Es ist immer dasselbe Prozedere. Der Gesamtführende betritt in seinem Mannschaftstrikot die Bühne, flankiert von zwei Schönheiten auf jeder Seite. Ein kurzer Gruß ins Publikum, ein kleines Lächeln zu den beiden reizenden Damen, bevor ihm das geschichtsträchtige Leibchen übergestreift wird.
So hatte sich das auch Vincenzo Nibali ausgemalt. 201 Kilometer hatte der Italiener am vorletzten Sonntag in den Beinen, als er sich mit locker-leichten Schritten dem Podium näherte.
Zum ersten Mal in seiner Karriere bekam er an diesem 6. Juli in Sheffield das Gelbe Trikot des Spitzenreiters bei der Tour de France angezogen. Und zum ersten Mal wollte er sich in dieser erhabenen Position natürlich auch seinen verdienten Lohn abholen. So wandte er sich zuerst der einen Dame zu, Küsschen links, Küsschen rechts.
Es folgte eine Drehung um 180 Grad, ein kleines Herabbeugen - doch im letzten Moment hatte es sich die Dame offenbar anders überlegt, griff stattdessen nach dem Plüschlöwen, den sie vergessen hatte, und überreichte das Kuscheltier dem sichtlich verdutzten Nibali.
Nibali gewinnt zwei Etappen
Es war der einzige Moment in der ersten Tour-Woche, der für den Italiener nicht nach Plan lief. Er wird es verschmerzen können. Nicht nur, weil Nibali an den folgenden Tagen noch häufiger auf Tuchfühlung mit der einen oder anderen netten Gesellschaft auf dem Podium gehen konnte.
Sondern auch, weil die wichtigste Rundfahrt des Jahres bislang ganz eindeutig die Handschrift des Italieners trägt. Seine bisherige Bilanz: zwei Etappensiege, acht Tage in Gelb und ein Polster von fast zweieinhalb Minuten auf den Zweitplatzierten Richie Porte.
Von einer Vorentscheidung will Nibali trotzdem nichts wissen: "Ich werde versuchen, das Gelbe Trikot zu behalten, aber ich bin nicht ohne Rivalen. Ich muss sehr umsichtig mit meinem Vorteil umgehen."
"Es ist eine Schande"
Sein Unterstatement kommt nicht von ungefähr. Mit Titelverteidiger Chris Froome und Top-Favorit Alberto Contador mussten die beiden größten Namen im Kampf um die Gesamtwertung nach Stürzen bereits die Koffer packen. "Es ist eine Schande, dass die Tour zwei ihrer Hauptdarsteller verloren hat", so Nibali.
"Ohne Froome und Contador fehlen zwei Fixpunkte und viele werden denken, dass sie eine einzigartige Chance haben, die Tour de France zu gewinnen oder aufs Podium zu kommen."
So recht mag man daran trotzdem nicht glauben. Zu dominant stürmte Nibali nach La Planche des Belles Filles. Zu abgeklärt präsentierte er sich auf den Kopfsteinpflaster-Passagen in der Hölle des Nordens.
Und die großen Berge kommen für den Abfahrt- und Kletterspezialisten ja erst noch. Es gibt nicht wenige, die von dem 29-Jährigen ein wahres Feuerwerk in den Alpen und Pyrenäen erwarten, ganz egal, wie groß sein Vorsprung sein mag. Ihre simple Erklärung: Nibali kann gar nicht anders.
Ohne Rücksicht auf Verluste
Er ist nicht der große Taktiker wie in den letzten beiden Jahren Wiggins oder Froome. Er mag auch kein eiskalter Killer sein wie Contador. Wenn Nibali auf sein Rad steigt, dann ist nur eines sicher: Attackieren bis zum letzten Meter, ohne Rücksicht auf Verluste, gepaart mit einem großen Kämpferherz.
"Du weiß nie, was du bei Vincenzo bekommst. Die meisten Fahrer fokussieren sich auf eine Etappe und warten ansonsten viel ab. Bei ihm ist es ganz anders. Es kann passieren, dass er an vier, fünf Tagen hintereinander marschiert", beschrieb Tejay van Garderen vor der Tour seinen Kontrahenten.
Dass eine solche Fahrweise auch mal in die Hosen gehen kann, liegt im Sinne des Erfinders, das musste auch Nibali erfahren. Fast schon legendär, wie er bei der Lombardei-Rundfahrt vor drei Jahren 50 Kilometer vor dem Ziel attackierte und mit sieben Minuten Rückstand ins Ziel kam.
"Ich habe es probiert und alles auf eine Karte gesetzt. Es war ein großes Abenteuer, ich habe mir die Seele aus dem Leib gefahren", urteilte Nibali damals. Er klang wie der kleine Junge, der vor langer Zeit in Messina, seinem Geburtsort, ohne Furcht um die Straßenecken hetzte.
Mit dem Vater auf den Ätna
Messina. Sizilien. Seine Heimat, 16 Jahre lang, bevor er für den großen Traum seine Sachen packte und ging. "Ich habe alles hinter mir gelassen. Familie, Freunde, mein ganzes Leben." Wenn er über seine Kindheit spricht, kann man erahnen, welch gewaltiges Opfer er für seine Karriere bringen musste.
Noch heutzutage erzählt der Hai von Messina mit glänzenden Augen, wie er einst zusammen mit seinem Vater auf den Ätna radelte. "Ich war noch ein Kind. Wir waren mit ein paar Touristen unterwegs. Ich habe gekämpft bis zum Umfallen, aber irgendwann konnte ich nicht mehr. Also habe ich mein Fahrrad mit einem Seil an das Auto meiner Mutter gehängt und mich hochziehen lassen."
Lieber mit wehenden Fahnen untergehen als gar nicht erst probieren. Mehr als ein Motto. Es ist Nibalis Überzeugung. "Ich liebe es, ich will den Fans etwas bieten. Hat mir dieser Weg bittere Niederlagen zugefügt? Natürlich. Aber das gehört dazu."
Und auch deswegen lieben sie in Italien ihren Vinczenzo. "Super-Nibali" titelte die "Gazzetta dello Sport" zuletzt, auch "Tuttosport" jubelte: "Nibali, Phänomen bei der Tour!"
Der Erbe Pantanis
Es ist eine typische Heroisierung, wie sie in den Medien gang und gäbe ist. Im Falle Nibalis ist es aber auch ein Ausdruck der Sehnsucht. Lange ist es her, dass die große Radsportnation südlich der Alpen einen Tour-Sieger in ihren Reihen hatte.
Der Giro mag Italiens liebstes Kind sein, doch international gesehen hat die Tour de France ein größeres Renommee, das weiß man auch zwischen Mailand und Palermo.
Kein Wunder also, dass Nibali endlich den Thron besteigen soll, den als letzter Italiener Marco Pantani 1998 inne hatte. Dass die Erfolge des Piraten nicht mit rechten Dingen abliefen und sein Leben nach einer Kokain-Überdosis ein unrühmliches Ende nahm, sieht man bei den Italienern nicht ganz so eng.
Legenden sind für die Ewigkeit, in kaum einem anderen Land wird das so verherrlicht wie in Bella Italia. Vielleicht ist es ganz gut so, denn auch auf Nibali liegt ein dunkler Schatten, obwohl seine Doping-Proben bis zum heutigen Tag noch nie beanstandet wurden.
Der dunkle Schatten
Doch wer bei Astana unter Vertrag steht, wird grundsätzlich kritisch begutachtet. Johan Bruyneel, Lance Armstrong, Alberto Contador - Namen, die in der Vergangenheit nicht unbedingt zu einem besseren Image beitrugen.
Das Trio mag Astana längst hinter sich gelassen haben. Mit dem kasachischen Volkshelden Alexandre Vinokourov, selbst kein Unschuldslamm, und dem Sportlichen Leiter Giuseppe Martinelli, der Pantani 1998 zum Sieg führte, hält der Argwohn jedoch bis heute an.
Alleine Aussagen Martinellis, wonach Pantani "ein Symbol der EPO-Ära und gleichzeitig Märtyrer des Anti-Doping-Kampfes" sei, werfen Fragen auf.
Der Olymp wartet
Fragen, an die Nibali in den nächsten zwei Wochen wohl keinen Gedanken verschwenden wird, zumindest in der Öffentlichkeit nicht. Das werden andere tun, aber wohl erst, wenn der Italiener im Gelben Trikot auf die Champs-Elysees biegen und damit den Radsport-Olymp erklimmen sollte.
Schließlich wäre er mit einem Triumph in Paris der sechste Fahrer nach Jacques Anquetil, Eddy Merckx, Felice Gimondi, Bernard Hinault und Alberto Contador, der alle drei großen Rundfahrten gewonnen hätte, nach seinen Erfolgen bei der Vuelta 2010 und dem Giro 2013.
Und mit dem verdienten Küsschen vor dem majestätischen Arc de Triomphe dürfte Nibali dann auch sicherlich belohnt werden.