Nachdem er einen markerschütternden Schrei ausgestoßen hatte, die beiden Hände hoch erhoben zu Fäusten geballt, nachdem er Federer am Netz voller Respekt die Hand gegeben und sich vom Publikum hatte feiern lassen, ging der Djoker wenige Meter vom Netz entfernt erst einmal in die Hocke. Er klaubte mit der rechten Hand ein paar der ultrakurz geschorenen Grashalme auf und verspeiste sie genüsslich. Später gab es für den Snack Komplimente an die Groundskeeper - es habe sehr, sehr gut geschmeckt.
ANALYSE Dritter Wimbledon-Sieg! Djokovic zieht mit Becker gleich
"Zu meiner Zeit wäre das nicht möglich gewesen - da war da vorn nicht viel mehr als ein Trampelpfad", mag sich Coach Boris Becker oben in der Box gedacht haben. Mit seinem dritten Wimbledon-Sieg hatte Schützling Djokovic soeben die Beckersche Marke eingestellt. Wenn auch mit ganz anderen Mitteln: Wo Bumm-Bumm-Boris ohne Rücksicht auf Verluste der eigenen schweren Artillerie ans Netz gefolgt war, spielt der Champion von 2015 perfektes Allroundtennis. Kontrollierte Konter-Defensive. Gewinnschläge aus jeder Ecke und jeder Lage. Winkelspiel mit Touch und Übersicht. Rasenschach.
Irgendwie kann er alles. Und keiner frisst so schön Gras wie die Nummer Eins der Welt. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Federer "ganz nah dran"
Das musste an diesem Sonntag auch Roger Federer erfahren, der "Beste aller Zeiten" (Becker). Sieben Titel auf dem Heiligen Rasen, ein Achter sollte dazukommen, nachdem es schon 2014 nicht geklappt hatte. Damals im Finale gegen den gleichen Gegner. Mit einem Dreisatzsieg gegen Lokalmatador Andy Murray im Gepäck war er aufmarschiert, hatte in diesem Halbfinale sein bestes Tennis gespielt. Nicht das beste Tennis eines 33-Jährigen, sondern sein bestes Tennis, Punkt.
Djokovic - Federer: Das Finale im RE-LIVE
Warum sollte er also nicht an seine Chance glauben? "Ich habe ihn schon geschlagen. Ich bin einer der Wenigen, die eine Chance haben", erklärte er auf der Pressekonferenz nach dem Finale. Vier der letzten acht Duelle hatte er gewonnen, das macht vier von elf Djokovic-Niederlagen überhaupt seit Anfang 2014. "Ich habe an meinen Sieg geglaubt. Ich bin ganz nah dran, mein Spiel ist gut."
So begann er das Endspiel dann auch. Voller Selbstbewusstsein, mit freien Punkten über den Aufschlag. Dazu dann die krachende Vorhand, die er als Winner spielte. Angefeuert von einem hoffnungsvollen, fast schon übereifrigen Publikum, welches endlich Teil der Geschichte werden wollte. Acht Titel hat schließlich noch keiner geschafft. Drei gewonnene Aufschlagspiele, dann das Break zum 4:2. Zu Null. Ein Start nach Maß.
Doch auf der anderen Seite des Netzes wartete eben dieser grasfressende Serbe.
Die Djokovic-Methode
Djokovic fehlt die kühle Eleganz eines Federer, ebenso die Bizeps-Urkraft eines Rafael Nadal. Sein Spiel scheint manchmal die Dimensionen eines Normalsterblichen zu haben - bei seinen Winnern ertappt man sich bei dem Gedanken: "Moment, das war doch eigentlich gar nicht so hart." Dennoch: Es ist faszinierend, dem 28-Jährigen bei der Arbeit zuzuschauen.
Der Weltranglistenerste startete eher langsam ins Match. Überlegend. Kalkulierend. Den Gegner beobachtend. Während Federer von Beginn an Winner schlug, hielt der Djoker den Ball erst einmal im Spiel, ließ die Woge der Emotionen von Schauplatz, Publikum und Gegner über sich ergehen. Oftmals mit dem typischen "Djokovic-Blick": große Augen, den Mund leicht geöffnet. Die majestätische Ausstrahlung eines Federer geht ihm da vollkommen ab.
Das war kein Einzelfall, vielmehr hat diese Taktik Methode. Es kann durchaus passieren, dass man sich in der Mitte des ersten Durchgangs wiederfindet und denkt: "Wow, sein Gegner hat heute eine echte Chance!" Halbfinalgegner Richard Gasquet etwa hielt im ersten Satz nahezu gleichwertig mit - was ihm in der Anfangsphase übrigens auch bei den French Open gelang. Nur täuschen lassen sollte man sich davon nicht.
Wie ein Tenniscomputer
Es scheint oft so, als kalibriere der Djoker sein Spiel in der ersten halben Stunde. Als sammle er die Daten seines Gegners und erstelle eine komplizierte Gleichung: "Wie muss ich spielen, um ihn zu schlagen?" Und diesem Level nähert er sich dann Stück für Stück an. Die Grundschläge werden härter, die Winkel präziser. Bis er dann Oberwasser hat. Den Gegner im Kopf bereits geschlagen hat - und dieser weiß es.
Auch ein Djokovic ist dieser Tage nicht komplett unbesiegbar - man frage nur einen gewissen anderen Schweizer. Schließlich kann auch ein Schachcomputer bezwungen werden, mit einer Mischung aus Genialität, Inspiration und Fortüne. Aber dazu braucht es einen perfekten Auftritt, wie er Stanislas Wawrinka bei den French Open gelang.
Vielleicht liegt es an seinen fast 34 Jahren, dass Federer diesen perfekten Auftritt nicht liefern konnte. "Es ist immer eine mentale und körperliche Herausforderung, dieses Weitermachen, immer Weitermachen", musste er zugeben. Er habe ja seine Chancen gehabt, diese nur eben nicht nutzen können. Leichter gesagt als getan, gegen diesen Tenniscomputer ohne Schwächen, im besten Alter und seit Jahren perfekt austrainiert.
Der lächelnde Djoker
Mit dieser Laufstärke und perfekten Balance, die es ihm erlaubt, auch in suboptimaler Position den optimalen Ball zu spielen, ist es schließlich nicht getan. Auch nicht mit dieser schonungslosen Analyse des Gegners und der Fähigkeit, die Filzkugel auch in tiefster Bedrängnis noch in perfekter Länge über das Netz zu schicken. Eine weitere Gabe scheint ihn dieser Tage vom Rest der Tenniselite zu unterscheiden. Die klingt eigentlich trivial, kann jedoch entscheidend sein: Je größer die Herausforderung, desto mehr Spaß hat der Djoker.
Das Minenspiel des Serben gewährt oft faszinierende Einblicke in sein Seelenleben - welches unterschiedlicher zu seinen Kontrahenten nicht sein könnte. Federer auf dem Court? Königlich entschlossen, manchmal auch verkniffen, schmallippig. Nadal zu seinen besten Zeiten? Knurrend, fast schon Zähne fletschend. Oft ein wenig verächtlich. Murray? Nun ja, Murray eben.
Doch wenn man dem nun neunfachen Grand-Slam-Sieger aus Belgrad zuschaut, wenn die Not am größten ist, der Gegner am stärksten, das Publikum am frenetischsten. Dann sieht man ihn immer wieder - lächeln.
"Roger testet deine Grenzen"
Man nimmt ihm ab, dass er den Moment genießen kann, dass er den "best shot" seines Gegenspielers sehen will, und ihn dann dennoch schlagen. Djokovic hat Lust auf den Kampf, Freude an der Herausforderung. Er ist mittlerweile so gut, dass er fast jeden Spieler besiegen kann, ohne seine Bestleistung auszupacken. Seine technischen und taktischen Fähigkeiten erlauben es ihm. "Ein gutes Pferd springt nur so hoch, wie es muss." Business as usual.
Erst wenn das allein nicht mehr reicht, wenn ihm in Sachen Einsatz, Wille, Leidensfähigkeit alles abverlangt wird, dann scheint er noch einmal aufzublühen. "Roger testet deine Grenzen. Man muss sich jeden Punkt hart verdienen. Er wird nicht verlieren - wenn ich die Trophäe stemmen will, muss ich gewinnen", gestand er auf der Pressekonferenz. Genauso wie er es mag.
"Mentalitäts-Monster" dank Becker?
Deshalb sieht man so selten Nerven bei Nole. Wo andere nervös werden, regiert bei ihm die Vorfreude: Und das macht ihn derzeit in den entscheidenden Momenten so stark. Break Federer in Satz eins? Direkt das Rebreak hinterher. Satz zwei im Tiebreak verloren? Fast vollkommene Dominanz in den Sätzen drei und vier. Ein ums andere Mal kam der erste Aufschlag, wenn es eng wurde. Er packte in den wichtigsten Momenten sein bestes Tennis aus. Nur einen von sieben Breakbällen konnte Federer verwandeln - und gab im Gegenzug viermal so häufig sein Service ab wie im kompletten Turnierverlauf.
Eine Folge der Zusammenarbeit mit Becker? Selbst wenn er schon 2011, also lange vor der Zusammenarbeit mit der deutschen Wimbledon-Legende, das Circuit dominierte, hat ihn diese Kombination aus Coach/Mentor/Vertrauensperson noch einmal stärker gemacht. "Die Chemie stimmt derzeit einfach, daran hat er großen Anteil", lobte er Becker nach dem Matchball. "Dieser Pokal gehört ihm genauso wie mir."
"Werde meine Grenzen austesten"
48 Siege bei drei Niederlagen in diesem Jahr. Sechs Titel. Lediglich die Sternstunde Wawrinkas auf dem Philippe Chatrier trennt ihn von drei Triumphen bei den ersten drei Major-Turnieren des Jahres. Wie geht es weiter für den besten Tennisspieler der Welt?
Auch bei den US Open Ende August wird er wieder Favorit sein. Erst einmal hat er die dortige Trophäe gewonnen, es wäre also wieder mal an der Zeit. "Ich bin 28. Ich fühle mich gut. Ich fühle mich nicht alt. Hoffentlich habe ich noch viele Jahre vor mir. Ich werde meine Grenzen austesten und sehen, wie weit es geht."
In den Geschichtsbüchern geht es derzeit Stück für Stück weiter nach vorn. Seit 2011 stand er bei 19 Grand Slams 14 Mal im Finale - klingt wie Federer zu seinen besten Zeiten. Der Sieg über den Schweizer war sein 200. Sieg bei einem Major. Nur sechs Spieler haben mehr, und nur sechs Spieler haben mehr Titel bei den "Big Four" geholt. Mit aller Macht drängt sich der Djoker in die GOAT-Diskussion.
Federer: Das Feuer brennt noch
Die führt Federer weiter an. Er wäre der älteste Wimbledon-Champion geworden und bewies trotz der Niederlage, dass er längst nicht zum alten Eisen gehört. An einem lieblichen Ritt in den Sonnenuntergang ist FedEx nicht interessiert, im Gegenteil. Das Feuer brennt: "Für mich ist die Finalisten-Trophäe nicht das Gleiche. Das weiß jeder. Ich werde Niederlagen nicht akzeptieren und sagen: 'Das ist normal, ich habe schließlich gegen die Nummer Eins verloren.' Es ist nicht normal."
Nach 17 Jahren: Hingis gewinnt Doppel-Double
Wenn man sich Federer und Serena Williams anschaut, dann ist 33 vielleicht das neue 23. Beide haben ihr Spiel im Vergleich zu vor zwei oder drei Jahren noch einmal gesteigert, gerade Roger war von vielen schon abgeschrieben worden. Zu Unrecht. Ein neues, größeres Racket hat ihn noch einmal gepusht, er spielt aggressiver, sucht seine Chancen. Einen letzten Run wie Pete Sampras anno 2002 muss man ihm weiter zutrauen.
Dennoch ist sein Weg ungleich steiniger als der der US-Amerikanerin. Die Konkurrenz frisst schließlich Gras.
Die ATP-Weltrangliste