18. Juni 2016, Halle in Westfalen, Halbfinale zwischen Zverev und Roger Federer. 7:6, 5:7, 5:3 und 40:0 steht auf der Anzeigetafel. Es ist mucksmäuschenstill, der Deutsche hoch konzentriert. Ihm fehlt ein Punkt zum größten Coup seiner bisherigen Laufbahn.
Der erste Aufschlag kommt hart durch die Mitte. Federer streckt sich, seine Vorhand segelt ins Aus. Jubelschreie durchbrechen die Stille, des Publikums, nicht von Zverev. Der 19-Jährige reckt nur die Arme nach oben, sinkt nicht ekstatisch zu Boden.
"Das ist Wahnsinn. Aber ich brauche mich jetzt nicht für fünf Stunden bejubeln lassen. Natürlich ist der Respekt dabei ein großer Faktor. Es passiert nicht jeden Tag, dass man gegen Federer gewinnt", sagt Zverev Minuten später.
Es ist ein ganz besonderer Moment. Für Zverev, der ausgerechnet gegen sein Idol den ersten Sieg gegen einen Top-10-Spieler feiert. Für das deutsche Tennis, das seine Hoffnungen auf eine glorreiche Ära bestätigt sieht. Für die Szene weltweit, die nur darauf zu warten scheint, den Einzug des German Wunderkind in die absolute Weltspitze zu vermelden.
Lobeshymnen ohne Ende
"Deutschland hat einen aufgehenden Tennis-Stern", schrieb die New York Times vor einiger Zeit und steht damit beispielhaft für die großen Zeitungen, die sich in den vergangenen Monaten mit dem Hamburger beschäftigten. Die Lobeshymnen der schreibenden Zunft unterscheiden sich kaum von denen aus dem Tennis-Zirkus selbst.
"Ein Supertalent", nennt Federer den Deutschen. Rafael Nadal staunt, er selbst habe den Ball in jungen Jahren nicht so hart wie Zverev geschlagen. "Ihr braucht euch über die Zukunft keine Sorgen zu machen. Ihr bekommt bald eine Nummer 1", rief Ivan Lendl im vergangenen Jahr bei einem Turnier einem deutschen Scout zu.
Und als John McEnroes Bruder Patrick gebeten wurde, seine Weltrangliste der Zukunft aufzustellen, notierte der US-Amerikaner: Alex Zverev, Nick Kyrgios, Dominic Thiem, Borna Coric, Frances Tiafoe, Taylor Fritz, Thanasi Kokkinakis.
Die Anfänge beim UHC
Ganz schön viele Vorschusslorbeeren für einen jungen Kerl, dessen Weg zum Profi sich lange abgezeichnet hatte und beim Uhlenhorster Hockey Club im noblen Hamburger Stadtteil Hummelsbüttel begann. Hier landete Zverevs Vater Alexander Michailowitsch, ein 36-maliger Davis-Cup-Spieler für die Sowjetunion, in den 90er Jahren als Trainer.
Alexander Michailowitsch gilt als absoluter Fachmann, als Schleifer, als harter Hund alter russischer Schule, der sich zunächst auf die Karriere von Alex' fast zehn Jahre älterem Bruder Mischa konzentrierte.
Wenn der Vater seine bissigen Kommandos über den Platz bellte, liefen bei Mischa schon mal die Tränen. Doch der Drill zeigte Wirkung: Der ältere Sohn gehörte zu den größten Talenten in Hamburg, in Deutschland, weltweit.
Aufgewachsen, um Profi zu werden
Bereits wenige Jahre nach seiner Geburt am 20. April 1997 war Alex Zverev immer mit dabei. "Es war spannend, die Entwicklung von zwei jungen Menschen zu erleben, die aufwuchsen, um Tennisprofis zu werden", sagte Graeme Notman, der 36 Jahre lang Tennischef beim UHC war, dem Tennismagazin.
Mischa schaffte es auf die ATP-Tour, sogar in die Top 50. Der Zverev-Clan, zu dem neben dem Vater, Mischa und Alex auch Mutter Irina, eine frühere Tennistrainerin, gehört, war nun immer häufiger unterwegs. So lernte Alex schon in jungen Jahren die großen Stars und Turniere kennen. Es war eine Kindheit zwischen Federer, Djokovic, Andy Murray, Wimbledon, Melbourne und Hamburg.
Schnell wurde der gesamten Familie klar: Alex, nur Sascha genannt, hat noch viel mehr Talent als Mischa. Die Zverevs widmeten sich immer konsequenter der Förderung des jüngsten Sprösslings.
Stich der Erste, der an Zverev glaubte
"Ein entscheidender Faktor ist mein Vater. Er kümmert sich immer sehr gut um mich", sagte Alex einmal über seinen Weg nach oben: "Der zweite Grund ist mein Bruder. Er kann mir sehr gute Tipps geben, wie man sich auf dem Platz in verschiedenen Momenten gegen die großen Spieler verhält oder was man in den unterschiedlichen Situationen machen muss."
Und dann, so betont Zverev immer wieder, dürfe man Michael Stich nicht vergessen. "Wenn man zurückschaut, war er immer der Erste, der an mich geglaubt hat", sagte der Youngster.
Nachdem Zverev 2013 mit dem Einzug ins Junioren-Finale der French Open für Furore gesorgt hatte, stattete der Wimbledon-Champion als Turnierdirektor von Hamburg den damals 16-Jährigen mit einer Wildcard aus und verhalf ihm so zum Debüt auf der ATP-Tour.
Zverev unterlag zwar in der ersten Runde Roberto Bautista Agut, die gewonnene Erfahrung war aber Gold wert.
Die ersten großen Erfolge
Im kommenden Jahr schnappte sich Zverev den Junioren-Titel bei den Australian Open und erhielt erneut eine Wildcard für Hamburg. Nun ließ der deutsche Junge mit den russischen Wurzeln die Szene so richtig aufhorchen.
Mit 6:0 und 6:2 gegen Robin Haase gelang ihm sein erster Sieg im Hauptfeld eines ATP-Turniers. In den weiteren Runden schaltete er Michail Juschni, Santiago Giraldo und Tobias Kamke aus und stand im Halbfinale, wo er gegen David Ferrer chancenlos war.
Es ging Schlag auf Schlag. 2014 gewann Zverev seinen ersten Profi-Titel beim Challenger-Turnier in Braunschweig. Ein Jahr später folgte der nächste Challenger-Titel in Heilbronn, Zverev erreichte das Viertelfinale in Washington, das Halbfinale in Bastad und in Wimbledon erstmals das Hauptfeld eines Grand-Slam-Turniers, wo er in die zweite Runde einzog.
Kometenhafter Aufstieg in der Weltrangliste
Ende 2015 wurde Zverev von der Spielergewerkschaft als "Star of Tomorrow" ausgezeichnet. Er bestätigte das, indem er im Februar 2016 in Montpellier das Halbfinale erreichte, später das Halbfinale in München, Mitte Mai sein erstes ATP-Finale in Nizza, wo er gegen seinen Kumpel Thiem verlor.
Zverev hatte seinen ersten Auftritt für das Davis-Cup-Team in Hannover gegen Tschechien. Zwar musste er sich im entscheidenden Einzel deutlich gegen Lukas Rosol geschlagen geben, zeigte zuvor aber gegen Tomas Berdych sein Können und zog erst nach fünf hartumkämpften Sätzen den Kürzeren.
Schließlich schaffte er mit Runde drei in Roland Garros sein bislang bestes Grand-Slam-Ergebnis. In der Weltrangliste kletterte Zverev im Eiltempo nach oben. 2014 von Position 809 auf 136, 2015 auf 83 und nach dem Erreichen des Finales von Halle auf Platz 28 - der vorläufige Höhepunkt.
Mentalitäts-Monster Zverev
Nach seiner Final-Niederlage in Halle gegen Florian Mayer wurde eine von Zverevs wichtigsten Eigenschaften deutlich. Er war nicht etwa froh über das Erreichte, sondern ärgerte sich tierisch über die Niederlage.
Es gab schon viele Spieler, die das Talent zu einem Champion, dafür aber nicht die Mentalität hatten. Und es gab auch schon viele Spieler, die die Mentalität eines Champions, aber nicht das Talent hatten. Richtig interessant wird es, wenn sich beide Eigenschaften vereinen. Bei Zverev ist das der Fall.
"Ich liebe die Challenge und ich denke, dass vor allem der Wille die wichtigste Stärke der Topspieler ist. Denn ohne ihn kann man keine großen Matches gewinnen", so Zverev.
Vergleiche mit Boris Becker
Experten bestätigen das. Der frühere Davis-Cup-Teamchef Niki Pilic bezeichnete Zverev als "Geschenk des Himmels" und ergänzte bei Sport1: "Man kann die Qualität von Sascha mit der von Boris Becker vergleichen. Sascha hat die spielerische Qualität, er besitzt Persönlichkeit. Sein Wille zu gewinnen ist wie bei Boris unmenschlich groß."
Stich erinnert sich, wie der junge Hamburger einmal zum Training zu Lendl geschickt wurde. Der frühere Weltklasse-Spieler sollte als unabhängiger Beobachter herausfinden, wie gut der Deutsche wirklich ist.
Lendl berichtete anschließend von seiner Begeisterung über Zverevs Talent. Was ihm aber wirklich imponiert habe, sei dessen "Hass auf die Niederlage" gewesen.
Stärken und Schwächen
Neben der Mentalität und dem Willen verfügt Zverev über herausragende Schläge. Er hat die besonderen Waffen, die ein Champion braucht.
Der stärkste Schlag des Rechtshänders ist die beidhändige Rückhand. Dazu kommt ein gefährlicher Aufschlag, der bei einer Größe von 1,98 Meter noch besser werden kann. Zverev, der insgesamt über ein technisch sauberes Schlagrepertoire verfügt, fühlt sich mit seinem Spiel auf allen Belägen wohl.
Allerdings gibt es natürlich noch Verbesserungsbedarf. Vor allem in Sachen Kraft und Ausdauer muss der Hamburger zulegen, sonst könnte der schlaksige Körper bei den hohen Belastungen auf der Tour zum Problem werden. Zudem wackeln manchmal die Vorhand und das Netzspiel.
Was sich im Verlaufe des vergangenen Jahres besonders verbessert hat, ist sein mittlerweile viel aggressiveres Spiel. Er kann Matches diktieren.
Das perfekte Umfeld
Zverev hat alles, um große Titel einzuheimsen. Dazu kommt ein zum jetzigen Zeitpunkt perfektes Umfeld, das davor schützt, abzuheben. Die Mutter organisiert viele Dinge, die drum herum wichtig sind. Bruder Mischa und der Vater kennen das Tennis-Geschäft mit allen Höhen und Tiefen.
Dazu kommt mit Patricio Apey ein umsichtiger Manager, der Zverevs Karriere langfristig plant. Der Chilene sammelte seine Erfahrungen als Mann für alle Fälle während der Karriere von Gabriela Sabatini. Er schirmt Zverev gegenüber den Medien ab und verhandelt geschickt.
Seit Februar ist Adidas Zverevs Ausrüster. Der Sportartikelhersteller hat sich dem Vernehmen nach gegen Nike durchgesetzt. Der Vertrag soll vorzüglich sein.
Folgt in Wimbledon der nächste Schritt?
Es ist also angerichtet. Zverev könnte der Heilsbringer sein, nach dem das deutsche Tennis seit den großen Erfolgen von Steffi Graf, Becker und Stich lechzt. "Zverev ist extrem wichtig für den deutschen Tennismarkt", sagte Pilic: "Deutschland braucht einen neuen Helden."
Sollte bereits in den kommenden zwei Wochen in Wimbledon der nächste Schritt erfolgen, hätte niemand etwas dagegen. Klappt es an der Church Road, wo Zverev erstmals als gesetzter Spieler bei einem Grand-Slam-Turnier antritt, nicht wie gewünscht, ginge die Welt auch nicht unter.
Bei allem Hype um Zverev darf man nicht vergessen: Sein Kindheits-Idol Federer gewann seinen ersten Grand-Slam-Titel erst kurz vor seinem 22. Geburtstag. Es folgten 16 weitere. Zverev ist erst 19 - und kann in Ruhe reifen.
Wimbledon im Überblick