Am Tag nach seiner Goldfahrt saß Tony Martin schon wieder auf dem Rad. Mit jener Besessenheit, mit der er König Fabian Cancellara bei den Weltmeisterschaften in Kopenhagen vom Thron gestoßen hatte, nahm er seine Arbeit am Donnerstag wieder auf. Die Feier am Abend zuvor war kurz ausgefallen. Ein Gläschen Champagner, ansonsten stand Selters auf der Getränkekarte des dritten deutschen Zeitfahr-Weltmeisters nach Jan Ullrich und Bert Grabsch. Einen weltmeisterlichen Empfang hatte es aber sehr wohl gegeben. Als Martin zum Bankett erschienen war, erhob sich der komplette Saal zu Standing Ovations.
In der Stunde des größten Triumphes dachte Martin aber bereits an seine nächsten Ziele. "Einmal Weltmeister zu werden, ist einfach. Die hohe Kunst besteht darin, den Titel zu wiederholen, wie es Fabian geschafft hat", sagte der 26-Jährige, der mit über einer Minute Vorsprung - eine halbe Ewigkeit im Radsport - vor dem Briten Bradley Wiggins und eben Cancellara in seiner Spezialdisziplin triumphiert hatte.
"War die Generalprobe für London"
Die Olympischen Spiele 2012 sind nun das große Ziel des in Cottbus geborenen Wahl-Schweizers. "Kopenhagen war die Generalprobe für London. Die Voraussetzungen sind mit einer dreiwöchigen Rundfahrt als Vorbereitung ähnlich, auch wenn der Ergebnisdruck bei der Tour nächstes Jahr ein anderer ist. Ich muss mir nun einen guten Plan für die nächste Saison und die nächsten Jahre machen", ergänzte Martin mit Blick auf den nächsten Karriere-Höhepunkt.
Denn Cancellara will nächstes Jahr zurückschlagen. "Ich bin keine Maschine und war nicht bei 100 Prozent. Aber Roger Federer gibt doch auch nicht auf, nur weil Nadal, Djokovic oder Tsonga da sind. Das ist jetzt die Herausforderung", erklärte der Schweizer, der nicht sehr glücklich dreinschaute, als Martin sagte, dass ein dritter Platz ein gutes Ergebnis sei.
Martin versus Cancellara - dieses Duell wird in den kommenden Jahren den Radsport im Zeitfahren wohl weiter bestimmen. Von einer neuen Ära wollte keiner der beiden sprechen. Er habe nun seinen Weg gefunden. Im Kampf gegen die Uhr will Martin seine Erfolge feiern, von einer Top-Platzierung bei der Tour de France hat er "nach all den Enttäuschungen" vorerst Abschied genommen. Die Entscheidung, sich ganz auf das Zeitfahren zu konzentrieren, habe enormen Druck erzeugt: "Wäre das hier in die Hose gegangen, wäre ich wieder ins Zweifeln gekommen."
Aldag: "WM-Titel als Initialzündung"
Zweifeln muss er nun nicht mehr. "Jetzt kann er eine Sache mal abhaken", sagte sein Sportdirektor Rolf Aldag, der ihm womöglich auch zum neuen Team Omega Pharma-Quick-Step folgen wird. "So ein WM-Titel kann auch eine Initialzündung sein und die Karriere weiter anschieben."
Ein Schlüsselmoment in dieser Saison sei für Martin die Traditions-Rundfahrt Paris-Nizza gewesen, die er im Frühjahr erstmals gewann. "Danach konnte die Saison nicht mehr schlecht laufen", betont Martin, der in dieser Saison sieben seiner neun Siege im Zeitfahren holte. "Dass ich dann alles abgeschossen habe, hat mich noch selbstbewusster gemacht."Mit diesem Selbstbewusstsein will er nun seinen neuen Job in Belgien antreten. In den Vertragsverhandlungen hat er sich alle Freiheiten einräumen lassen. Eine Schlüsselrolle bei der Tour muss er nicht einnehmen, kann er aber, was ihm recht ist: "Vielleicht klappt es druckfrei ja eher mit einer Top-Ten-Platzierung."