Wer kennt sie nicht, die Geschichte des aufstrebenden Boxers, der sich noch so widrigen Umständen zum Trotz Stück für Stück zu einem besseren Leben kämpft? Der nach ersten Erfolgen mit aggressiven sowie lauten Tönen in Richtung etwaiger Konkurrenten polarisiert, Aufmerksamkeit generiert und als extrovertierter Typ die Sympathien der Fans stets auf seine Seite zieht. Doch es geht auch anders.
"Es ist eine große Ehre für mich, in Potsdam an solch einem Zeitpunkt boxen zu können. Den zweiten Hauptkampf bestreiten und mich vor einem großen Publikum in der Halle und hoffentlich mehreren Millionen Fernsehzuschauern zeigen zu dürfen, macht mich stolz", schlug Stefan Härtel gegenüber SPOX ruhigere Töne an. Der 28-Jährige, der in elf Kämpfen als Profi ungeschlagen ist und auf eine erfolgreiche Amateurkarriere zurückblicken kann, wählt generell eher leise Worte.
Ruhige Töne und ein zweites Standbein
Seine Ziele kennt Härtel dennoch sehr genau, auch wenn das Boxen für ihn kein Aus-, sondern ein sehr bewusst gewählter Berufsweg ist. "Boxen ist für mich eine Leidenschaft. Deshalb spüre ich im Ring eigentlich gar keine große Last auf meinen Schultern, sondern freue mich viel mehr einfach auf die anstehenden Aufgaben", erklärte der gebürtige Brandenburger, der neben seiner Karriere als Profi-Boxer durch ein Lehramtsstudium in den Fächern Sport und Geschichte über ein zweites Standbein verfügt. "Es ist für mich ein Genuss. Druck kann ich mir nur selbst machen."
Die Premiere in Potsdam ist für den Mann aus dem Sauerland-Stall allerdings trotzdem eine besondere Bewährungsprobe. "Es ist mein erster Kampf über zehn Runden, da wird sich natürlich auch zeigen, wie gut es läuft", sagte Härtel, der sich zum ersten Mal in seiner Karriere einem großen Fernsehpublikum präsentieren darf. Es handele sich um einen "Vertrauensbeweis Sauerlands", ist sich Härtel bewusst.
Ein Vertrauen, das der Debütant unbedingt zurückzahlen möchte und das für eine klare Marschroute im Lager des Deutschen sorgt. "Stefan hat sich immer mehr vom Amateur zum Profi entwickelt. Doch sein Gegner in Potsdam soll ein echter Prüfstein werden. Dann werden wir sehen, ob er das Zeug hat, ein ganz Großer zu werden", erklärte Trainer Karsten Röwer die Erwartungen an seinen Schützling, der in der MBS Arena unter anderem vom ehemaligen Fußball-Profi Thomas Häßler Unterstützung erhalten wird.
Ein Schritt nach dem anderen
Härtel erklärte zwar ebenfalls, beweisen zu wollen, dass er für größere Aufgaben bestimmt sei, betonte im Gespräch jedoch, einen Schritt nach dem anderen machen zu wollen: "Ich bin bereit, mich größeren Aufgaben zu widmen. Die Aufbauphase muss jetzt beendet sein. Ich habe mich in den letzten sechs bis sieben Jahren mit der Weltspitze im Amateurlager gemessen und dabei immer zu den besten vier Sportlern in meiner Gewichtsklasse gehört. Das gilt es jetzt im Profilager nachzuweisen. 2017 soll mein Jahr werden! Jetzt wartet aber Rodriguez auf mich, der erstmal geschlagen werden muss."
Sofern alles verläuft, wie geplant, soll es im kommenden Jahr endlich mit einem Titelkampf klappen. "Die Box-Welt dreht sich natürlich immer weiter. Deshalb müssen wir im kommenden Jahr dann erst schauen, wer überhaupt welchen Gürtel trägt", erklärte Härtel, der allerdings bereits Namen im Hinterkopf hat. "Zum Beispiel wäre Giovanni De Carolis ein Gegner, der inzwischen auch in Deutschland sehr bekannt ist. Ein Duell mit Arthur Abraham wäre natürlich ebenfalls eine große Sache. Ich habe vor einigen Wochen meinem Management und meinem Promoter mitgeteilt, dass ich 2017 ausschließlich für große Kämpfe zur Verfügung stehe."
Im gleichen Atemzug betonte Härtel jedoch auch, dass die Jagd nach Titeln für ihn in seiner Karriere nicht über allem steht: "Die aktuelle Titelflut tut dem Boxsport nicht wirklich gut. Ein Titelkampf spricht heute nicht mehr unbedingt für Qualität. Allerdings ist das Publikum auch sehr darauf geeicht, dass es um Gürtel gehen muss, ein Kampf sonst nicht so viel wert sein kann. Das ist schade, denn im Endeffekt geht es doch darum, große Duelle zu sehen. Und die kann und sollte es auch ohne Titel geben. Letztlich geht es noch immer darum, gegen die besten Gegner anzutreten, die es gibt."
Zeuges zweiter Anlauf
In der MBS Arena geht es allerdings nicht nur um die Zukunft Härtels, auch ein Stall-Kollege darf sich über eine große Chance freuen. Passend zum Motto des Abends "Unfinished Business" bekommt Tyron Zeuge die Möglichkeit, einem alten Bekannten dessen Gürtel der WBA im Supermittelgewicht abzunehmen - und zwar im zweiten Anlauf. Bereits vor drei Monaten standen sich der Deutsche und De Carolis in der Berliner Max-Schmeling-Halle im Ring gegenüber. Der Ausgang ließ viele Fragen offen.
Das Urteil der Punktrichter war zwar nachvollziehbar, wirklich zufrieden zeigte sich im Anschluss allerdings weder das Lager des Deutschen noch das des Weltmeisters aus Italien. Ein Punktrichter hatte Zeuge knapp vorne, zwei sahen das Duell jedoch als komplett ausgeglichen an und somit endete das Aufeinandertreffen in Berlin mit einem umkämpften Unentschieden. Zu wenig für beide Seiten.
Der Respekt war dem Youngster aus Deutschland nach der mehr als ordentlichen Vorstellung, die zudem durch eine Verletzung ab Mitte des Kampfes zusätzlich beeinflusst wurde, zwar sicher, den Titel trug jedoch De Carolis bei den Interviews nach dem Kampf um die Hüfte. Ein Bild, das sich nach dem Rückkampf aus Sicht des Deutschen nicht wiederholen soll.
"De Carolis war für Tyron der erste Gegner von diesem Format und er hat ihm, den Umständen entsprechend, einen großen Kampf geliefert", erklärte Zeuge-Mentor Jürgen Brähmer und verwies auf das Handicap seines Schützlings. "Er war ab Mitte des Kampfes durch eine Schulterverletzung gehandicapt. Wie sich Tyron durchgebissen hat, verlangt allerhöchsten Respekt."
Glück im Unglück
Ex-Weltmeister Abraham ging sogar noch einen Schritt weiter und adelte Zeuge auch ohne Titelgewinn kurzerhand. "Zeuge hat den unbedingten Siegeswillen in seinen Genen", lobte der frisch gebackene Vater den Youngster, der durch das Remis gegen De Carolis zwar den 19. Erfolg im 19. Kampf verpasste, allerdings als Profi noch immer ungeschlagen ist.
Da sich die Verletzung Zeuges zudem als weniger schlimm als befürchtet herausstellte, stand einem zeitnahen zweiten Anlauf nichts im Wege. "Beide wollen beweisen, dass sie besser als der andere sind. Ich habe zuletzt Tyron leicht vorn gesehen, doch es fehlte ihm das notwendige Quäntchen Glück. Doch darauf wird er sich im Rematch keinesfalls verlassen wollen", erklärte Kalle Sauerland. "Daher wäre meiner Meinung nach ein Knockout die beste Lösung."
Auch Zeuge ließ keine Zweifel an seinem großen Ziel aufkeimen. "Ich habe im ersten Aufeinandertreffen viel an Erfahrung gesammelt", erklärte der 24-jährige Herausforderer. "Im Juli hat einiges, aber nicht alles gepasst. Aber aus Fehlern lernt man bekanntlich. Dieses Mal will ich mir die WM holen." Sollte nach Vincent Feigenbutz, der De Carolis aktuell als seinen schlimmsten Albtraum bezeichnen dürfte, auch Zeuge scheitern, könnte der Abend vor allem für Härtel nochmals deutlich interessanter werden.