23. Juli 1984. In den frühen Morgenstunden wird die Kriminalpolizei in eine Villa am Rand des Grunewalds gerufen. Die Beamten finden neben der Gästetoilette liegend eine tote Frau mit einem Kopfschuss und einen Mann, der vom Alkohol gezeichnet apathisch durch das Anwesen wankt.
Auf einer Kommode entdeckt die Polizei eine Schachtel Patronen, in einem Schrank ein Gewehr, die Tür zur Gästetoilette weist ein Einschussloch auf. Die Szenerie lässt nur einen Schluss zu: Die Box-Ikone "Bubi" Scholz, damals 54 Jahre alt, hat am Vorabend seine fünf Jahre jüngere Frau Helga erschossen.
Die Medien stürzen sich auf die Geschichte, die Tagesschau berichtet über die Tragödie, viele Berliner sind erschüttert. Ausgerechnet ihr "Bubi" hat seine große Liebe Helga getötet, an deren Seite er zu dem deutschen Box-Idol neben Max Schmeling aufgestiegen ist. Wie konnte er nur so tief fallen?
Scholz: Boxen als "Aufbau einer Lebensphilosophie"
Um den Aufstieg und Absturz von Scholz zu begreifen, muss man ganz vorne anfangen. "Bubi", wie er aufgrund seines jungenhaften Gesichts und seiner damals hageren Statur genannt wurde, wuchs als Sohn eines Schmieds und einer Hausfrau als eines von sieben Kindern im Prenzlauer Berg auf.
Trotz des Krieges verlief seine Jugend größtenteils nicht unglücklich. Scholz lernte Mechaniker und ließ sich zum Koch ausbilden, ehe der Besuch eines Tanzabends mit einem Kumpel eine schicksalhafte Wende in seinem Leben einläutete.
Das Duo wurde von einem Jugendlichen angepöbelt. Scholz' Freund hielt als Hobby-Boxer nicht viel von langen Diskussionen und schickte den Störenfried mit einer Rechten in den Dreck. "Bubi" war begeistert - und trat einem Boxverein bei.
"In den ersten Jahren war für mich das Boxen der Aufbau einer Lebensphilosophie", sagte Scholz später: "Mir ging es wie vielen anderen, die in derselben Zeit in dieser Ruinenstadt aufgewachsen sind, mit nichts angefangen haben und sich aus dieser Situation heraus entwickelt haben."
Göttert: "Scholz ist wie Schmeling"
Von den rasanten Fortschritten angetrieben trainierte Scholz wie besessen. Er war im Ring kein Draufgänger, kam stattdessen über seine ungeheure Beweglichkeit und ein taktisches Verständnis, das zu dieser Zeit in den heruntergekommenen Berliner Boxhallen seinesgleichen suchte. Gleichzeitig war der Rechtsausleger in der Lage, harte Treffer zu setzen.
Im Oktober 1948 hängte Scholz mit seinen damals 18 Jahren den Kochlöffel an den Nagel und bestritt seinen ersten Kampf als Berufsboxer, ohne zuvor jemals als Amateur angetreten zu sein. Der mehrfache deutsche Jugendmeister Horst Eichler bekam dabei eine derartige Tracht Prügel ab, dass er aufgrund seiner Verletzungen seine Hochzeit verschieben musste.
"Scholz ist wie Schmeling", frohlockte schon bald der Boxveranstalter Joachim Göttert: "Mit kalter Taktik wartet er auf seine Chance. Da können zehn Runden stinken, wie wir sagen. Wenn in der elften Runde das entscheidende Ding voll trifft, ist alles in Ordnung."
Schock-Diagnose Lungentuberkulose
Von nun an ging es Schlag auf Schlag. Scholz krönte sich zum deutschen Meister im Weltergewicht, verteidigte seinen Titel mehrfach und wechselte anschließend ins Mittelgewicht. In seinen ersten 69 Kämpfen blieb er ohne Niederlage.
Er lebte sportlich und privat äußerst diszipliniert und war obendrein klug, was ihn im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen davor bewahrte, von windigen Promotern aufs Kreuz gelegt zu werden. So wurde bereits in den ersten Jahren ein ordentlicher Batzen Geld in die Kasse gespült.
Erst 1955 musste Scholz den ersten herben Dämpfer verkraften, als bei ihm eine Lungentuberkulose diagnostiziert wurde. Die Ärzte erklärten seine Karriere für beendet, doch Scholz dachte nicht ans Aufgeben, begab sich unter falschem Namen in eine Klinik im Schwarzwald und erholte sich. Bereits damals stets an seiner Seite: Seine Frau Helga, die ihn auf menschlicher Ebene stützte und als seine Managerin fungierte.
Scholz: Der endgültige Aufstieg zum Superstar
Im Juni 1957 schaffte Scholz das nicht für möglich gehaltene Comeback. Er krönte sich zum deutschen Meister im Mittelgewicht und setzte sich ein Jahr später durch einen Sieg gegen den Franzosen Charles Humez die Krone des Europameisters auf.
Nun waren "Bubi" und Helga ganz oben angekommen. Sie galten als Traum- und Glamour-Paar, als Lieblinge der Berliner Gesellschaft, die auf keiner Party fehlen durften. Damalige Stars wie die Schauspielerin Romy Schneider oder der Entertainer Harald Juhnke gehörten zum Freundeskreis.
Scholz fuhr teure Autos, besang Schallplatten mit Schlagern wie "Sie hat nur Blue Jeans", spielte Rollen in Filmen wie "Marina" und wurde in Talkshows eingeladen. Das Ehepaar besaß Parfümerien und eine Werbeagentur.
Schmeling: "Kein Stern hat so hell gestrahlt"
Die Geschäfte liefen blendend, was auch für das Boxen galt. "In Hamburg, Frankfurt, Köln, Wien oder Berlin genügt der Name Scholz auf dem Programm, um einen unwiderstehlichen Sog an die Kassen herbeizuführen", schrieb das Fachblatt Box-Sport.
Scholz hatte bei Sportfans ein ähnliches Standing wie die Mitglieder der Fußball-Nationalelf, die 1954 in der Schweiz sensationell Weltmeister geworden waren. Selbst bei dem Teil der Gesellschaft, der sich nicht für Sport interessierte, genoss er aufgrund des Glamour-Faktors eine ähnliche Popularität wie der damalige Berliner Bürgermeister und spätere Bundeskanzler Willy Brandt.
"Kein Stern hat in Deutschland in den Jahren nach dem Kriege so hell gestrahlt wie der des Gustav Scholz", sagte der frühere Schwergewichtsweltmeister Schmeling.
Scholz: Erster WM-Kampf auf deutschem Boden
Der 23. Juni 1962 sollte eigentlich der Tag der absoluten Krönung für Scholz werden. Er trat vor 54.000 Zuschauern im Berliner Olympiastadion zum ersten WM-Fight der Historie auf deutschem Boden an. Nach Schmeling (1930) und Adolf Heuser (1933) war er der erst dritte deutsche Boxer, der überhaupt einen Kampf um einen WM-Titel bestreiten durfte.
Der Gegner: Halbschwergewichts-Champion Harold Johnson aus den USA. Scholz' Gage: Für damalige Verhältnisse satte 100.000 Mark. Um den Ring herum war die deutsche Prominenz platziert, von Schmeling über Juhnke bis Brandt.
Scholz lieferte Johnson einen ausgeglichenen Kampf über 15 Runden, musste sich letztlich aber nach Punkten geschlagen geben. "Du bist nicht König geworden, hast aber das Schloss gesehen", rang Schmeling etwas ungeschickt nach tröstenden Worten. Nicht ahnend, dass die verpasste Chance Scholz sein Leben lang nicht wieder loslassen würde.
Wilde Partys mit "Bullshit"
Dabei tat die Niederlage auch in den ersten Jahren nach dem Karriereende 1964 Scholz' Popularität keinen Abbruch. Der Mann, der mit einer Kampfbilanz von 88 Siegen, sechs Unentschieden und zwei Niederlagen abgetreten war, gehörte gemeinsam mit Frau Helga nach wie vor zur High Society in West-Berlin.
Allerdings änderten sich die Gepflogenheiten. Das kinderlose Ehepaar Scholz gab zunehmend wildere Partys in seiner Villa, bei denen neben Champagner und Whisky der Cocktail "Bullshit" (klare Fleischbrühe mit Wodka) eine zentrale Rolle spielte. Kurzum: "Bubi" und Helga entwickelten ein immer ungesünderes Verhältnis zum Alkohol.
Diese Situation verschlimmerte sich, als Scholz' Strahlkraft im Laufe der Jahre immer mehr nachließ. Zwar liefen die Geschäfte nach wie vor gut, doch Einladungen zu Feiern der feinen Gesellschaft blieben allmählich aus.
Scholz auf dem Weg nach unten
Scholz zog sich immer mehr zurück, wurde depressiv. Er saß in seinem kleinen Privat-Kino im Keller seiner Villa, trank, schluckte Tabletten und schaute sich die Aufnahmen seiner größten Kämpfe an.
Vor allem der WM-Fight gegen Johnson lief in Dauerschleife. Der Berliner haderte mit dem Ausgang des Duells, konnte sich die liegengelassene Chance, zu Weltruhm zu gelangen, einfach nicht verzeihen.
Die Beziehung zwischen Scholz und seiner Frau bröckelte, auch wenn das Bild vom Traumpaar als Fassade für Außenstehende bestmöglich gewahrt wurde. Helga verschärfte die Situation mit häufigen Sticheleien.
Als "Bubi" 1980 mit seinen Memoiren, dem Buch "Der Weg aus dem Nichts", einen letzten Versuch unternahm, an glorreiche Zeiten anzuknüpfen, spottete Helga: "Das nächste Buch schreibe ich. Mein Leben mit dem Nichts."
Scholz wird zu drei Jahren Gefängnis verurteilt
Vier Jahre später folgte der verhängnisvolle Sonntag, an dem Helgas Leben enden und "Bubis" zerstört werden sollte. Das Ehepaar trank den ganzen Tag über und stritt sich fürchterlich, was Augenzeugen später bestätigten.
Wie oft in solchen Momenten zog sich Helga auf die Gästetoilette zurück und schloss sich ein. Scholz nahm irgendwann am Abend des 22. Juli 1984 ein Gewehr, drückte ab und traf Helga durch die Tür am Kopf.
Da Scholz kein eindeutiger Tötungsvorsatz nachgewiesen werden konnte, wurde er im Februar 1985 milde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Nach seiner Haftentlassung heiratete Scholz noch einmal, kam aber nie wieder richtig auf die Beine.
Scholz stirbt im Pflegeheim
"Es gibt zwei Worte in der deutschen Sprache, die am häufigsten missbraucht werden: Liebe und Freundschaft", sagte Scholz 1988 bei einem seiner letzten TV-Auftritte voller Verbitterung.
Am 21. August 2000 starb "Bubi" Scholz im Alter von 70 Jahren als kranker, gebrochener Mann in einem Pflegeheim in Neuenhagen.