Wie erinnert man sich an den Größten aller Zeiten, wenn man ihn nie hat boxen sehen, abgesehen von grobkörnigen, zumeist schwarz-weißen YouTube-Videos, vielleicht der einen oder anderen Doku? Wenn die überlebensgroßen Zitate auf Postern und Twitter-Accounts irgendwie immer präsenter waren als das wirkliche Lebenswerk des, ja, man kann es nur wiederholen, Greatest Of All Time.
Am späten Freitagabend ist Ali in einem Krankenhaus in Arizona im Alter von 74 Jahren gestorben. Einen Tag später quillt die Welt förmlich über vor Erinnerungen an einen Einzigartigen.
Frühere Gegner ehren ihn, Nachfolger gedenken ihres Idols. Zeitgenossen sprechen über die denkwürdigen Kämpfe, aber auch über Pressekonferenzen, Interviews, einfache Begegnungen, denen doch immer irgendetwas Magisches inne wohnte. Und sei es nur die Tatsache, dass man sich damals mitten in der Nacht den Wecker stellte, um die Kämpfe des Größten aller Zeiten hier in Deutschland am Radio oder Fernseher zu verfolgen.
Muhammad Ali: Seine wichtigsten Kämpfe
Alis letzter Kampf im Ring ist 36 Jahre her. Seine Hochzeiten in den 60ern und 70ern noch länger. Wie verhindert man, dass bei den Generationen danach vom Größten aller Zeiten nicht viel mehr bleibt als eine kurze Beileidsorgie in den sozialen Medien, ein paar Fotoalben und Schmetterlings-Bienen-Allegorien? Wie heißt es so schön? Geschichte wurde Legende, Legende wurde Mythos.
Wie erinnert man sich? Woran erinnert man sich?
Viel mehr als ein Boxer
An Muhammad Ali, den Athleten. Den Boxer, nein, den Sportler des Jahrhunderts. Der eigentlich nur zum Boxen kam, weil man ihm im Alter von zwölf Jahren das Fahrrad geklaut hatte und er dem Dieb eine Tracht Prügel verpassen wollte. Der "Niemand ist so schnell wie ich!" tönte und es anschließend im Ring unter Beweis stellte. Mit einer noch nie dagewesenen Kombination aus Power, Athletik, Eleganz, Intelligenz und einfach nur purem Willen.
Der sich gleich dreimal zum Weltmeister im Schwergewicht aufschwang, zum König aller Athleten. Heute oft nur ein Mix aus albernen Pressekonferenzen und Schnappatmungs-Klammergriffen, doch damals, in der absoluten Blütezeit des Sports, hielt die Welt den Atem an. Beim Rumble in the Jungle. Beim Thrilla in Manila. Vielleicht der Beste, ganz sicher aber der Größte.
Aber Muhammad Ali war so viel mehr. Er war die Stimme der Schwarzen in den damals immer noch segregierten USA, die gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung aufbegehrten. Er war die Stimme der Kriegsgegner, die den Einsatz in Vietnam verdammten. Er war die Stimme der Muslime in einer argwöhnischen, weil christlich geprägten Nation.
Die einzigartige Stimme
Und was für eine Stimme er war. Laut, manchmal vorlaut, aber immer packend, in ihren Bann ziehend. Aufrüttelnd, spaltend, manchmal fehlgeleitet. Aber immer im Brustton der Überzeugung vorgetragen. Eine Stimme, die Aufmerksam erregte, Widerspruch provozierte und doch Respekt abnötigte. Und die später, dann schon brüchig und kaum mehr als ein Flüstern, Liebe und Verständnis predigte.
Eben weil Ali es zuließ, dass seine Überzeugungen eine schon in jungen Jahren unglaubliche sportliche Karriere in Mitleidenschaft zogen, war er so viel größer als sein Sport, transzendierte er diesen über Jahrzehnte hinweg. Fast vier Jahre kostete ihn seine Wehrdienstverweigerung 1967, Titel und Millionen Dollar inklusive. Bis heute sind viele Experten der Meinung, dass wir den "besten Ali" gar nicht gesehen haben.
"Gott hat seinen Champion geholt"
Sportlicher Verlust, dazu Druck von Medien und Politik, Anfeindungen aus der Bevölkerung - übrigens auch von vielen Schwarzen. Bis zur von allen Seiten verkehrten Ikone war es ein langer und steiniger Weg, den Ali allen Widerständen zum Trotz bestritt. Wie hohl klingt im Vergleich dazu etwa ein Michael "Republikaner kaufen auch Sneaker" Jordan?
Bis heute aktuell
Krieg, Rassismus, religiöse Konflikte - manchmal muss man sich fragen, ob wir heute wirklich schon so viel weiter sind als damals.
Deshalb ist Alis Vermächtnis so wichtig, auch in Deutschland. Als dreifachen Schwergewichts-Champion solle man sich an ihn erinnern, schrieb er in seinen Memoiren. "Als einen Mann, der für seine Überzeugungen eingestanden ist, was auch passiert ist." Und: "Als einen Mann, der versucht hat, die Menschheit durch Glauben und Liebe zusammen zu bringen."
Da sage noch jemand, das sei heute nicht mehr aktuell. "Schwebe wie ein Schmetterling, stich zu wie eine Biene" - für die meisten von uns wohl unerreichbar. Aber wie wäre es mit "Leide jetzt und lebe den Rest deines Lebens wie ein Champion"?
Der Größte aller Zeiten ist sich immer treu geblieben. Auch seinem Sport, vermutlich zu lange. Nach 32 Jahren hat er den Kampf gegen Parkinson verloren. Doch die Stimme, die sich immer wieder erhob, hörte man auch dann noch, als sie von der Krankheit langsam erstickt wurde. Und deshalb wird sie auch in Zukunft nicht verstummen.