Nach dem Karriereende aus dem Bilderbuch übernahm Tony Martin unter dem Beifall des großen Eddy Merckx noch einmal Verantwortung. Auf dem dicht gedrängten WM-Podium in Brügge verteilte der deutsche Radprofi die Goldmedaillen an die stolzen Teamkollegen einfach selbst. Dann legte er die Arme um die Schultern der Olympiasiegerinnen von Tokio und ließ bei der Nationalhymne gerührt den Blick schweifen.
"Ich hätte mir keinen schöneren Abschied wünschen können", sagte Martin. Mit dem Gewinn von WM-Gold im Mixed-Wettbewerb hatte sich Martin einen letzten Traum erfüllt und gebührend in den Radsport-Ruhestand verabschiedet. Sogar Belgiens Rad-Legende Merckx war gekommen, um einen der besten Zeitfahrer des vergangenen Jahrzehnts zu verabschieden.
Martins Dank galt aber anderen. "Ich bin dem Team sehr dankbar, speziell den Frauen. Sie haben den Unterschied gemacht. Jetzt ist es Zeit zu feiern", sagte Martin, der auch angesichts des Zuspruchs des belgischen Publikums "wehmütig" wurde: "Ich wurde so herzlich empfangen und auch verabschiedet. Es bedeutet mir fast mehr als die Goldmedaille."
Das finale Rennen seiner Laufbahn war für Martin zur Triumphfahrt geworden. Nach insgesamt 44,5 km siegte er an der Seite von Max Walscheid (Neuwied), Nikias Arndt (Buchholz) sowie den Bahn-Olympiasiegerinnen Lisa Brennauer (Durach), Lisa Klein (Saarbrücken) und Mieke Kröger (Bielefeld) in 50:49 Minuten. Das Podium komplettierten die Teams aus den Niederlanden (+0:13 Minuten) und Italien (+0:38).
Martin-Karriereende als Motivationsspritze: "Eine Legende" tritt ab
Martins Teamkollegen waren sich der Besonderheit des Rennens bewusst - und extra motiviert. "Es ist eine Legende, die hier abtritt", hatte Walscheid vorab gesagt: "Er ist einer der ganz überragenden Zeitfahrer der letzten zehn Jahre." Klein sprach von einer "Ehre, mit ihm sein letztes Rennen zu fahren."
Vor diesem wirkte Martin hochkonzentriert. Fokussiert rückte er sich den futuristischen Zeitfahrhelm zurecht, dann startete in die letzten 22,5 km der Karriere - so lang war der Kurs bis zum Wechsel zu den Frauen in Brügge.
Das Männer-Trio um Martin startete als drittletztes Team und lag früh auf Medaillenkurs. Ihre Teilstrecke absolvierten die Männer in 24:37 Minuten, dann übernahmen die Frauen für den Rest des Rennens.
Während Brennauer und Co. den Kampf um die Medaille aufnahmen, fiel Martin seinen männlichen Kollegen zufrieden um den Hals. Dann beobachteten sie das Rennen der Frauen - und wurden nicht enttäuscht. Brennauer und Co. harmonierten bestens und schoben sich an die Spitze. Als die Goldmedaille feststand, brach ein Riesenjubel bei Martin aus. Vor der Siegerehrung baten auch Fahrer anderer Nationen den Deutschen um ein Abschiedsfoto.
Martin blickt auf eine überaus erfolgreiche Zeit im Radsport zurück. Er wurde unter anderem viermal Weltmeister im Einzelzeitfahren (2011 bis 2013, 2016). 2012 in London war er Olympiazweiter. Zehnmal triumphierte er bei den deutschen Meisterschaften. Bei der Tour de France gewann er fünf Etappen, 2015 trug er vorübergehend das Gelbe Trikot.
In Martin verliert der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) aber nicht nur einen seiner erfolgreichsten Fahrer des letzten Jahrzehnts. Es verabschiedet sich auch eine wichtige Persönlichkeit.
Martin hatte sich in den vergangenen Jahren einen exzellenten Ruf im Peloton verdient, nicht zuletzt als Kritiker und Mahner für bessere Sicherheitsvorkehrungen. Das Wort des Wahl-Schweizers hatte Gewicht.