Ein weiteres Wimbledon-Jahr ist vorbei, Andy Murray feiert seinen zweiten Erfolg, nachdem Novak Djokovic so früh die Heimreise hatte antreten müssen. Bei den Damen sorgte Angelique Kerber für Begeisterung - all das wirft spannende Fragen auf! Kann Murray den Djoker auf dem Weg zu Roger Federers Rekord aufhalten? Hat Federer im Gegenzug seine letzte Chance auf einen Titel verschenkt? Und wo stehen Kerber und Alexander Zverev? Die Redakteure Felix Götz und Adrian Franke diskutieren mit dem früheren Profi Alexander Antonitsch und Jens Huiber von Sportradio360.
1. Murray verhindert, dass der Djoker Federer einholt.
Alex Antonitsch: Die These ist mir zu banal. Da gibt es einfach genug andere, die das ebenfalls verhindern können. Murray will Djokovic den Platz da vorne streitig machen, und das ist auch das erklärte Ziel von Ivan Lendl. Ich glaube, dass sich bei Murray einiges tun wird, ansonsten hätte er jetzt Lendl nicht zurückgeholt. Aber Murray alleine ist nicht das Thema! Die Frage ist doch: Ist Murray konstant genug, um Djokovic bei den vier großen Turnieren Paroli zu bieten? Ein Wawrinka kann das, und auch andere Spieler können das. Vielleicht können das irgendwann auch Thiem oder Zverev. Ich frage mich: Kann Murray dem Djoker das eher streitig machen als andere? Es ist schon einzigartig, was der Djoker bisher erreicht hat und ob er Federer packt, ist im Moment wahrscheinlich seine geringste Sorge. Der wird sich jetzt erstmal auf den Sommer vorbereiten. Im Grunde genommen hat er menschliche Züge gezeigt. Er hat gegen jemanden verloren, der unfassbar gespielt hat und natürlich nichts zu verlieren hatte.
Jens Huiber: Da würde ich auch auf die Bremse treten, allerdings aus anderen Gründen. Jetzt muss man mal sehen, wie es sich bei den US Open gestaltet - denn in den direkten Duellen gegen Djokovic im Best-of-Five hat Murray schon seit längerem nicht mehr gut ausgesehen. Ich würde Djokovic da überhaupt nicht abschreiben, der wird jetzt richtig angefressen sein. Natürlich ist Murray der erste Anwärter darauf, aber ich sehe nicht, dass Murray ihn im nächsten Jahr aufhalten wird. Das Spiel von Murray tut Djokovic überhaupt nicht weh: Er kann alles, was Murray kann, noch ein kleines bisschen besser und ist auch ein kleines bisschen fitter. So gerne ich Andy mag - ich sehe da Djokovic im Vorteil.
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Adrian Franke: Voll und ganz deiner Meinung, Jens. Murray ist eher in der Profiteur-Rolle, sollte der Djoker erneut unerwartet ausscheiden. Die Australian Open und danach die French Open zu gewinnen ist einfach genau so schwer wie selten - und dann anschließend auch noch bei Wimbledon gut abschneiden? Irgendwann menschelt es eben auch bei Djokovic. Man darf nie vergessen: Für einen Major-Titel braucht es sieben Mal vollste Konzentration, um die eigene Leistung abzurufen. Daher muss man, in meinen Augen, auch mit Blick auf Federer ein wenig vorsichtig sein. Viele hatten auch Wimbledon dem Djoker im Vorfeld schon fast als Titel angerechnet.
Felix Götz: Ich bin da ganz bei Alex. Djokovic hat ja nicht nur Murray als Konkurrenten. Wawrinka, Raonic, bald wahrscheinlich Thiem und vielleicht auch nochmal Nadal - warum sollten die keine Grand-Slam-Turniere gewinnen? Djokovic knackt Federers Rekord womöglich einfach deshalb nicht, weil dazu noch eine unfassbare Leistung nötig ist. Er müsste ja noch sechs Grand-Slam-Titel holen, um vorbeizuziehen. Man darf nicht so tun, als wäre das ein Spaziergang. Das ist es selbst für einen Djokovic nicht.
2. Federer hat seine letzte Chance auf einen Grand-Slam-Titel verspielt.
Alex Antonitsch: Federer würde ich nie abschreiben. Es gibt wahrscheinlich keinen, der Tennis mehr liebt. Er ist so ein Tennis-Fanatiker, der selbst extrem enttäuscht war, dass er diese Chance ausgelassen hat. Für mich hat da ein wenig dieses Selbstverständnis gefehlt, weil er auf Rasen keinen so guten Sommer gespielt hat. Aber einen Federer abschreiben - ich bin der Letzte, der das macht! Ich bin ja bekennender Federer-Fan, es macht mir einfach Spaß, ihm zuzuschauen und wie gesagt, es gibt einfach so viele gefährliche Spieler: Raonic zum Beispiel, der kann allein mit seinem Aufschlag jedem gefährlich werden und mittlerweile können die alle auch von hinten spielen. Aber Federer abschreiben? Auf gar keinen Fall. Ich hoffe, dass er noch sehr lange spielt und wenn er in ein Halbfinale kommt, dann ist immer mit ihm zu rechnen. Wenn einer ins Wimbledon-Halbfinale kommt und ich dann sage, der hat keine Chance mehr, da mache ich mich ja lächerlich.
Felix Götz: Nimm deine Federer-Brille ab, Alex! So sehr ich es ihm auch wünschen würde, bin ich der Meinung: Wimbledon 2016 war angesichts von Djokovics frühem Aus die letzte fette Chance auf einen Grand-Slam-Titel. Wie du schon sagst, ist die Konkurrenz gewaltig - genau deshalb gewinnt Federer, der außerdem nicht jünger wird, eben keinen ganz großen Titel mehr, was meiner Meinung nach ohnehin nur auf Rasen realistisch wäre. Ich gehöre trotzdem definitiv nicht zu denen, die finden, Roger sollte langsam mal den Schläger an den Nagel hängen. So lange er solche Matches wie sein Comeback im Viertelfinale gegen Cilic im Tank hat, macht er uns doch einfach nur riesigen Spaß und soll verdammt nochmal weitermachen. Grand-Slam-Titel oder nicht ist dann zweitrangig.
Jens Huiber: Sorry Felix, aber das glaube ich nicht. Er hatte jetzt in Wimbledon in den ersten drei Runden eine sehr leichte Auslosung und dann gegen Cilic ein Spiel gewonnen, dass er auch in drei Sätzen hätte verlieren können. Sein großes Pech in diesem Jahr war, dass er nach der Verletzung nicht in Topform nach Wimbledon gekommen ist. Mir persönlich kam er nicht ganz austrainiert vor und das Match gegen Raonic hat er selbst aus der Hand gegeben, das muss er einfach gewinnen. Ich glaube nicht, dass er gegen Djokovic noch ein Best-of-Five-Match gewinnen kann, Murray liegt ihm ein kleines bisschen besser. Trotzdem glaube ich nicht, dass das seine letzte Chance war - eine bekommt er noch! Aber die muss er bis Ende 2017 nutzen, denn danach sage sogar ich: Das wird nix mehr.
Adrian Franke: Also dass Federer 2018 keinen Grand-Slam-Titel mehr holt, bestreitet hier wahrscheinlich niemand - ich zumindest definitiv nicht. Natürlich, Alex, kann man einen Roger Federer zumindest heute nie komplett abschreiben. Aber: Ich stelle mich hier auf Felix' Seite. Viel mehr hätte eigentlich nicht für ihn laufen können: Gute Lose zum Start, ein toller Comeback-Sieg gegen Cilic und das frühe Aus von Djokovic. Da muss zumindest die Frage erlaubt sein: Wenn nicht jetzt, wann dann? Federer wird 35 Jahre alt sein, wenn es nächstes Jahr in Wimbledon losgeht - in einer zunehmend physisch fordernden Tennis-Welt. Ich lege mich fest: Wimbledon 2016 war Federers letzte echte Chance auf einen Grand-Slam-Titel.
3. Kerber hat sich in diesem Jahr hinter Williams als "Best of the Rest" etabliert.
Jens Huiber: Ein klares Nein. Sie hat ein wunderbares Finale hingelegt und spielt auch sehr konstant, aber ich sehe hinter Williams zwei Spielerinnen mindestens auf Augenhöhe mit ihr. Da wäre einerseits Muguruza, die schätze ich ehrlich gesagt stärker ein als Kerber, weil sie mehr Waffen hat. Kerber ist dafür sehr konstant und eine unfassbare Kämpferin - und eine wirklich liebe Person. Außerdem schätze ich auch Azarenka ungefähr gleich stark ein. Trotzdem: Ganz großer Respekt an Kerber, sie ist auch schon vor dem Finale extrem souverän aufgetreten. Aber "Best of the Rest?" Da sehe ich schon wenigstens drei Leute: Muguruza, Kerber und Azarenka. Und dann immer noch eine klare Lücke zu Serena - und die wird meiner Meinung nach noch bis mindestens Ende 2017 spielen.
Felix Götz: Da muss ich dir widersprechen, Jens. Aber für mich wird es zunächst höchste Zeit, zu Kreuze zu kriechen. Bis zu den Australian Open wäre ich nämlich noch so manche Wette eingegangen, dass Angie niemals ein Grand-Slam-Turnier gewinnt. Sie ist zwar schon längere Zeit die konstanteste deutsche Spielerin, aber irgendwie fehlte mir die tödliche Waffe in ihrem Spiel. Nun hat sie aber sogar bewiesen, dass ihr Triumph in Melbourne keine Eintagsfliege war und wiederholbar ist. Das Wimbledon-Finale konnte sie nicht gewinnen, weil Serena einfach im positivsten Sinne ein Tier ist. Wenn es bei ihr läuft, sie ihre unfassbare Power ins Match einbringen kann und ihre Kanonen-Aufschläge, dann ist nach wie vor kein Kraut gegen sie gewachsen. Aber zurück zu Kerber: Angie ist für mich momentan ganz klar Best of the Rest. Die Weltrangliste lügt schließlich nicht.
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Adrian Franke: Rein nach der Weltrangliste hast du natürlich Recht, Felix, und der zweite Platz für Kerber ist hochverdient. Trotzdem steht sie für mich noch nicht konstant über Spielerinnen wie Azarenka oder vor allem Muguruza, und das ist für mich hier der Schlüssel: Um sich wirklich als erste Williams-Verfolgerin zu etablieren (und vielleicht auch eines Tages noch mehr?), muss Kerber Turniere noch konstanter dominieren. Zwischen Melbourne und ihrem Erstrunden-Aus bei den French Open spielte sie einige mehr als enttäuschende Turniere, Schulterverletzung hin oder her. Aber: Angie ist auf einem sehr guten Weg und mit dem tollen, furchtlosen Auftritt gegen Williams hat sie hier ein klares Zeichen gesetzt.
Alex Antonitsch: Erst einmal: Das war ein großartiges Finale. Ich habe, wenn ich ehrlich bin, gehofft, dass Williams nochmal ein wenig Nerven zeigt, das hat sie nicht gemacht. In meinen Augen hätte Angie am Samstag gegen jede andere gewonnen. Sie hat großartig gespielt, aber wenn Williams gut drauf ist - noch dazu auf Rasen - dann entscheidet nur sie, wie es ausgeht. Angie hat ein super Turnier gespielt und man kann ihr zu dieser Saison schon jetzt nur gratulieren. Bei "Best of the Rest" muss man aufpassen, da gibt es einige Konkurrenten. Hinter Williams ist sie aktuell die Stärkste, aber Muguruza hat bei den French Open ihre Klasse bewiesen, Halep ist wieder besser in Form und bei Radwanska weiß man auch nie. Im Moment ist Kerber schon ganz weit vorne, ja. Das heißt aber nicht, dass sie jetzt jedes Turnier gewinnen muss.
4. Zverev zieht 2017 in ein Grand-Slam-Halbfinale ein - mindestens.
Felix Götz: Zverev hat das Herz und die spielerischen Fähigkeiten eines Champions, daran ändert auch seine relativ deutliche Niederlage gegen Tomas Berdych nichts. Mich würde es jedenfalls kein bisschen überraschen, wenn er schon bald auch bei einem Grand-Slam-Turnier den großen Durchbruch schaffen würde. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Dass ich es ihm zutraue, heißt natürlich nicht, dass ich es von ihm erwarte. Wir sollten alle aufpassen, dem Jungen nicht zu viel Druck zu machen und ihm die Zeit zu geben, die er braucht. Er ist schließlich erst 19 Jahre alt. Es soll ihm nicht wie einst Roger Federer gehen, der beinahe die Lust am Tennis verloren hätte. Für mich steht trotzdem fest: Vielleicht setzt er bei den US Open oder im kommenden Jahr noch kein fettes Ausrufezeichen. Irgendwann aber ganz bestimmt.
Adrian Franke: Das Herz und das Talent hat er ohne jede Frage. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, Zverev wird sich noch etwas gedulden müssen. Oder anders ausgedrückt: 2017 müsste innerhalb eines Turniers noch einiges ideal für ihn laufen, damit er in ein Grand-Slam-Halbfinale einziehen kann. An der Spitze ist die Physis und auch die mentale Stärke einfach so groß, da fehlt Zverev noch ein Stück hin. Und das ist ja auch völlig okay. Aber wenn wir schon bei der Glaskugel sind: 2018 gibt's dann ein Grand-Slam-Finale - mindestens!
Jens Huiber: Warum die Zurückhaltung? Halbfinale? Auf jeden Fall! Gewinnen wird er noch keins glaube ich, da müssten schon alle Dominosteine extrem gut für ihn fallen. Spieler wie Murray oder Djokovic, die ja so ähnlich spielen wie er, aber eben noch besser, ich glaube, gegen die kann er Best-of-Five 2017 noch nicht gewinnen. Halbfinale würde ich ihm definitiv zutrauen. Woran er vielleicht arbeiten könnte, und was er sicher auch wird, ist sein Offensivspiel: Da waren schon zwei, drei Volleys dabei in manchen Spielen, wo man sich gedacht hat: "Hoppla, der hat einfach ausgesehen." So etwas wird ihm nicht mehr passieren. Aber Zverev hat so einen wahnsinnigen Biss und deshalb ist er auch so gut, weil er diese wahnsinnige Motivation hat.
Alexander Zverev im Porträt: "Ein Geschenk des Himmels"
Alex Antonitsch: Ich spiele mal die Spaßbremse: Jetzt lasst uns doch erstmal 2016 beenden, denn es ist schon überraschend genug, was der uns da zeigt! Der wird Schritt für Schritt machen. Ich glaube dass er, ähnlich wie Thiem bei uns, ein sehr gutes Umfeld hat und da trotz allem behutsam aufgebaut wird. Die einzige Schwachstelle bei den Jungen ist normalerweise der Körper: Das Spiel ist physisch so intensiv geworden, dass du körperlich zulegen musst. Vom Tennis her ist dem Jungen alles zuzutrauen. Aber ich würde nur hoffen und fast bitten, dass man ihm Zeit lässt. Die Zeiten, in denen Talent alleine reicht, dass man Wimbledon mit 17 gewinnt, die ist vorbei. Dafür ist das Spiel zu körperlich geworden. Das ist heutzutage in meinen Augen nicht mehr möglich. Wo Zverev jetzt steht, das ist wirklich toll. Aber man muss ihm Zeit geben.
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