Remco Evenepoel hielt auf dem Podest die Hand aufs Herz und den Regenbogenstreifen auf seiner Brust. Als dem 22 Jahre alten Radsport-Shootingstar im Weltmeistertrikot sein Coup so richtig bewusst wurde, blickte einer seiner größten Rivalen betrübt und frustriert dem Gang vor Gericht entgegen.
Ein Skandal um den Niederländer Mathieu van der Poel, der wie Evenepoel zu den Top-Favoriten gezählt hatte, überschattete das turbulente Straßenrennen der WM in Australien. Van der Poel hatte weite Teile der Nacht zu Sonntag nach einer Auseinandersetzung mit lautstarken Teenagern auf einer Polizeiwache verbracht. Der geplante Angriff auf den WM-Titel - unmöglich.
Dagegen trumpfte Evenepoel mit einem beeindruckenden 25-km-Solo ganz groß auf. Nur zwei Wochen nach dem Gewinn der Vuelta in Spanien bewies der in seiner Heimat als Erbe des großen Eddy Merckx gefeierte Radprofi einmal mehr sein Ausnahmetalent. "Ein Traum ist wahr geworden, es ist unglaublich. Ich bin superglücklich", sagte Evenepoel.
2:21 Minuten Vorsprung hatte er nach intensiven 266,9 km rund um Wollongong südlich von Sydney auf die Verfolger. Silber ging an den Franzosen Christophe Laporte, Michael Matthews sicherte Gastgeber Australien Bronze. Evenepoels Teamkollege Wout van Aert, der ebenfalls Siegansprüche hatte, wurde Vierter.
Rad-WM: Zimmermann stürzt, Arndt verpasst Top-50
Die deutschen Fahrer hatten mit der Entscheidung nichts zu tun. Georg Zimmermann als stärkster Kletterer im Aufgebot stürzte rund 75 km vor dem Ziel. Bester Deutscher wurde Nikias Arndt auf dem 52. Platz (+ 3:08). Das Warten auf den ersten deutschen Titelträger seit Rudi Altig (1966) geht weiter.
"Das Rennen war einfach zu schwer für uns. Das einzige, was mich glücklich macht, ist, dass mein Teamkollege Weltmeister geworden ist", sagte Jannik Steimle, der wie Evenepoel beim Team Quick-Step Alpha Vinyl unter Vertrag steht.
Anders als die Deutschen hatte Evenepoel den Sprung in die Fluchtgruppe des Tages geschafft. Aus dieser heraus setzte er mit vereinzelten Attacken immer wieder Nadelstiche.
Die Vorentscheidung fiel bei der vorletzten Überfahrt des kurzen, aber giftigen Anstiegs am Mount Pleasant (1,1 km/8,8 Prozent). Evenepoel attackierte mit einer explosiven Tempoverschärfung und fuhr seinem letzten Begleiter Alexei Luzenko davon - das 25 km lange Solo wurde zur Triumphfahrt.
"Ich habe relativ schnell gemerkt, dass ich stärker als Alexei bin. Ich habe dann alles gegeben", sagte Evenepoel, der bis zur kommenden WM im August das Regenbogentrikot trägt.
Mathieu van der Poel: Anklage wegen Körperverletzung
Von diesem hatte auch van der Poel geträumt. Stattdessen stieg der Klassiker-Spezialist nach einer chaotischen und schlaflosen Nacht übermüdet bereits nach rund 30 Kilometern vom Rad.
"Ich wollte gestern Abend früh ins Bett gehen, aber auf dem Hotelflur waren viele Kinder, die ständig an meine Tür geklopft haben", berichtete van der Poel: "Nach einer Weile hatte ich die Nase voll. Ich sagte ihnen auf eine nicht sehr freundliche Art und Weise, dass sie aufhören sollen. Da wurde die Polizei gerufen."
Nach Angaben der Polizei, die keinen Namen nannte, sollen zwei Teenangerinnen im Alter von 13 und 14 Jahren gestoßen worden sein. Eine der beiden soll daraufhin zu Boden gegangen sein, die andere eine kleine Schürfwunde am Ellbogen erlitten haben.
Erst um vier Uhr sei er ins Hotel zurückgekehrt, sagte van der Poel. Gegen ihn wurde Anklage wegen zweier Fälle geringer Körperverletzung erhoben. Er muss am Dienstag vor einem Gericht in Sutherland erscheinen.