Als Alberto Contador mit Tränen in den Augen und einem gebrochenen Schienbein die Tour de France tief enttäuscht verlassen hatte, war der Weg endgültig frei für Vincenzo Nibali. Der italienische Radprofi beeindruckte mit einer entschlossenen Attacke zur Planche des Belles Filles, entschied die zehnte Tour-Etappe für sich und stieg zum großen Favoriten auf den Gesamtsieg auf. An einem Tag, an dem Tony Martin erneut mit unheimlichen Kampfgeist imponierte, eroberte Nibali auch das Gelbe Trikot zurück.
Der Sizilianer setzte sich etwa drei Kilometer vor dem Ziel von seinen Begleitern ab und war nicht mehr aufzuhalten. Nibalis erste Gedanken gehörten jedoch dem deprimierten Contador. "Es ist sehr, sehr traurig, dass wir Alberto verloren haben. Es tut mir sehr leid. Ich war kurz hinter ihm, als er gestürzt ist. Für einen kurzen Moment dachte ich, dass ich auch stürze und meine Tour vorbei ist", sagte der 29 Jahre alte Kapitän des Astana-Teams: "Wir haben uns entschieden weiterzufahren. Ich habe gehofft, dass er dieses Rennen zu Ende fahren kann. Ich hoffe, Alberto ist bald wieder fit."
"Es war sein Fehler"
Contadors Traum vom dritten Tour-Titel hatte sich im Nebel der Vogesen in Luft aufgelöst, der Spanier bot ein Bild des Jammers. In der Abfahrt vom Petit Ballon kam er schwer zu Fall, suchte zunächst noch einmal den Anschluss, stieg aber gut 80 Kilometer vor dem Tagesziel vom Rad. Der Belgier Jürgen Van den Broeck war offenbar unmittelbarer Augenzeuge und machte Contador selbst für den Unfall verantwortlich. "Es war sein Fehler. Er ist richtig in die Pedale gestiegen um zu überholen und dann in ein Schlagloch gefahren", sagte der Kapitän des Lotto-Rennstalls von Sprinter André Greipel.
Kurz vor seinem Ausstieg nahm Contador noch seinen Mannschaftskollegen Michael Rogers (Australien) kurz in den Arm, bevor er in der Abfahrt vom Markstein an die rechte Straßenseite fuhr und anhielt. Danach stieg er tief betrübt in das von Sportdirektor Bjarne Riis gelenkte Teamfahrzeug. Riis erklärte nach einer Röntgenuntersuchung im Ziel, dass der Spanier sich das rechte Schienbein gebrochen habe und operiert werden müsse.
Die 10. Etappe in der Übersicht
"Unglaubliche Schmerzen"
"Der Sturz war dramatisch. Bevor er ausstieg, hat er gesagt, dass er unglaubliche Schmerzen habe und nicht mehr weiter kann. Wir sind unendlich traurig", sagte zuvor Philippe Mauduit, Sportlicher Leiter bei Tinkoff. Aufmunternde Worte fand sein Rivale und Leidensgenosse Froome. "Großer Verlust für die Tour de France. Erhole dich gut, ich hoffe, ich sehe dich bei der Vuelta", schrieb der Brite via Twitter.
Statt Froome oder Contador greift jetzt Nibali nach dem Gesamtsieg. Der "Hai von Messina" führt die Frankreich-Rundfahrt bereits vor der ersten Hochgebirgsetappe deutlich an, der Australier Richie Porte (Sky) hat als Zweiter des Klassements 2:23 Minuten Rückstand. "Das war eine große Arbeit meiner Mannschaft und ich hatte sehr, sehr gute Beine", sagte Nibali, der besonders Landsmann Michele Scarponi, der zwischenzeitlich noch spektakulär zu Boden gegangen war, einen "unglaublichen Job" attestierte. Auf den letzten Metern flog Nibali noch am Spanier Joaquim Rodriguez (Katjuscha) vorbei und gewann nach seinem Triumph auf der zweiten Etappe erneut einen Tagesabschnitt.
Dienstag erster Ruhetag
Ein Sonderlob verdiente sich auch Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin. Einen Tag nach seinem fulminanten Soloritt zum Etappensieg in Mülhausen glänzte der 29-Jährige als Edelhelfer für den Polen Michal Kwiatkowski. Martin drückte an der Spitze einer Fluchtgruppe unerbittlich auf das Tempo, erst 20 km vor dem Ziel am Col des Chevrères ging dem kämpferischsten Fahrer des Tages die Puste aus. Kwiatkowski duellierte sich mit Rodriguez, musste dann aber reißen lassen.
Am Dienstag heißt es für das Peloton Kräfte sammeln und Wundenlecken. Am ersten Ruhetag der Tour stehen ausgiebige Massagen und nur kürzere Trainingsausritte auf dem Programm. Am Mittwoch führt die elfte Etappe über 187,5 km von Besancon nach Oyonnax - ohne Alberto Contador.