In den Geschichtsbüchern des Boxsports hat sich Ryota Murata schon lange verewigt. Als der Ringrichter im Anschluss an den Kampf des Japaners gegen den Brasilianer Esquiva Falcao im ExCeL Exhibition Centre in London den Arm Muratas in die Höhe streckte, hatte dieser etwas vollbracht, was nur wenige schaffen.
Es war der Moment, in dem all der Druck, der auf seinen Schultern gelastet hatte, abfiel. Murata hatte in einem umkämpften und bis zur letzten Sekunde spannenden Endkampf der Olympischen Spiele des Jahres 2012 die Oberhand behalten und sich zum ersten japanischen Olympiasieger seit 1964 gekrönt.
Zuletzt war dieses Kunststück Takao Sakurai im Bantamgewicht gelungen, als dieser in Tokio die Goldmedaille gewinnen konnte. Durch seinen Triumph im Mittelgewicht wurde er zudem zum ersten Boxer aus dem Land der aufgehenden Sonne, der außerhalb des Bantam- oder Fliegengewichts Edelmetall erringen konnte. Es war der Höhepunkt seiner Karriere - und doch nur ein Zwischenschritt.
Druck als ständiger Begleiter
Nach seinem Triumph auf der Insel stand Murata am Scheideweg. Er entschied sich mit einer Bilanz von 119 Siegen (89 Knockouts) und 19 Niederlagen, den nächsten Schritt zu wagen und wechselte ins Profi-Lager. Schnell mauserte er sich auch dort zum Hoffnungsträger eines ganzen Landes. Der Druck, von dem er sich befreit zu haben schien, war mit einem Schlag wieder da - und größer als jemals zuvor.
"Im Boxen ist es schon immer so gewesen, dass der nächste Kampf einem Sportler ganz neue Wege offenbaren kann. Gleichzeitig kann er aber auch das Ende sein", erklärte Murata nach der Verkündung des Kampfes mit dem Franzosen Hassan N'Dam. Das Duell im Ariake Colosseum, bei dem der reguläre Weltmeister nach Version der WBA im Mittelgewicht ermittelt werden wird, ist für Murata Bestätigung und Prüfung zugleich.
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Nach seinem Wechsel zu den Profis konnte der 31-Jährige, der international von Bob Arum und somit Top Rank sowie in Japan durch Teiken vermarktet wird, zwar zwölf Siege in ebenso vielen Kämpfen feiern und dabei neun Kontrahenten vorzeitig bezwingen. Starke Gegner bekam er bislang jedoch nicht vor die Fäuste. Zweifel weckt dies aber nicht.
"Ich denke, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, als ich mich dazu entschied, nach meinem Sieg bei den Olympischen Spielen in das Profi-Geschäft zu wechseln", erklärte der 1986 in Nara geborene Normalausleger mit einer Reichweite von 188 Zentimetern. "Für mich ist der Kampf gegen N'Dam ein Maßstab. Ich möchte mich beweisen, will ihn schlagen." Druck sei für seine Leistung positiv.
Sollte dem 183 Zentimeter großen Japaner am 20. Mai im Ariake Colosseum tatsächlich der große Wurf gelingen, könnte er erneut Geschichte schreiben und sich zum ersten Weltmeister im Mittelgewicht nach Shinji Takehara, der das Gold der WBA im Jahr 1995 gewinnen konnte, krönen. Und das keine vier Jahre nach seinem Debüt im August 2013 und in einer der bestbesetzten Gewichtsklassen, über die der Boxsport aktuell verfügt. Dass es überhaupt dazu kommen kann, verdankt er auch einem Zufall.
Demut als größte Tugend
Nachdem Murata mit dem Boxen in der Junior High School begonnen hatte, wurde sein Talent zwar schnell entdeckt und vom ehemaligen Olympioniken Hiroaki Takami gefördert. An Erfolgen mangelte es nicht. Dennoch kam zu der positiven Entwicklung auch eine negative. Immer wieder fehlte es Murata an Disziplin, die Folge waren mehrere Niederlagen durch Disqualifikation. Auch abseits des Seilgevierts hatte der Youngster Konzentrations- und Motivationsprobleme.
Erst eine Reise nach Thailand brachte ihn wieder auf Kurs. Murata erlebte eine andere Welt. In welch einfachen und teils auch chaotischen Rahmenbedingungen Kämpfer aller Altersklassen dort trainierten, öffnete ihm die Augen.
Trotz der schwierigen Umstände gaben die Nachwuchsathleten, die neben dem Boxen vor allem im Mixed-Martial-Arts-Bereich anzusiedeln sind, bei jeder Einheit alles. In einem Gym, sofern dieses überhaupt die Bezeichnung verdient hatte, zu trainieren, bedeutete für sie die Welt. Für Murata war es eine wichtige Lektion.
Er entwickelte sich weiter rasant, verlor allerdings nie wieder die nötige Demut. Murata krönte sich fünf Mal zum Japanischen Meister. Neben dem Olympiasieg konnte er ein Jahr zuvor in Baku die WM-Silbermedaille gewinnen und belegte zudem beim President's Cup 2011 in Jakarta den ersten Rang.
Abseits des Rings schlug er seit jeher eher ruhige Töne an. Murata ist seit 2010 verheiratet, ein Jahr später kam sein Sohn zur Welt. Im Zentrum seines Lebens stand aber weiterhin der Boxsport. Den Kampf gegen N'Dam sieht er als Chance, seinem Umfeld etwas zurückzugeben. "Als ein Goldmedaillengewinner hatte ich immer große Unterstützung an meiner Seite. Der Kampf ist für mich auch eine Chance, meinem Team und allen, die an mich glauben, etwas zurückzuzahlen", erklärte der 31-Jährige, der in seiner Heimat auch aufgrund seines Auftretens und dem Aussehen eines Filmstars viele Fans gewinnen konnte.
Ein Krieg wartet
Ein Selbstläufer wird der Kampf um das Gold der WBA aber trotz des Heimvorteils nicht. N'Dam, der bislang in 37 Kämpfen 35 Siege einfahren konnte, hat nicht nur 21 Knockouts auf seinem Konto, sondern verfügt mit 249 Runden über ein ganze anderes Erfahrungslevel. Murata, der von Sendai Tanaka trainiert wird, stand noch in keinem Kampf über zwölf Runden und kann bislang nur 65 Runden vorweisen.
Ein weiterer Vorteil des Franzosen ist seine Fähigkeit, einstecken zu können. Etwas, das bei Murata unklar ist. N'Dam kann allerdings nicht nur Schläge wegstecken, sondern im Gegenzug auch austeilen. Der 33-Jährige ist ein starker Puncher, sein Knockout-Sieg gegen Alfonso Blanco, den er nach 22 Sekunden in der ersten Runde feiern konnte, wurde gar zum Knockout des Jahres 2016 gekürt.
Trotz der vermeintlichen Vorteile weiß N'Dam aber um die Schlagstärke sowie technischen Fähigkeiten seines Gegners und gab sich unlängst zurückhaltend. "Ich denke, dass Murata ein sehr starker Kämpfer ist - und er ist unheimlich effizient. Außerdem hat er durch seinen Sieg bei den Olympischen Spielen bereits bewiesen, dass er boxen kann", erklärte der Franzose, der aktuell Träger des Interims-Titels der WBA ist. Dieser wird allerdings im Zuge des Kampfes für vakant erklärt. Auf dem Spiel steht stattdessen der reguläre Gürtel des Verbandes. Der frühere Titelträger, Daniel Jacobs, hatte diesen im Kampf gegen Super-Champion Golovkin verloren. Danach wurde der Gürtel vom Verband vakantiert.
Eine Kampfansage konnte er sich trotz allem Respekt aber nicht verkneifen: "Er wird ein großartiger Gegner sein. Ich bin bereit, ihm einen Krieg zu liefern."
Murata muss seine Stärken speziell in der mittleren Distanz derweil voll ausspielen. Dass er variabel Kopf sowie Körper des Gegners mit Treffern eindecken kann, hat er bereits bewiesen. Er schlägt wie ein Schwergewichtler, seine enge Deckung ist überdurchschnittlich und er hat die nötige Geduld.
Vor allem der Kopf muss aber mitspielen. Einblicke in seine Marschroute lieferte er bereits. "N'Dam nutzt seinen Jab sehr viel und er kann sich über die gesamte Dauer eines Kampfes sehr gut bewegen. Deshalb wird es für mich wichtig sein, ihn damit nicht durchkommen zu lassen. Ich werde versuchen, den Kampf so zu gestalten, dass ich an ihm dran bin. Ich glaube, dass ich im Infight deutlich besser bin als er", sagte Murata. Er wolle "wie in seinen bisherigen Kämpfen agieren". Bislang glänzte er neben seiner Power mit einer exzellenten Ausdauer. Weiteren Ansporn zieht er aus der Vergangenheit.
Blick in die Zukunft
"Ich bin ein Fan von Felix Trinidad und Bernard Hopkins, deshalb motiviert es mich zusätzlich, dass ich um den Gürtel boxen kann, den beide schon um ihre Hüften trugen", schilderte Murata. "Natürlich bin ich auch bei einem Sieg nicht auf einem Level mit ihnen, aber ich wäre auf einem guten Weg."
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Als Belohnung für einen Erfolg dürfte nämlich ein Kampf winken, der ihn in diese Sphären bringen könnte. Da der Sieger des Duells der reguläre Weltmeister der WBA sein wird, scheint ein Aufeinandertreffen mit Golovkin, mit dem er bereits mehrfach zum Sparring im Ring stand, greifbar. Die K.o.-Maschine aus Kasachstan befindet sich laut Murata "allerdings noch nicht in meinem Kopf".
Eine andere Aussage wäre im Hinblick auf den Showdown nicht nur untypisch, sondern auch vermessen gewesen. Schließlich steht mit N'Dam ein Test an, der einiges über die Zukunft Muratas zeigen wird.