Was sagt man, wenn man an einem lauen Sommerabend in Melbourne vor ein Mikrofon und ins Scheinwerferlicht tritt, vor den Augen der Weltöffentlichkeit und von fast 15.000 Zuschauern in der Rod Laver Arena? Wenn man sich in den zwei Stunden zuvor die Seele aus dem Leib gerannt hat, gefightet hat um jeden Punkt, und dann in einem epischen Dreisatzmatch die beste Spielerin des (mindestens) Jahrtausends bezwungen hat? Verdient bezwungen hat, wohlgemerkt. Wenn man nach den "zwei schönsten Wochen meines Lebens" plötzlich sieht, wie der eigene Kindheitstraum wahr geworden ist: die Daphne Akhurst Trophy, bis eben in ihren Armen, nur einen Schritt entfernt.
Angelique Kerber begann ihr Interview als frischgebackene Australian-Open-Siegern, die erste seit Steffi Graf 1994, mit einem seligen Lächeln im Gesicht. Mit feuchten, aber strahlenden Augen. Und mit einem "Puh!", bei dem ihre Schultern zum ersten Mal an diesem Tag ein klein bisschen durchsackten. Der Druck war weg, das Ziel erreicht - erst einmal tief durchatmen.
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Das Publikum quittierte dieses Zeichen der Schwäche, der Verletzlichkeit, der Überwältigung mit einem aufmunternden Lachen, das prompt von Angie Kerber gespiegelt wurde. "Okay, ähm..." begann sie. Und erledigte ihre Aufgabe wie alle bisherigen Aufgaben in den vergangenen zwei Wochen mit Bravour. Und mit einem entwaffnenden Charme, der Deutschland - zumindest an diesem Sonntag - wieder zu einer Tennisnation gemacht hatte.
Keine Chance gegen Serena - oder?
Entwaffnet hatte die 28-Jährige zuvor Serena Williams, die personifizierte Dominanz der WTA-Tour. 21 Grand-Slam-Titel hatte sie in ihrer Karriere seit 1999 bereits gesammelt, Tennis-Deutschland in dieser Zeit übrigens keinen einzigen. Nun sollte Titel Nummer 22 her, der sie auf eine Stufe setzen würde mit Rekordhalterin Steffi Graf.
Und nach einer langen Pause zum Ende des letzten Jahres war sie mal wieder durch das Turnier marschiert. 26 Spiele hatte Williams in sechs Matches abgegeben, ohne Satzverlust selbstverständlich. Und fünf der letzten sechs Matches gegen Kerber gewonnen.
Da sollte auch eine Angie Kerber in ihrem Grand-Slam-Finale überhaupt keine große Hürde darstellen. Eine Kämpferin zwar, mit Pferdelunge und soliden Grundschlägen ausgestattet, aber bislang doch irgendwie auch limitiert. Mit einer gläsernen Decke auf ihrem Spiel: Gegen den WTA-Durchschnitt reicht es, gegen die ganz Großen und für den ganz großen Wurf aber dann doch nicht.
Leistungssteigerung dank Steffi
Aber diese Angie Kerber hatte im Verlauf des Turniers noch einmal einen Sprung gemacht. "Mit einem Bein schon im Flieger" sei sie nach eigener Aussage schon gewesen, als sie nach guter Vorbereitung in der ersten Runde gegen No-Name Misaki Doi Matchball gegen sich hatte. Es hätte gepasst zum deutschen Damentennis, dem man - nicht zu Unrecht - ein eher löchriges Nervenkostüm nachsagt.
Storify Die Stimmen und Reaktionen in den sozialen Medien zu Kerbers Triumph: JAAAAAAAAAAAA!
Doch Kerber fing sich, marschierte durch die nächsten Runden und warf im Viertelfinale dann ihre Nemesis Vika Azarenka aus dem Turnier. Noch nie hatte sie gegen die Weißrussin, selbst zweifache Siegerin in Melbourne, gewinnen können, doch diesmal passte alles.
Mantra-artig wiederholte Kerber da schon, was sie nun plötzlich verinnerlicht hatte: relaxt spielen, an sich glauben, einfach mal was riskieren. Go for it. Das sei ihr in der Vergangenheit nicht immer gelungen, doch nun war die Handbremse gelöst - auch durch Trainingseinheiten mit ihrem Idol Steffi Graf in Las Vegas im letzten Jahr. "Sie hat mich gelehrt, dass ich auf einem guten Weg bin und an mich glauben muss. Das habe ich in den letzten Monaten versucht", so Kerber.
Optimismus trotz Entscheidungssatz
Derart gewappnet ging sie ins Duell mit Williams. Und plötzlich war es die Favoritin, die behäbig wirkte und massenhaft leichte Fehler probierte. Sie sei nicht nervös gewesen, insistierte Serena auf der Pressekonferenz nach dem Match, doch 23 unerzwungene Fehler im ersten Satz sprechen eine andere Sprache. In den Runden zuvor waren es nur 17 (gg. Radwanska) bzw. 20 (gg. Sharapova) gewesen. "Sie bewegt sich sehr gut, ist auch mental stark. Sie bleibt in jedem Punkt und kämpft um alles", musste sie anerkennen.
Serena Williams ist nicht gerade als "gute Verliererin" bekannt. Oft hatte es in der Vergangenheit Kritik gehagelt, wenn sie bei einer ihrer (seltenen) Niederlagen an Lob für die Gegnerin gespart hatte: Nicht diese habe das Spiel gewonnen, vielmehr habe sie es verloren. Faktisch korrekt zwar, dennoch nicht gerade die feine englische Art.
Kerber - Williams: Das Finale im Re-Live
Und im ersten Durchgang zutreffend. 35 Ballwechsel beendete Williams per Winner oder Fehler - fünfmal so viele wie Kerber. Und als sie im zweiten Satz plötzlich zu ihrem Spiel fand und aus 23 Fehlern plötzlich nur fünf wurden und Kerber die ersten Asse um die Ohren flogen, schien die unüberwindbare Serena so vieler früherer Tage plötzlich anwesend. In etwas über einer halben Stunde war das Match egalisiert, ein Dreisatzmatch hatte Williams in einem Grand-Slam-Finale noch nie verloren.
"Das wusste ich nicht, nein", berichtete Kerber anschließend. "Aber als es in den Dritten ging, sagte ich zu mir: OK, den kannst du genauso gut gewinnen wie sie. Ich habe in den letzten Jahre viele Dreisatzmatches gespielt und gewonnen." Nach dem gewonnenen ersten Satz sei der zweite eine Art "Pause" gewesen, "zumindest war das mein Gefühl auf dem Court."