Immer mehr Blut strömte über sein Gesicht. Immer weiter öffneten sich die Wunden an seinen aufgerissenen Wangen. Immer heftiger schwollen seine Augen an. Und immer weniger war John Heenan wiederzuerkennen.
Doch aufgeben? Das kam für den Amerikaner nicht in Frage. Zu groß war die Chance, den auch schon schwer gezeichneten Tom Sayers zu besiegen.
Und so ging die Schlacht weiter.
Egal, wie viel Schmerz die beiden erleiden mussten, auf den ersten Weltmeistertitel der Boxgeschichte wollte niemand verzichten. Niemand wollte den ersten "Kampf des Jahrhunderts" verlieren.
In einer Zeit vor Ali und Mayweather
Er fand statt in einer Zeit, in der die Welt noch lange auf Legenden wie Muhammad Ali oder Floyd Mayweather Junior warten musste. In einer Zeit, in der das Boxen nur wenig mit dem der Gegenwart gemein hatte. Im April 1860.
Schützende Handschuhe gab es damals ebenso wenig wie eine Zeitbegrenzung oder Punktsiege. Eine Runde war erst dann beendet, wenn ein Boxer am Boden lag, ein Kampf erst dann zu Ende, wenn einer aufgab oder bewusstlos wurde. Schwerste Verletzungen waren an der Tagesordnung.
Und trotzdem begeisterte sich ein gewisser John Camel Heenan für diesen brutalen Sport. Der Amerikaner, der erst in einer kalifornischen Werft arbeitete und später sein Geld als Eintreiber und Bodyguard im gewaltvollen New York City verdiente, machte sich in den 1850er Jahren einen Namen als talentierter Faustkämpfer.
Zu Beginn als Amateur aktiv, brillierte der Power-Puncher später auch bei ersten Profikämpfen. Nachdem der damalige US-Champion John Morrissey zurückgetreten war, galt Heenan schließlich als dessen rechtmäßiger Nachfolger.
Heenan fordert Sayers heraus
Doch es gab ein Problem: In den Staaten fand der 25-Jährige keine Gegner mehr. Er musste also fernab der USA suchen - und wurde auf der anderen Seite des Großen Teiches fündig, bei Tom Sayers.
Der in den Slums der südenglischen Stadt Brighton aufgewachsene Sayers war im Gegensatz zum belesenen und kulturell gebildeten Heenan ein Mann der einfachsten Klasse ohne Schulbildung.
Doch im Boxen hatte der eigentliche Maurer Erfolg: Mithilfe seiner harten Schläge kämpfte er sich zum inoffiziellen englischen Meister - und wurde so zum perfekten Gegner für den acht Jahre jüngeren US-Champ Heenan, der ihn zum Kampf herausforderte.
Der illegale Kampf des Jahrhunderts
Sayers nahm die Challenge an. Stichtag war der 17. April 1860, als Austragungsort wurde ein Feld nahe der englischen Kleinstadt Farnborough gewählt.
Und das nicht aus Zufall: Es lag zwischen den Grafschaften von Surrey und Hampshire. Bei einem polizeilichen Übergriff hätten die gut betuchten Zuschauer dann über die Grenze fliehen und sich so ihrer Gerichtsbarkeit entziehen können. Profikämpfe waren zur damaligen Zeit illegal.
Trotz dieser Gesetzeswidrigkeit rührten die Beteiligten fleißig die Werbetrommel. Zahlreiche Flugblätter und Aushänge wurden verteilt, Zeitungen berichteten in einem ungewöhnlich großen Ausmaß über den "Fight of the Century".
Ticket to Nowhere
Die Öffentlichkeit richtig heiß gemacht, wollte sich niemand das Spektakel entgehen lassen. So trafen mehr als 3000 Zuschauer an jenem Dienstag um 4 Uhr in der Früh an der London-Bridge-Station zusammen, um nach Farnborough zu gelangen.
Einige von ihnen waren aus Schutz vor der Polizei vorsichtshalber mit Messern und Stöcken bewaffnet. Wer ein Zugticket erwarb, las darauf als ausgeschriebenes Ziel nur "To Nowhere".
"Es ist ein wunderbarer Morgen", sagte Heenan und nahm sich vor dem Kampf selbst in die Pflicht: "Wenn ein Mann an so einem Morgen nicht kämpfen und gewinnen kann, dann wird er niemals kämpfen können".
Um halb acht rief der Schiedsrichter die Kontrahenten schließlich in den Ring. Und die Schlacht begann.
"Er fiel wie ein Ochse"
Heenan, der mit einer Größe von 1,87 Metern und einem Gewicht von 88 Kilogramm körperlich deutlich überlegen war, erwischte den besseren Start. Wie die Times berichtete, traf er Sayers direkt zu Beginn "mit einem Schlag auf die Nase, der auf dem ganzen Feld zu hören war und ihn wie einen Ochsen umfallen ließ".
Doch der "Brighton Boy" konterte. Er stand auf, holte aus. Und schlug zu. Mit voller Wucht. Ohne Rücksicht auf Verluste. Das rechte Auge von Heenan bekam die Breitseite ab, auch die Wange wurde zertrümmert. Der Getroffene taumelte anschließend "wie ein besoffener Mann zurück in seine Ecke".
Schon nach kurzer Zeit waren beide Kontrahenten schwer angeschlagen. Heenan war auf einem Auge nahezu blind, Sayers kugelte sich die rechte Schulter aus. Doch die Schlacht ging weiter.
42 Runden, zweieinhalb Stunden Kampf
In Runde 32 wollte der schwer verwundete Heenan dann den Sieg erzwingen. Er drückte seinen Widersacher gegen die Ringseile, würgte ihn und schlug weiterhin gnadenlos zu.
Dann brach Chaos aus.
Die Zuschauer, die es größtenteils mit Sayers hielten, wollten ihren Gladiatoren nicht verlieren sehen. Sie zückten ihre Messer - und schnitten kurzerhand die Seile durch. Die wild gewordene Menge stürmte den offenen Ring. Die mittlerweile anwesende Polizei ließ die Schar dabei gewähren. Und die Schlacht ging weiter.
Fünf Runden lang rauften sich Heenan und Sayers noch, dann versuchte der Ringrichter den Kampf abzubrechen. Doch die Schaulustigen hatten nicht genug, sie wollten eine Entscheidung.
Erst nach der 42. Runde setzte sich der Ringrichter durch und beendete das Geschehen. Obwohl beide Seiten Ansprüche auf den Sieg stellten, entschied er auf Unentschieden.
Und die Schlacht war vorbei. Nach atemberaubenden zweieinhalb Stunden.
Tragisches Ende zweier Helden
Die Streitereien über den wahren Sieger zogen sich noch über Wochen. Heenan forderte einen Rückkampf, doch Sayers kaputtes Schultergelenk machte eine Revanche unmöglich. Beide Boxer erhielten einen Weltmeisterschaftsgürtel und ihren Lohn von je 200 Pfund.
Sayers bestritt danach nie wieder einen Kampf. Mit Diabetes, Tuberkulose und unter starkem Alkoholkonsum verendete er nur fünf Jahre später im Alter von 39 Jahren.
Heenan wurde bei seiner Rückkehr in die USA als Held gefeiert. Er versuchte sich drei Jahre später nochmals im Ring, verlor aber und beendete daraufhin ebenfalls seine Karriere. Auch er verarmte und starb bereits mit 38 Jahren.
Queensberry-Regeln als Folge
Obwohl Sayers als auch Heenan nur diesen einen Big Fight hatten, veränderten sie den Boxsport wie nur wenige andere in der Geschichte. Die englische Nation war so schockiert von der Brutalität des Kampfes, dass Profikämpfe daraufhin legalisiert und Bare-knuckle-Fights größtenteils aufgegeben wurden.
Darüber hinaus setzte man sich im House of Commons zusammen, um über neue Regeln zu debattieren. Heraus kamen die "Dozen Rules", die vom London Amateur Athletic Club entworfen und 1865 vom Parlament akzeptiert wurden.
Dabei handelt es sich im Grunde um die Regeln, die auch heute noch gültig sind: Rundenlimits, Begrenzung der Rundenzeit auf drei Minuten mit je 60 Sekunden Pause und das Tragen von Handschuhen. Zudem wurde der 10-Sekunden-Countdown vor dem Knockout eingeführt.
Das Regelwerk wurde vom neunten Marquess of Queensberry gesponsert und nach ihm benannt - die "Queensberry-Regeln" waren geboren.
Ein Ali, ein Mayweather und viele andere Boxer dürfen sich also bei Heenan und Sayers bedanken. Sie und ihre Schlacht haben mit dazu beigetragen, dass das Profiboxen die notwendigen Regeln erhalten hat und ihr Sport zu einem Sport mit Weltformat geworden ist.