Es ist der 3. Dezember 2016 und in der Aviva Premiership treffen die Leicester Tigers auf die Northampton Saints. In der 17. Spielminute gelingt den Saints per Kick ein Befreiungsschlag. George North und Adam Thompstone eilen zum Ball. North schnappt ihn sich zwei Meter über dem Boden aus der Luft. Sein Gegenspieler unterbaut den Winger und zieht ihm mit der Schulter die Beine weg. North schlägt mit dem Kopf auf dem Boden auf. Mit voller Wucht. Regungslos bleibt er liegen. Während es zwischen den anderen Spielern zur Rudelbildung kommt, kümmern sich die Ärzte um den Verletzten.
Dann die Überraschung: Nach einer kurzen Behandlung auf und neben dem Spielfeld greift North wieder ins Spielgeschehen ein. Eine Welle der Empörung wird ausgelöst, schließlich hatte er offensichtlich für kurze Zeit das Bewusstsein verloren. "Nicht nur die Videobilder beweisen es, auch die Verletzungsgeschichte des Spielers legt nahe, dass er nicht aufs Feld hätte zurückkehren dürfen", so der Vorwurf der Concussion Management Review Group. Dennoch wurde der Verein nicht nachträglich bestraft.
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Tatsächlich hätte North nicht wieder spielen dürften. Laut den Richtlinien des Weltverbandes World Rugby darf ein Spieler, der das Bewusstsein verloren hat, nicht wieder eingesetzt werden. Besteht der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung, muss sich der Betroffene einem sogenannten Head Injury Assessment unterziehen. Dabei handelt es sich um eine fünfminütige medizinische Beurteilung, bei der Wahrnehmung, Gleichgewicht und Gedächtnis des Geschädigten getestet werden. Fällt dieser Test zufriedenstellend aus, darf der Spieler zurück aufs Feld.
"Auf solche Jungs gehen zwei Spieler"
"Die Anzahl der Spieler, die nach dem HIA noch auf dem Platz standen, hat enorm abgenommen", stellt Dr. Simon Kemp, Rugby-Football-Union-Medizinchef dieser Methode ein positives Zeugnis aus.
Doch das Prozedere hat nicht nur Befürworter. Sie entspreche nicht ihrem Zweck, so Ex-World-Rugby-Medizinreferent Dr. Barry O'Driscoll: "Immer wieder werden Spieler zurück ins Spiel gebracht, die Hirnschäden aufweisen." Die Protokolle seien nicht zuverlässig genug, um wirklich etwas über die Schwere der Verletzung auszusagen.
Schnelle Spieler wie eben George North oder Mike Brown (Harlequins) seien oft Ziel von harten Tacklings, erklärt Dr. Peter Hamlyn, Neurochirurg, der mit der Rugby Union zusammen arbeitet: "Auf solche Jungs gehen zwei Spieler: Der eine auf die Beine und der andere auf den Oberkörper. Die Kräfte sind gewaltig."
In manchen Fällen können harte Checks und deren Folgen sogar das Karriereende bedeuten. So geschehen bei Jonathan Thomas, der 2015 wegen einer Epilepsie aufhören musste. Die Gründe dafür liegen wohl bei diversen Kopf-Traumata. "Teil der Faszination Rugby sind eben die Tackles und das ist, was das Spiel zu einem Spektakel macht", erklärt er dennoch die Wichtigkeit der Zweikämpfe für den Sport.
Fehlendes Fingerspitzengefühl
Auch American Football lebt von diesem physischen Kampf zwischen zweier Teams. Eine Statistik des British Journal of Sports Medicine aus dem Jahr 2014 besagt, dass in einem NFL-Spiel durchschnittlich 89 Tackles genommen werden, während es beim Rugby 221 sind (Jahr 2011) - die Tendenz in beiden Fällen ist steigend.
Trotzdem sei Football im Vergleich zum Rugby der gefährlichere Sport, ist sich Martin John sicher. In beiden Sportarten gehe es nach dem "selben Prinzip. Du bringst deinen Gegenspieler so schnell wie möglich zu Boden und versuchst, ihn nach hinten zu drücken. Aber ich habe beim Football mehr Schläge an den Kopf bekommen als beim Rugby. Dort lernt man zuerst, seinen Kopf zu schützen."
Weil Rugbyspieler weniger geschützt sind, sind Tackles an den Kopf verboten. Stattdessen will man mit dem Körper unten bleiben und den Gegenspieler an den Schultern packen und zu Boden bringen. Spear Tackles sind ebenfalls verboten, um Nackenverletzungen zu verhindern. Dabei wird der Gegenspieler über Schulterhöhe in die Luft geworfen.
Seit Anfang des Jahres ist bei World Rugby eine neue Regel in Kraft, die Kontakte oberhalb der Schulterlinie in zwei Kategorien unterteilt: fahrlässig und unbeabsichtigt. Bei Ersterem erhält der tacklende Spieler eine Gelbe Karte, während bei Letzterem ein Strafkick für den Gegner fällig wird. Dadurch will man den Sport sicherer machen, aber dennoch nichts an Attraktivität einbüßen.
"Wenn er nicht richtig tacklen kann, verletzt er sich"
Kritiker befürchten durch solche Regeländerungen eine Verweichlichung des Rugbys und eine Flut von Gelben Karten bei Aktionen, die vorher anders bewertet worden wären. Man merke den Schiedsrichtern ein fehlendes Fingerspitzengefühl an, wenn es darum geht, zwischen accidential und reckless zu unterscheiden.
Besonders vor einem großen Turnier wie dem Six Nations ist die Debatte besonders präsent: "Akzeptieren wir es, dass bei jedem Spiel der Six Nations ein Spieler mit einer Gehirnerschütterung vom Platz muss? Das ist nicht akzeptabel. Es gibt schon Leute, die sagen: ‚Ich würde meine Kinder nicht Rugby spielen lassen'", macht sich der Neurologe Dr. Willie Stuart Sorgen.
Ricky Whitehall, ehemaliger englischer Hooker, will dafür sorgen, dass sich Kinder trotz der physischen Komponente für Rugby begeistern können. Dabei setzt er beim Tackling an. Auch auf Top-Niveau gebe es manche Spieler, die nicht in der Lage seien, richtig zu tacklen: "Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass zu wenig Wert auf das richtige Erlernen von Tackles gelegt wird. Es ist egal, wie groß oder stark ein Spieler ist: Wenn er nicht richtig tacklen kann, verletzt er sich ab einem bestimmten Punkt." Das Programm sei altersunabhängig und sowohl im Kinderbereich als auch auf internationalem Niveau anwendbar.
Einmaliges Bestehen reicht
Speziell im Bereich des Kinder- und Schul-Rugbys forderten englische Gesundheitsexperten kontaktlose Alternativen wie es sie auch im Eishockey gibt. "Der Großteil der Verletzungen entsteht durch Kollisionen wie beim Tackle oder dem Scrum. Diese Verletzungen können kurz-, mittel und langwierige Folgen haben", heißt es in einem Schreiben an die Regierung.
Was dagegen spricht? Die Dynamik eines Rugby-Spiels im Kinder-Bereich ist nicht so hoch wie bei den Erwachsenen. Deshalb bestehe kein Handlungsbedarf, heißt es mancher Orts.
In vielen Punkten der Sicherheitsdebatte herrscht also Unstimmigkeit. So auch beim sogenannten Headcase-Programm, bei dem der Umgang mit Kopfverletzungen geschult wird. Während Trainer und Schiedsrichter in vielen Verbänden dazu verpflichtet sind, diesen Kurs immer wieder aufzufrischen, genügt bei der RFU das einmalige Belegen des Programms. Bevor man Coach oder Referee wird, muss man es bestehen. Weitere Kursbesuche können auf freiwilliger Basis absolviert werden. Teilweise fehlt es also an der nötigen Expertise in Verletzungssituationen.
Dem will Rugby Canada mit einem Sozialhilfeprogramm zum Schutz der Spieler vorbeugen. Jeder Klub, der in dem Verband registriert ist, muss an dem Programm teilnehmen. Dabei werden Verletzungen protokolliert, um Trends zu erkennen, damit das Spiel sicherer gemacht werden kann. Außerdem werden Erste-Hilfe-Kurse angeboten, um eben den Umgang mit Verletzungen zu schulen. Zudem wird den Klubs Rumpftraining für die Spieler angeboten. Egal ob im Training oder im Spiel, ein verletzter Spieler darf den ganzen Tag nicht mehr spielen, sondern muss behandelt werden.