Dass viele auf diese Sensation nicht vorbereitet waren, zeigte sich schon wenige Minuten nach dem Kampf. Völlig fassungslos und geschockt saß Joshuas Betreuerteam am Rande des Boxrings, nachdem ihr Schützling in Runde sieben zum vierten und letzten Mal von Ruiz Jr. zu Boden geschickt wurde und Ringrichter Mike Griffin den Kampf endgültig für beendet erklärte.
Ist man im Boxsport nach Niederlagen normalerweise offensive Erklärungsversuche und Kampfansagen gewöhnt, zeigten sich Joshua und sein Team beinahe schon erschreckend kleinlaut und zurückhaltend. "Das wird für immer in Erinnerung bleiben. Das wird ihn hart treffen. Manche Boxer verlieren und kämpfen sich zurück, andere erreichen danach nie wieder diese Level", sagte AJ-Promoter Eddie Hearn nach dem Kampf.
Noch schockierender als der Verlust all seiner Schwergewichts-Titel war für Anthony Joshua an diesem Abend nämlich etwas anderes: der Verlust seiner Unbesiegbarkeit. 22 Siege in 22 Kämpfen - und nun gefällt von einem "kleinen fetten Kind", wie Ruiz Jr. sich selbst gerne bezeichnet.
Joshua im Kampf gegen Ruiz Jr.: "Warum fühle ich mich so?"
Schon während des Kampfes wirkte AJ teils benommen, fast schon verwirrt. So fragte er seinen Trainer Rob McCracken am Ende der fünften Runde: "Welche Runde ist das?", ehe er am Ende der sechsten, aus der Nase blutend, seinen auf ihn einredenden Coach fragte: "Warum fühle ich mich so?"
"Anthony Joshuas Unbesiegbarkeit ist Geschichte, was ihn nun zu einem normal Sterblichen macht", sagte Ex-Weltmeister David Haye später bei BBC Radio 5 Live. "Jetzt wissen andere Herausforderer wie sie gegen ihn bestehen können."
Dabei sprach Haye einen nicht zu unterschätzenden Punkt an. Die Kritik von Zuschauern und Fans kann vernichtend sein - und unter jeder noch so steinharten Fassade eines Boxers kann eben doch ein verletzlicher Mensch stecken.
Als George Foreman beispielsweise im "Rumble in the Jungle" 1974 gegen Muhammad Ali verlor, gestand er später ein, in dieser Nacht einen Teil seiner Männlichkeit eingebüßt zu haben.
Anthony Joshua: Mehr Tyson oder mehr Klitschko?
Dass dem 29-jährigen Joshua nun ein ähnliches Schicksal widerfährt wie einst Mike Tyson, der nach seinem verlorenen Kampf gegen Buster Douglas 1990 seinen Nimbus der Unbesiegbarkeit verlor und danach nie wieder ganz zu alter Stärke zurückfand, ist selbstverständlich nicht in Stein gemeißelt.
Jüngere Beispiele zeigen, dass sich erstmals geschlagene Boxer von einer solchen Niederlage erholen können. Man erinnere sich nur daran, wie Corrie Sanders Wladimir Klitschko 2003 sensationell auf die Bretter schickte. Trotzdem folgte eine Dekade Dominanz im Schwergewicht für den jüngeren Klitschko-Bruder.
Auf eine derartige Karriere hofft der Promoter des Ex-Champions zweifellos. Zuerst jedoch muss die unerwartete Schlappe in einem Rückkampf ausgemerzt werden. "Im November oder Dezember" soll das Rematch steigen, sagte Hearn, diesmal mit Heimvorteil für Joshua in Großbritannien. Dann werde man einen anderen Joshua erleben: "AJ wird zurückkehren, zu 100 Prozent."
Ruiz Jr. über Rückkampf: "Möchte wie AJ aussehen"
Sehr viel euphorischer war die Gemütslage verständlicherweise bei Andy Ruiz Jr. Zwar dachte sich auch dieser nach seinem ersten Knockdown in Runde drei "Was zur Hölle ist gerade passiert?", jedoch wusste der 29-Jährige, "dass ich zurückschlagen muss. Da ist mein mexikanisches Temperament dann mit mir durchgegangen."
Schließlich habe er beim Champion Schwächen ausgemacht. "Ich wartete darauf, dass er aus der Deckung kam, um ihn dann am Körper zu attackieren. Er schlägt ziemlich hart, aber ich hatte das Gefühl er öffnet die Deckung zu häufig. Schon vor dem Kampf wusste ich, dass ich ihn schlagen kann. Meine Beweglichkeit und meine Geschwindigkeit waren zu viel für ihn", sagte Ruiz Jr. sichtlich erleichtert. "Ich habe so hart gearbeitet. Ich wollte die ganzen Kritiker und Zweifler Lügen strafen."
Für den Rückkampf hat der Mexikaner auch schon Pläne: "Nun möchte ich in Form kommen, um wie AJ auszusehen. Ich werde ins Fitnessstudio gehen und noch härter trainieren. Jetzt als Champion bin ich so motiviert wie nie." Situps statt Snickers.