Im größten Schwergewichtskampf des Jahres treffen am Samstag Wladimir Klitschko und Alexander Powetkin aufeinander (Sa., 21.15 Uhr im LIVE-TICKER). SPOX hat beide Kämpfer vor dem Duell in Moskau auf Herz und Nieren geprüft. Der Head-to-Head-Vergleich.
Vorbereitung
"Je schwieriger die Vorbereitung ist, desto leichter ist der Kampf." Nach diesem Motto bezog Klitschko auch diesmal wieder sein Quartier im österreichischen Going, um sich in die optimale körperliche Verfassung zu bringen. Besonders bemerkenswert: Der Ukrainer absolvierte im "Stanglwirt" insgesamt 115 Sparringsrunden. Neben den beiden Schwergewichten Sam Sexton und Michael Sprott stieg interessanterweise auch Steve Cunningham mit Klitschko in den Ring, der Powetkins Schnelligkeit imitieren sollte. Der Ex-Cruisergewichts-Champion zeigte sich danach beeindruckt von Klitschko: "Wladimir ist trotz seiner Größe so verflucht schnell. Man sieht seine Fäuste gar nicht heranfliegen."
Auch Powetkin ließ sich in der Vorbereitung nicht lumpen. Mehr als zweieinhalb Monate schindete er sich im Trainingscamp. "Das ist der wichtigste Kampf in meinem Leben. Ich boxe gegen den stärksten Boxer der Welt. Da will ich gut vorbereitet sein", so der Russe. Mit an Bord war auch Alexander Zimin. Der Trainer, der Powetkin bereits von 2005 bis 2009 betreute, kehrte im Mai an die Seite des WBA-Weltmeisters zurück. SPOX-Urteil: Unentschieden
Erfahrung
63 Kämpfe. 60 Siege, davon 51 durch Knockout. Noch Fragen? Mit seinen mittlerweile 37 Jahren bringt Klitschko nichts mehr wirklich aus der Ruhe. Dass er als Amateur zudem 140 Kämpfe bestritt und 1996 Olympisches Gold holte, vergisst man dabei fast. Trotz seines fortgeschrittenen Alters scheint der Zahn der Zeit aber nicht an ihm zu nagen, wie Klitschko gegenüber "RTL" betonte: "Meine Taktik hat sich nicht geändert: Ich weiß, dass ich aufmerksam sein muss. Wenn ich mir diese Aufmerksamkeit bewahre, gibt es keinen, der mich schlagen kann. Wenn ich schlaffer werde, nicht mehr motiviert bin und meine Gegner unterschätze, ist das der Anfang vom Ende."
Auch Powetkin darf sich nach seinem Erfolg in Athen Olympiasieger nennen. Mustergültiger als bei dem Russen kann eine Karriere sowieso nicht verlaufen.
Im Amateurbereich war er Welt- und Europameister, auch als Profi sicherte er sich den WM-Gürtel. Allerdings verdankt er dies auch der WBA, die Klitschko 2011 zum Superchampion ernannte.
Powetkin gewann im Anschluss den Kampf um den vakanten Gürtel gegen den Usbeken Ruslan Tschagajew. Seine Statistik ist makellos (26 Kämpfe, 26 Siege), jedoch stand er nicht mal halb so oft im Ring wie sein Gegner. SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko
Schlagkraft
Nicht ohne Grund trägt Klitschko den Spitznamen Dr. Steelhammer. Seine Schlaghand ist eine Waffe, der bereits einige Schwergewichte zum Opfer fielen. Der Ukrainer setzt seine Rechte jedoch nur gezielt ein und vertraut gerade in der Anfangsphase eines Kampfes seiner Führhand. Der Jab, mit dem Klitschko seine Kämpfe dominiert, ist genauso bekannt wie gefürchtet. Mit ihm hält er sich nicht nur seinen Gegner vom Leib, sondern punktet aus sicherer Position auf den Zetteln der Punktrichter.
Powetkins K.o.-Quote (69,23 Prozent) kann sich ebenfalls sehen lassen. Trotzdem ist der Russe kein klassischer Puncher. Vielmehr zermürbt der WBA-Weltmeister seine Gegner mit vielen Kombinationen. Hinter seiner Schlagkraft stehen nichtsdestotrotz einige Fragezeichen. Bereits 2009 bestätigte Jason Estrada nach seiner Punktniederlage: "Powetkins Schlagkraft war wie erwartet nicht so berühmt." SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko
Kinn
Es gab eine Zeit, als Klitschkos Glaskinn ein heißes Thema war. Vor allem in den Jahren 2003 und 2004, als er gegen Corrie Sanders und Lamon Brewster den Kürzeren zog, zweifelten viele Experten an Klitschkos Nehmerqualitäten. Doch das war einmal. Das liegt vor allem daran, dass es viele Klitschko-Gegner schlichtweg nicht schaffen, bis zum Ukrainer durchzukommen und ihn ernsthaft anzuklingeln. Sollte Powetkin dies gelingen, könnte es für den Favoriten gefährlich werden.
Auch Powetkin lässt sich kaum einmal auf eine wilde Prügelei ein. Mit seinem taktisch klugen und technisch sauberen Boxstil ist er ein typischer Vertreter der osteuropäischen Boxschule. Das wirkt meistens etwas bieder, macht es aber seinen Gegnern unheimlich schwer, Wirkungstreffer zu erzielen. "Powetkin hat noch keinen Kampf verloren, er war noch nie auf dem Boden, er war noch nie ausgezählt. Einen besseren Gegner habe ich noch nie gehabt", resümiert Klitschko. Allerdings bewies Marco Huck, dass der Russe unter Druck durchaus ins Schwimmen gerät. Ob Powetkins Kinn wirklich Klitschkos Schlagkraft widerstehen kann, muss sich erst noch herausstellen. SPOX-Urteil: Vorteil Powetkin
Ausdauer
Zu Beginn seiner Karriere neigte Klitschko dazu, sich oftmals viel zu schnell zu verausgaben. Bei der Niederlage gegen Ross Puritty war der Ukrainer bereits vor dem Niederschlag stehend K.o.. Klitschko hat aber über die Jahre hinweg dazugelernt und weiß, wie er seine Kraft effektiv einteilen muss, um auch in seinem Alter problemlos über die volle Distanz gehen zu können.
Das muss Powetkin dagegen erst mal beweisen. Zu häufig wirkte der Russe in der Vergangenheit nicht vollkommen austrainiert. Das Paradebeispiel war der Fight gegen Huck, als Powetkin ab Mitte des Kampfes ernste Konditionsprobleme bekam und sich nur mit Mühe und Not über die Runden retten konnte. Beim Pressetraining in Moskau machte er aber eine gute Figur, die auch Klitschko nicht verborgen blieb: "Powetkin macht auf mich einen sehr austrainierten Eindruck." SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko
Körperliche Verfassung
Von der Physiognomie ist Klitschko seinem Kontrahenten - wie eigentlich fast immer - überlegen. Mit 1,98 Meter ist er etwa zehn Zentimeter größer als Powetkin. Auch die Reichweite spricht klar für den Ukrainer (206 cm zu 191 cm) und wird den Kampf nachhaltig beeinflussen.
Dass sich Klitschko in dieser Woche in einem Top-Zustand der Presse präsentierte, ist ebenfalls keine Überraschung. Im Gegensatz zu vielen anderen Divisionskollegen findet sich an Wladimirs Körper kein Gramm fett. Das ermöglicht ihm, trotz seiner Größe flink und wendig auf den Beinen zu sein.
Powetkin kann da zwar nicht ganz mithalten. Allerdings befindet er sich in einer weitaus besseren Verfassung als in der Vergangenheit. Ex-Champion Lennox Lewis fasste Powetkins körperliche Stärken einmal so zusammen: "Powetkin bewegt sich gut. Er ist stark und er boxt spielerisch." Diese gute Balance aus Masse und Beweglichkeit zeichnet Powetkin aus und ist dringend notwendig, wenn er Klitschko in Bedrängnis bringen will. SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko
Fähigkeiten
An Klitschkos technischen Fähigkeiten gibt es keinerlei Zweifel. Der Jab sucht im Schwergewicht seinesgleichen. Sein Cross ist eine Augenweide und kaum vorauszuahnen. Und wenn Klitschko seine Rechte auspackt, sollte man tunlichst in Deckung gehen. Auch in der Defensive verbesserte sich der Dominator der letzten Jahre seit seinen Niederlagen gegen Brewster und Sanders Schritt für Schritt.
Der White Tiger gilt seinerseits als gefährlicher Allrounder mit starkem Offensivdrang, der im In-Fight zum Besten gehört, was das Schwergewicht zu bieten hat. Powetkins variabler Boxstil und die Fähigkeit, gegnerische Salven auszupendeln und schnelle Kombinationen ins Ziel zu bringen, zeichnen ihn aus. Vor allem ist der Russe aber wegen seiner hohen Schlagfrequenz gefürchtet, die Klitschko sogar an eine Legende erinnert: "Powetkin ist ein Krieger im Boxring. Sein schwarzes Outfit, sein Stil und seine Schläge zeigen auch, dass Powetkin versucht, Mike Tyson zu kopieren. Und spätestens, als er mit Teddy Atlas gearbeitet hat, konnte man sehen, dass er Mike Tyson ähnlich sein wollte." Dadurch wird Powetkin allerdings auch anfällig für Konter. Ein weiteres Merkmal: das hohe Anfangstempo, dem Powetkin im Laufe des Kampfes häufig Tribut zollen muss. SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko
Mentale Stärke
Anders wie beim Kampf zwischen Klitschko und David Haye war man in den letzten Wochen vergeblich auf der Suche nach einer Portion Trash-Talk. Beide Kämpfer begegneten sich mit großem Respekt, wohl wissend, dass ein Duell zwischen einem Russen und einem Ukrainer alleine aus geschichtlicher Sicht genügend Zündstoff bietet.
Davon will Klitschko aber nichts wissen: "Eine Russe gegen einen Ukrainer, das hat einen schlechten politischen Beigeschmack. Diese Spaltung in einem Kampf möchte ich nicht hören und nicht haben. Aus meiner Sicht ist es ein Kampf zweier Protagonisten, die aus der gleichen Ecke kommen."
Von einem Psycho-Krieg kann also keine Rede sein. Dafür sind beide zu besonnen, insbesondere Powetkin. Ein kleines Psycho-Spielchen erlaubte sich Powetkin dann aber doch. Sein Team wollte ausgerechnet Dereck Chisora in Klitschkos Kabine schicken, wenn dort dessen Fäuste bandagiert werden. Ein reizvoller Gedanke. Die Aktion wurde inzwischen aber verboten, Chisora wird nur am Ring sitzen dürfen.
Es wird insgesamt interessant zu beobachten sein, wie der White Tiger mit der Amtosphäre in der Olimpijski-Halle zurechtkommen wird. "Vor eigenem Publikum zu boxen wird definitiv eher eine Unterstützung für mich sein als Druck", wischt Powetkin jegliche Bedenken vom Tisch. Nichtsdestotrotz ist Klitschko, den in Moskau wohl ein feindseliges Publikum erwarten wird, den Druck mehr gewohnt als er. SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko
Fazit
Die Vorzeichen sind klar. Klitschko ist der Favorit, Powetkin der Außenseiter. Zu erdrückend scheinen die physischen Vorteile des Ukrainers, zu dominant seine Fähigkeiten. Dennoch ist Powetkin nicht komplett chancenlos und stellt die größte Bedrohung seit Haye dar.
Der Russe sollte versuchen, Klitschko seinen Boxstil aufzudrücken. Er muss die Offensive suchen und darf sich nicht von seinem Gegner einschüchtern lassen, ansonsten bekommen die Zuschauer wohl das nächste Jab-Festival zu sehen.
Klitschkos Erfolgsrezept ist dagegen klar: den Kampf diktieren, mit seiner Führhand bei den Punktrichtern Eindruck schinden und Powetkin mit seiner Reichweite auf Distanz halten, damit dieser nicht in den In-Fight kommt. Sollte der Russe nach seiner zu erwartenden Anfangsoffensive in der Mitte des Kampfes Konditionsprobleme bekommen, könnte für Klitschko auch ein Knockout herausspringen - wenn er dies wirklich forciert und ein gewisses Maß an Risiko in Kauf nimmt, dass er wohl nicht unbedingt gehen müsste.
Allerdings wird Powetkin alles versuchen, um vor heimischen Publikum nicht zu Boden gehen. Alles andere als ein Sieg Klitschkos wäre trotzdem eine Überraschung. SPOX-Urteil: Punktsieg Klitschko.