweifeln. (schmunzelt)