Noch vor zwei Wochen flog Angelique Kerber tief unter dem Radar. Bei Experten und Buchmachern war die erste deutsche Grand-Slam-Siegerin seit Steffi Graf nicht mehr als ein "Dark Horse", eine Geheimfavoritin, höchstens mit Außenseiterchancen auf den Wimbledontitel. Die French Open in Paris hatten ja deutlich gezeigt, dass Kerber dem Druck in der Weltspitze nicht gewachsen ist.
Hinter der großen Serena Williams hießen die Top-Anwärterinnen auf den bedeutendsten Triumph im Tenniszirkus Garbine Muguruza, Petra Kvitova und Madison Keys. Wenn das Turnier im All England Club mit dem Halbfinale am Donnerstag in seine entscheidende Phase geht, sind sie alle längst ausgeschieden: die spanische Sandplatzkönigin, die zweimalige Wimbledonsiegerin aus Tschechien, der Youngster aus den USA. Und Kerber trauen 20 Jahre nach dem siebten und letzten Erfolg von Steffi Graf plötzlich alle den nächsten großen Titel zu.
"Angie hat wieder zu ihrer guten Form der Australian Open zurückgefunden. Es ist toll, dass sie in Wimbledon im Halbfinale steht und ich glaube, dass sie jetzt auch Chancen hat, weiter erfolgreich dort zu spielen", ließ Graf über den Deutschen Tennisbund (DTB) mitteilen: "Mich freuen die Erfolge von Angie sehr."
Kerber favorisiert gegen Venus
Michael Stich meint, "jetzt ist alles möglich für Angie". Der Elmshorner hatte 25 Jahre nach seiner eigenen Sternstunde auf dem Centre Court Kerbers Viertelfinalsieg über die Rumänin Simona Halep in der Royal Box verfolgt. Im Halbfinale gegen Altmeisterin Venus Williams (USA), die nach sieben Jahren wieder unter den besten Vier im Rasenmekka an der Church Road steht, ist Kerber die Favoritin, und sollte im Finale am Samstag tatsächlich wieder Branchenführerin Serena Williams warten, werden die Erinnerungen an die tollen Tage im Januar in Australien erst richtig wach.
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Kerber selbst ist längst wieder im Melbourne-Modus, ans Endspiel wolle sie noch gar nicht denken, "Runde für Runde, Spiel für Spiel" - so lautet ihr Mantra. Die Zweifel der Sandplatzsaison sind einem gesunden Selbstvertrauen gewichen, sie sagt: "Venus muss mich erst einmal schlagen." Das einzige Duell auf Rasen gewann Kerber im All England Club gegen die fünfmalige Wimbledonsiegerin 2012 bei den Olympischen Spielen. "Heute", sagt sie selbst, "habe ich viel mehr Erfahrung als damals".
Seit ihrem Durchbruch bei den US Open vor fünf Jahren hat Kerber kontinuierlich an Statur gewonnen - jeder Sieg, aber auch jeder Rückschlag hat sie stärker gemacht. Als sie im vergangenen Jahr beim WTA-Finale in Singapur mental eingebrochen war, schwor sie sich, dass ihr so etwas nie wieder passiert. Auch die Erstrunden-Enttäuschung in Paris nutzte sie gewinnbringend.
"Wie ein Champion gespielt"
Bundestrainerin Barbara Rittner ist sich ziemlich sicher, dass auch das frühe Aus der French-Open-Siegerin Muguruza einen Anteil an Kerbers Erfolg in Wimbledon besitzt. "Ich glaube, es hat Angie geholfen, Ruhe zu finden", sagte Rittner: "Das zeigt doch, dass man solch einen Erfolg erst verarbeiten muss. Und jetzt hat Angie den Vorteil, dass sie weiß, wie man Titel gewinnt." Gegen Halep habe ihre Nummer eins bereits "weltklasse, wie ein Champion gespielt".
Noch ist der Weg zum Titel weit - und wenn Serena Williams ihr Halbfinale gegen Außenseiterin Jelena Wesnina aus Russland gewinnt, führt er über die mit insgesamt elf Wimbledontiteln dekorierten Williams-Schwestern. Doch Kerber glaubt an sich und gute Omen. Einen Tag nach ihrem Triumph in Melbourne gewannen die Handballer die EM in Polen. Einen Tag nach dem Wimbledon-Endspiel am Samstag steigt das Finale der Fußball-EM in Frankreich.
Angelique Kerber im Steckbrief