Was in Brasilien die Liebe zum Fußball und in den USA die Liebe zum Baseball ist, ist in Kuba das Boxen. Das Duell Mann gegen Mann ist ein Volkssport: 37 Goldmedaillen gewann der Karibik-Staat bisher bei Olympischen Spielen, so viele wie kaum ein anderes Land. Die Faustkämpfer werden auf den Straßen von Havanna gefeiert und als Helden verehrt.
Einer dieser Helden war Guillermo Rigondeaux. "El Chacal", so sein Kampfname, galt schon zu seinen Anfängen als kommender Superstar. Mit gerade einmal 20 Jahren gewann er im Jahr 2000 zum ersten Mal Olympisches Gold, vier Jahre später in Athen zum zweiten Mal. Mehrfach kürte sich der nur 1,64 Meter große Rechtsausleger zum kubanischen Meister im Bantamgewicht (bis 53,5 Kilo). Von sagenhaften 463 Amateurkämpfen verlor er lediglich zwölf.
Ja, Rigondeaux war so etwas wie das Aushängeschild der kubanischen Sportkultur. Jemand, den nicht nur die einfachen Bürger bewunderten, sondern der auch die volle Anerkennung von Staatspräsident Fidel Castro sicher hatte.
Bis zu diesem einen Abend im Juli 2007.
Diesem Abend, der das Leben des damals 27-Jährigen vollkommen verändern sollte - und der zu einem der größten Sport-Skandale der jüngeren Geschichte Kubas führte.
Rigondeaux setzt sich in Brasilien ab
Aber der Reihe nach: Rigondeaux nahm damals an den Panamerikanischen Spielen in Rio de Janeiro teil. Mit seinem 104. Sieg in Folge kämpfte er sich vor bis ins Viertelfinale, ein Ende der Erfolgsserie war nicht in Sicht.
Doch während sich die gegnerische Mannschaft für den Viertelfinal-Fight bereit machte, fehlte von Rigondeaux noch wenige Minuten vor dem ersten Glockenschlag jede Spur. In der Veranstaltungshalle? Im Trainingsraum? In der Umkleide? Nirgends war der 1,64 Meter große Favorit zu finden. Wie vom Erdboden verschluckt, sorgte er mit seinem Nichterscheinen für seine erste Niederlage seit Ewigkeiten.
Was zu diesem Zeitpunkt niemand im kubanischen Lager wusste: Rigondeaux und sein Teamkollege Erislandy Lara waren bei einem Discobesuch in Rio untergetaucht. Statt wie geplant in die kommunistische Heimat zurückzukehren, unterschrieb das Duo beim Hamburger Boxstall Arena Box-Promotion einen Profivertrag. Statt weiter das Leben eines einfachen Amateurboxers zu führen, winkte in Deutschland nun das große Geld.
Fidel Castro spricht von "deutscher Mafia"
Pikant: Die Hamburger um ihren berüchtigten Besitzer Ahmet Öner hatten nur kurz zuvor bereits drei weitere kubanische Amateurboxer unter Vertrag genommen. Ein Geschäft, an dem im vermeintlichen Idealfall nicht nur die jungen Sportler und europäischen Promoter verdienen, sondern auch Fluchthelfer und Schlepperbanden in Mittelamerika.
"Ich habe die Lebensphilosophie eines Rebells und wollte helfen", erzählt Öner im Gespräch mit SPOX: "Ich muss mich dafür nicht rechtfertigen, weil wir das Richtige wollten. Die Fehler machten Castro und sein antidemokratisches Regime, das die Freiheit der Menschen einschränkte."
Als Kuba von dem Vorhaben Wind bekam, sprach Castro wutentbrannt von der "deutschen Mafia", die "sich der Auswahl, des Kaufes und der Förderung kubanischer Boxer bei internationalen Turnieren" annehme und "raffinierte psychologische Methoden und viele Millionen Dollar" benutze, um diese anzulocken.
Den Arena-Pressesprecher Malte Müller-Michaelis beschimpfte er als "kapitalistischen Piranha", wie dieser gegenüber SPOX berichtet: "Ich fand das lustig, Sorgen hatte ich deswegen nicht. Aber ich hätte zu der Zeit auch nicht auf Kuba Urlaub gemacht." Es sei "eine wilde und verrückte Zeit" gewesen, so Müller-Michaelis weiter: "Man sagte damals, dass Rigondeaux mehr Profiverträge als Autogramme unterschrieben hatte."
Der zweite Fluchtversuch von Rigondeaux gelingt
Doch der Plan der Flüchtigen ging nicht auf: Nachdem ihr brasilianisches Visum abgelaufen war, nahm die Polizei Rigondeaux und Lara fest. Anstatt aber einen Asylantrag zu stellen, ließ sich das Box-Duo ohne Gegenwehr nach Kuba ausliefern. Angeblich, so berichteten die beiden, hätten sie nie vorgehabt zu fliehen, sondern wurden beim Kauf eines Videospiels gekidnappt und unter Drogen gesetzt.
So oder so war von Castros Bewunderung gegenüber Rigondeaux nichts mehr übrig. Zwar versprach der Diktator in der Juventud Rebelde, "diese Bürger mit keiner Art von Festnahme" zu empfangen, sondern ihnen "ehrenvolle Aufgaben" zu geben, "die ihren Fähigkeiten und Erfahrungen entsprechen und dem Sport zugute kommen werden".
Gleichwohl verhängte Castro über die vermeintlichen Übeltäter aber ein lebenslanges Berufverbot. Um über die Runden zu kommen, verkaufte Rigondeaux seine Pokale und Goldmedaillen. Ein tristes Leben, dass er zwei Jahre lang führte - bis er seinen Mut erneut zusammennahm und einen zweiten Fluchtversuch startete.
Diesmal mit Erfolg: Im Februar 2009 gelang ihm mit einem Schnellboot über den Golf die Flucht nach Mexiko, von dort aus ging es weiter nach Miami. Seine Frau und seine zwei Söhne zurückgelassen, schlug sich nun ein neues, gänzlich anderes Kapitel im Leben des Schakals auf.
Rigondeaux: ungeschlagener Profiboxer
Er wurde bei Caribe Promotions unter Vertrag genommen, nachdem Öner seine Anteile verkauft hatte, und absolvierte am 22. Mai desselben Jahres seinen ersten Profikampf. Den gewann er durch Technischen K.o. gegen den US-Amerikaner Juan Noriega, sein erster von bislang 17 Siegen in 17 Profikämpfen. 2010 schnallte er sich seinen ersten WM-Gürtel um.
Nun, in der Nacht zum kommenden Sonntag, steht für den Superbantam-Weltmeister der WBA und WBO Duell Nummer 18 an. Gegen den Weltmeister Vasyl Lomachenko dürfte die Aufgabe ungleich schwerer werden. Doch eines ist sicher: Seinen schwierigsten Kampf - den um sein Leben und seine Freiheit - hat Rigondeaux bereits erfolgreich hinter sich.